Transkript
Journal: Die grossen Psychiater
Klinikalltag – damals wie heute?
Vortrag von Jakob Wyrsch aus dem Jahre 1930
Wilm Steinmetz
In St. Urban habe ich in den vergangenen Jahren Archiv und Bibliothek bearbeitet und schliesslich eine Ausstellung zur Psychiatrie- und Technikgeschichte (1900–1950) konzipiert. Dabei lag mir daran, das Wirken von Jakob Wyrsch an der Klinik St. Urban etwas stärker in den Vordergrund zu rücken und seine Leistungen zu verdeutlichen.
Jakob Wyrsch (aus: «Psychiatrie in Selbstdarstellungen», Hrsg. Ludwig J. Pongratz,
Huber-Verlag, Bern 1977)
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Die wissenschaftlichen Bibliotheken der psychiatrischen Landeskrankenhäuser oder kantonalen Kliniken sind doch reichhaltige Grabungsstätten, wie ich bei Projekten in verschiedenen deutschen und schweizerischen Häusern immer wieder feststellen konnte. Wie der Archäologe Schicht um Schicht sorgfältig freilegt, so lässt sich Tablar um Tablar nicht nur die Geschichte des Fachs verfolgen, sondern jeder Grabungsort hat auch seine Besonderheiten. Wenn sich heute der fachliche Diskurs vom Buch weg zu Fachzeitschriften, Internet und EBM verschoben hat, stellte früher eine gut ausgebaute wissenschaftliche Bibliothek für Bewerber auf eine Direktorenstelle ein beinahe lebenswichtiges Element dar. Als junger Arzt fürchtete nicht nur Jakob Wyrsch bei seinem Amtsantritt 1923 in der Heil- und Pflegeanstalt
St. Urban, sondern zum Beispiel auch Constantin von Monakow in der Klinik Pfäfers, durch das Leben in ländlicher Abgeschiedenheit von Wissenschaft und Forschung, von den Gesprächen im akademischen Freundeskreis abgeschnitten zu sein, im alltäglichen Klinikbetrieb zu versinken oder gar Entscheidungen unreflektiert treffen zu müssen. Dazu äussert sich Wyrsch auch an anderer Stelle (Selbstdarstellung 1977) und erzählt dort begeistert von einem schönen Sommer mit philosophischer Lektüre zusammen mit seinem Assistenten und Freund Joseph Wallrapp. Zu den Obliegenheiten des ärztlichen Direktors der Klinik St. Urban gehörte der Vortrag vor der Jahresversammlung des Hilfsvereins für arme Geisteskranke des Kantons Luzern. Jakob Wyrsch hat diese Verpflichtung in
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Luftaufnahme von St. Urban
Klinik St. Urban
Die «kantonale Irrenanstalt» wurde 1873 im eindrucksvollen Barockgebäude des ehemaligen Zisterzienserklosters St. Urban eröffnet. Der erste Direktor war Ludwig Wille aus Deutschland. Die in der Klinik vertretene therapeutische Haltung der «Nonrestraint-Bewegung» führte Jakob Wyrsch weiter. Unter seiner Direktion waren etwa 640 Betten belegt. 1982 konnte der Neubau des Klinik- und Aufnahmezentrums bezogen werden. Im Klostergebäude verblieben der medizinische, der psychologische und der soziale Dienst, Schulungsräume und das Wohnheim Sonnegarte. Seit 2006 bietet das Psychiatriezentrum Luzerner Landschaft unter der Bezeichnung «Luzerner Psychiatrie» in organisatorischer Einheit mit dem Psychiatriezentrum Luzern-Stadt sowie dem kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst an 20 Standorten ambulante, teilstationäre und stationäre Leistungen für den Kanton Luzern an.
Weitere Informationen unter www.lups.ch.
