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Frontallappenanfälle und Epilepsien
Eine Übersicht des aktuellen Wissensstandes mit Fallbeispielen
Heinrich Vogt
Frontallappenepilepsien (FLE) stellen die zweithäufigste Form der fokalen Epilepsien dar. Die klinische Manifestation der Frontallappenanfälle ist sehr variabel und hängt von den am Anfall beteiligten kortikalen Arealen ab. Aufgrund ihrer teilweise bizarren, «hysterieform» anmutenden Symptomatik können Anfälle mit frontaler Semiologie oft schwer von psychogenen Anfällen abgegrenzt werden. Wegen möglicher fehlender Korrelate im EEG und teilweise häufigem nächtlichem Auftreten kann auch die Differenzialdiagnose zu Parasomnien diagnostische Schwierigkeiten bereiten.
Funktionelle Anatomie des Frontallappens
D er Frontallappen, der etwa 40 Prozent des gesamten zerebralen Kortex ausmacht, liegt vor dem Sulcus centralis und kann in ein motorisches, prämotorisches und präfrontales Areal eingeteilt werden. Der prämotorische und der präfrontale Kortex sind wiederum funktionell entlang der ventro-dorsalen, anteroposterioren und medio-lateralen Achsen unterschiedlich organisiert. Es bestehen bidirektional ausgedehnte Verbindungen zu den anderen Hirnlappen, insbesondere zum Temporallappen, wie auch zu den subkortikalen Regionen, auf die aus Platzgründen hier nicht weiter eingegangen werden kann. Zur funktionalen Organisation des Frontallappens sind in den letzten Jahrzehnten weitreichende Forschungen durchgeführt worden, die anzeigen, dass in unter-
schiedlichen frontalen Arealen Teilfunktionen der Handlungssteuerung und -organisation bis hin zur sozialen und emotionalen Einbettung von Handlungen realisiert werden (1). Stark vereinfacht ausgedrückt, findet man einen postero-anterioren Funktionsgradienten von rein motorischen zu höherstufigen und abstrakten Handlungskomponenten, einen medio-lateralen Gradienten von affektiven zu mehr kognitiv-deliberativen Funktionen sowie einen ventro-dorsalen Übergang von sozialen zu individuellen Funktionen (2–9). Der motorische Kortex besteht aus dem somatotopisch organisierten primär motorischen Areal, in welchem direkt die einzelnen Körperbewegungen ausgelöst werden. Elektrische Stimulationen lösen hier klonische oder (bei höherer Reizfrequenz) tonische Muskelkontraktionen der kontralateralen Extremitäten oder der kontrala-
teralen Gesichtshälfte aus. Des Weiteren werden Areale beschrieben, deren elektrische Stimulation zu einer Hemmung der distalen Feinbewegungen oder in der dominanten Hemisphäre zu Spracharrest führt (10–12). Diese Befunde führten zur Annahme prämotorischer negativ motorischer Areale. Zum prämotorischen Kortex gehören ferner das supplementär sensomotorische Areal (SSMA), das frontale Augenfeld und das frontale Sprachareal (Broca). Das vor dem primär motorischen liegende supplementär sensomotorische Areal hat wichtige Funktionen bei exekutiven motorischen Aufgaben, der Planung und Initiation von Bewegungen. Durch Stimulation des frontalen Augenfelds werden sakkadierte, kontralaterale, konjugierte Augenbewegungen ausgelöst, häufig gefolgt von Kopfbewegungen. Elektrische Stimulation des frontalen Sprachareals führt zu Sprachstörungen mit beeinträchtigter Sprachproduktion. Der anterior des prämotorischen Kortex gelegene präfrontale Kortex lässt sich nochmals unterteilen in mediale und laterale, dorsale und ventrale sowie anteriore und posteriore Abschnitte. Zum medialen präfrontalen Areal gehört der zinguläre Kortex, der als Teil des limbischen Systems unter anderem an affektiven und evaluativen Funktionen wie der Handlungsbewertung beteiligt ist. Der laterale präfrontale Kortex ist hingegen stärker in Gedächtnisfunktionen involviert. Grosse Teile des präfrontalen Kortex spielen eine Rolle bei der Handlungskontrolle (Handlungsauswahl, Erwartung von Handlungskonsequenzen), während der eigentlich orbitale Kortex als Hauptsitz der «sozialen Kognition» gilt (Repräsentation von sozialen Regeln und Haltungen, Belohnungserwartungen etc.) (2–9). Aus diesen Funktionszuweisungen
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geht für die epileptologische Diagnostik hervor, dass vor allem die Anfälle aus stark motorisch und/oder affektiv involvierten Arealen semiologisch aussagekräftig sind (präzentrale oder SSMAAnfälle, frontolimbische Anfälle). Anfälle aus Arealen, die überwiegend höherstufige Funktionen tragen, sind hingegen semiologisch eher unspektakulär oder unspezifisch (z.B. orbitaler Kortex, ventrolateraler präfrontaler Kortex).
Ursprungs- und symptomatogene Zone
Grosse Teile des medialen und orbitalen Kortex sind der Standard-EEG-Ableitung nicht oder nur schwer zugänglich. Dies erschwert die elektrophysiologische Diagnostik interiktaler und iktaler EEG-Korrelate der FLE, also derjenigen Epilepsien, bei denen die Anfälle von einem epileptogenen Herd im Frontallappen selbst generiert werden. Anfallstypen, die klinisch als typische Frontallappenanfälle erscheinen, können aber auch in anderen Hirnregionen generiert und die epileptische Erregung sekundär in den Frontallappen übergeleitet werden (13). Initiale epileptische Aktivität in klinisch stummen Zonen verursacht keine erkennbaren Symptome. Diese werden erst erkennbar bei einer Überleitung in «eloquente» Kortexareale. Aufgrund der beobachteten klinischen Semiologie kann daher nicht immer auf die Zone des Anfallsursprungs geschlossen werden. Innerhalb des Frontallappens und von diesem mit anderen Hirnregionen existieren eine Vielzahl von Verbindungen, mit denen epileptische Erregungen zu rascher Ausbreitung in beide Richtungen führen können (14). Anfallssymptome sind häufig das Produkt der Ausbreitung (Propagation) der epileptischen Aktivität von der Ursprungszone in die symptomatogene Zone (15). Die Kenntnis der Anfallssemiologie wie der Propagationswege wird durch iktale Ableitung mit EEG und Video gewonnen sowie vor/bei epilepsiechirurgischen Eingriffen durch elektrische Stimulation des entsprechenden Kortexareals.
Als Zone des Anfallsursprungs wird jenes Gebiet bezeichnet, in dem der Anfall generiert wird,
als symptomatische Zone dasjenige Kortexareal, dessen Beteiligung im Anfall die Anfallssymptome
auslöst.
Generelle Charakteristika von Frontallappenanfällen
Frontallappenanfälle haben einige charakteristische Eigenschaften: ■ Auren, die häufig das erste An-
fallssymptom darstellen, sind oft wenig spezifisch. Angegeben werden psychische Phänome wie «Zwangsdenken» (forced thinking) und «psychische Auren». ■ Die Dauer der Anfälle ist in der Regel kurz. ■ Je nach Anfallstyp sind diese vorwiegend schlafgebunden oder treten nur aus dem Schlaf auf. ■ Die Anfallsfrequenz kann sehr hoch sein, Anfälle können in Clustern auftreten. ■ Das Bewusstsein ist nicht immer eingeschränkt. ■ Postiktal kommt es meist zu einer sehr raschen Erholung mit einer nur sehr kurzen oder keiner Verwirrung. ■ Anfälle können sekundär generalisieren.
Typen frontaler Anfälle und deren Semiologie
Die Einteilung der Frontallappenanfälle ist in der Literatur nicht einheitlich. Die von der ILAE 1989 vorgeschlagene Klassifikation der Zuordnung zu bestimmten neuroanatomischen Strukturen (supplementär motorische, dorsolaterale, frontopolare, orbitofrontale, operkuläre Anfälle sowie Anfälle aus dem Gyrus cinguli und motorischen Kortex) ist wegen Überlappungen der klinischen Anfallssymptomatik in der Praxis schwer anzuwenden (16). Dargestellt werden deshalb fünf aufgrund unterschiedlicher Anfallssemiologie abgrenzbare Anfallstypen (12, 17–20).
1. Fokale motorische Anfälle (Synonym: fokale klonische Anfälle, Jackson-Anfälle, somatomotorische Anfälle) Anfallssemiologie: Typischerweise einseitige Kloni im Bereich des zum epileptogenen Fokus kontralateralen Gesichts, Stamms oder der Extremitäten. Die Kloni können lokalisiert bleiben oder sich ausbreiten entsprechend der somatotopen Organisation des motorischen Kortex (Jackson-Marsch). Das Bewusstsein ist erhalten. Auch isolierte fokale Myoklonien sind möglich. Dieser Anfallstyp zeigt keine tageszeitliche Bindung. Bei Einbezug des Brocaareals im unteren Bereich des motorischen Kortex auf der dominanten Seite kommt es zu einer Sprachstörung.