Lebensdaten Jakob Wyrsch
1892 1921 1920–1923 1923 1925–1934 1927 1934–1952 1945 1945–1962 1952
1980
J. Wyrsch wird am 12. Juni in Stans geboren Studium der Medizin in Zürich, Promotion Assistenzarzt am Burghölzli, Zürich und an einer chirurgischen Privatklinik in Luzern Ab 1. Juni Oberarzt an der «Heil- und Pflegeanstalt St. Urban» Nachfolger von Direktor Dr. Elmiger in St. Urban Heirat der Assistenzärztin Margarita Schneider, St. Urban, 1930 Geburt eines Sohnes Oberarzt an der Klinik Waldau bei Bern, ab 1940 Stellvertreter des Chefarztes Jakob Klaesi Habilitation a.o. Professor für gerichtliche Medizin an der Universität Bern Eröffnung der psychiatrischen Privatpraxis im Elternhaus zu Stans. Gutachterliche Tätigkeit, Publikationen zu psychiatrischen und kulturgeschichtlichen Themen J. Wyrsch verstirbt am 29. Januar in Bern
Zusammengestellt nach: Psychiatrie in Selbstdarstellungen, hrsg. von Ludwig Pongratz, Bern 1977: Jakob Wyrsch/Dissertation von Roger Neiger, Aarau 1985
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verbunden werden müssen, die einen Zahn ziehen lassen sollten oder wollten (…), die körperlich genauer untersucht werden sollen und anderes mehr. Auf der entgegengesetzten Seite durch die Türe des Direktionsbureaus treten Besuche von Patienten, die sich erkundigen oder Kranke abholen wollen (...), Leute, die in allen möglichen Angelegenheiten Rücksprache nehmen wollen. Zwischenhinein rasselt das Telephon. Dann fahren wieder Autos vor, die neue Patienten bringen und die manchmal stundenlang den Direktor oder den Arzt in Anspruch nehmen, ehe alles erledigt ist. Und wenn alle diese Besucher an der Vordertür und an der Hintertür mehr oder weniger befriedigt fortgehen, dann beginnen die Schreibmaschinen zu klappern, Anfragen werden beantwortet, Auskunft wird an Angehörige und Behörden erteilt oder auch verlangt, rasch werden ein paar wichtige Einträge in die Krankengeschichten gemacht und was so andere Schreibarbeiten mehr sind.» (S. 28–29)
Klinikdirektor Jakob Wyrsch (1925–1934) lässt sich von einem Patienten
vom Kirchturm aus die Gegend erklären. Die «Dökter» von links nach rechts: Dir. J. Wyrsch, R.Weber,
Dr. K. Huber (In: Baumann, Urs: Kantonale Psychiatrische Klinik St. Urban: 1873–1973;
zum hundertjährigen Bestehen. St. Urban, 1973)
Schlussbemerkung
Fundstücke werden ausgestellt, Texte gelesen oder –
noch besser – mit moderner Technik zum Hineinhören
aufbereitet. Der Vortrag von Jakob Wyrsch bietet auf
leicht verständliche Weise einen Einblick in den Über-
gang von der kustodialen Psychiatrie zur aktiven Kran-
kenbehandlung nach Hermann Simon vor dem Beginn
der Psychopharmakotherapie.
Was nutzt heute Fachgeschichte? Nun, Jakob Wyrsch be-
schliesst seinen Vortrag mit der Frage nach dem Selbst-
verständnis psychiatrischer Kliniken und stellt fest, dass
solch eine Einrichtung weder Krankenhaus noch Hotel
sein kann und ihre Aufgabe «Fürsorge» heisst.
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lesenswerten Vorträgen für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt. Im Jahresbericht 1930 des Hilfsvereins schildert er, wie bereits sein Amtsvorgänger Rudolf Friedrich Fetscherin 1877, anschaulich einen «Tag aus dem Anstaltsleben». Er thematisiert das Ansehen der Anstalt beim Publikum, Sorgen der Angehörigen, psychische Erkrankungen, wie sich Patienten darstellen und wahrnehmen, die Aufgaben des Wartpersonals, der Verwaltung, der technischen Betriebe und der Ärzte:
Wilm Steinmetz Bibliothekar Taborweg 7 7312 Pfäfers
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Textauszug aus dem Vortrag von Jakob Wyrsch 1930 «Gewöhnlich schon bevor der Rapport beendet ist, sind die Türen zu den ärztlichen Räumlichkeiten von allerlei Leuten belagert. Vor der Apotheke und dem Untersuchungszimmer stehen Patienten, die wegen irgendeiner Wunde
Bezug Audio-CD: Die Audio-CD (ca. 44 min) ist für 16.50 Euro inkl. Versand bei der Buchhandlung Homburger & Hepp in Konstanz erhältlich (Tel. 0049-7531 908 10); E-Mail: buchhandlung@homburger-hepp.de.
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