2. Bilaterale asymmetrische und symmetrische tonische Anfälle (Synonym: supplementär sensomotorische Anfälle [SSMA-Anfälle], posturale Anfälle, Adversivanfälle) Als Aura können unspezifische Körpersensationen auftreten. Semiologie bei mittelliniennahem Anfall: meist plötzlich auftretende, asymmetrische tonische Haltung der Extremitäten. Voll ausgebildet kommt es zu einer typischen Bewegungsschablone mit Anheben des im Ellbogen gebeugten (kontralateralen) Arms mit folgender Abduktion im Schultergelenk und Version des Kopfes in Richtung dieses Arms. Das Bewusstsein bleibt oft erhalten. Die tonische Halteschablone kann, durch Propagation der Erregung in den primär motorischen Kortex, von einigen Kloni gefolgt sein, was zur falschen Diagnose eines sekundär generalisiert tonisch-klonischen Anfalls führen kann. Die Versivbewegung kann kontra- oder homolateral
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zur Entladung sein. SSMA-Anfälle können aber auch symmetrisch tonische Haltungsschablonen aufweisen. Als weitere Symptome sind möglich: Sprechhemmung oder -arrest, auch Vokalisationen, vegetative Begleitsymptome, Urininkontinenz. Es besteht in der Regel keine lange postiktale Phase. Die früher als Parasomnie eingeteilte «paroxysmale nächtliche Dystonie» entspricht nach heutigem Kenntnisstand frontalen Anfällen, meist von diesem Typ (20). Der Anfallsursprung oder die symptomatogene Zone ist überwiegend die supplementär sensomotorische Region. Semiologie bei lateralem Anfall: Die prämotorischen Anfälle, die vom dorsolateralen Kortex ausgehen, haben als eher lateralisierendes Zeichen eine tonische Versivbewegung nach der Gegenseite (Adversivanfälle).
3. Komplexe motorische Anfälle (Synonym: hypermotorische Anfälle, frenetische oder bizzare hyperaktive Anfälle) (vgl. Fallbeispiel 1) Anfallssemiologie: Beginn plötzlich, teilweise explosionsartig, mit komplexen Verhaltensautomatismen. Diese können eventuell untere und obere Extremitäten und den Rumpf betreffen. Die motorischen Bewegungsschablonen äussern sich in Bewegungen wie zum Beispiel Velofahren oder Schwimmen. Es kann zu sexuell gefärbten Automatismen mit rhythmischen Beckenbewegungen oder genitalen Manipulationen kommen, ein sexuelles Empfinden wird von den Betroffenen aber verneint. Häufig sind die motorischen Automatismen von Vokalisationen begleitet. Speziell bei frontolimbischen Anfällen (zingulärer Kortex) kann ein stark affektiv (Angst) gefärbtes Verhalten dominieren, un-
Bernhard K., 46 Jahre, Landwirt
Fallbeispiel 1
Anamnese: Onkel mit einer Epilepsie. Ab 22. Lebensjahr jede Nacht Anfälle folgender Semiologie: «Schwatze etwas Dummes, blase geräuschvoll die Luft aus, zünde das Licht an oder ziehe die Hosen an, springe oft wie verrückt aus dem Bett.»
Abklärung: Im Nachtschlaf-EEG mit Video Registrierung von komplex-fokalen Anfällen. Ablauf mit jeweils gleicher Symptomatik: abrupte Bewegungen im Bett, Hin- und Herbewegungen des Kopfes, Sichaufsetzen, z.T. auch Klatschen mit beiden Händen auf das Bett oder die Beine, Sprechen, seltener lautes Schreien und Lachen. Daneben seltener angedeutete posturale Symptomatik. Häufige Aufwachreaktionen. Nach den Anfällen jeweils sofort wieder ansprechbar.
Verlauf: Auf verschiedene Antikonvulsiva keine wesentliche Besserung der nächtlichen Anfallsfrequenz. In den wiederholten EEG-Nachtableitungen jeweils zwischen 13 bis 53 nächtliche Anfälle von wenigen Sekunden bis maximal 45 Sekunden Dauer registriert. Iktales Oberflächen-EEG ist mit einem fronto-mesialen Anfallsursprung vereinbar, ohne diesen genauer lokalisieren oder lateralisieren zu können. Fremdanamnestisch kaum eine Nacht anfallsfrei. Nie tagsüber Anfälle, fluktuierende Tagesmüdigkeit.
Neuropsychologische Abklärung: Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen, mittelgradige Antriebsminderung, verlangsamte Arbeitsweise, Abrufdefizite und verminderte Abstraktionsfähigkeit.
Schädel-MRI inkl. Kontrolle (siehe Abb.): Verdacht auf eine kortikale Dysplasie links hemisphärisch frontal angrenzend an die Falx.
Diagnose: Symptomatische nächtliche Frontallappenepilepsie mit häufigen komplex-motorischen, selteneren tonischposturalen Anfällen und epileptische Aufwachreaktionen bei V.a. fokale kortikale Dysplasie links frontal paramedian. Eine weitere invasive Abklärung mit der Fragestellung der Möglichkeit eines epilepsiechirurgischen Eingriffs ist vorgesehen.
ter Umständen ohne begleitendes Erlebenskorrelat beim Patienten. Das Bewusstsein kann erhalten bleiben. In der Regel kommt es zu keiner postiktalen Verwirrung. Diese Anfälle treten meist in der Nacht auf. Wegen des auffallenden Verhaltens und des häufig fehlenden Korrelats im Oberflächen-EEG kann dieser Typ als psychogener Anfall fehldiagnostiziert werden. Der Anfallsursprung kann nicht auf eine Region zurückgeführt werden. Verschiedene anteriore neokortikale Areale wie orbitofrontaler, frontopolarer, mesialer und dorsaler frontaler Kortex wie auch das anteriore Cingulum wurden in invasiven Abklärungen genannt.
4. Frontale Absenzen (vgl. Fallbeispiel 2) Das Bewusstsein kann unterschiedlich beeinträchtigt sein. Berichtet wird von den Betroffenen von einer wahrgenommenen Veränderung der Aufnahmefähigkeit. Beobachtet werden kann eine Desorientiertheit unterschiedlichen Ausmasses, eine Verlangsamung bei aber weiter bestehender adäquater Reaktion. Es kann für die «iktale Zeit» eine teilweise oder vollständige Amnesie bestehen. Teilweise wird der Zustand beendet durch einen tonisch-klonischen Anfall. Die Dauer der frontalen Absenzen kann nur kurz über Sekunden sein, aber auch Stunden bis Tage anhalten im Sinne eines nicht konvulsiven Status epilepticus. Das EEG ist bei diesem Anfallstyp immer diagnostisch mit bilateraler epileptiformer SpikeWave-Aktivität, der Zustand wird daher auch «spike-wave stupor» genannt. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist ein Absenzenstatus bei generalisierter Epilepsie. Der Ursprung kann im orbitalen, frontopolaren und frontodorsalen Kortex liegen. Symptomarme frontale Anfälle treten bevorzugt in denjenigen Arealen auf, die höherstufige, nicht unmittelbar motorische Funktionen wahrnehmen.
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Johanna K., 37 Jahre, Sachbearbeiterin
Fallbeispiel 2
Anamnese und Verlauf: Familien- und persönliche Anamnese unauffällig. Als 22-Jährige zwei konvulsive Anfälle. Behandlung mit Carbamazepin. Mit 24 Jahren erstmalig Zustand über 2 Stunden mit Schwerbesinnlichkeit, Apathie, zeitlicher Desorientiertheit und ausgeprägten Gedächtnislücken. Im EEG nahezu kontinuierliche, generalisierte 3-Sekunden-Spike-Wave-Aktivität als Bestätigung der klinischen Diagnose eines nicht konvulsiven Status epilepticus (siehe Abb.). 2 Monate später weiteres Stunden anhaltendes Ereignis mit Verlangsamung bei nicht wesentlich beeinträchtigter Wahrnehmung. Mit Add-on-, später hochdosierter Monotherapie mit Valproat die nächsten 6 Jahre anfallsfrei. Als unerwünschte Wirkung aber Gewichtszunahme.
werden, wenn nur ein OberflächenEEG und eine unter Umständen wenig lokalisierende Semiologie gegeben sind. Dies gilt vor allem für komplexe motorische Anfälle, die unspezifisch den anterioren Neokortex (orbitaler, frontopolarer und ventrolateraler präfrontaler Kortex) betreffen. Diskutiert wird auch, ob die motorischen Schablonen ein frontales Release-Phänomen darstellen. Auch frontale Absenzen können den medialen Kortex, die frontopolare Region und die frontodorsale Konvexität miteinbeziehen. Die symptomatogene Zone der tonisch-posturalen Anfälle ist meist das supplementär sensomotorische Areal, das häufig auch gleichzeitig der Anfallsursprung ist. Umgekehrt sind manche Anfallssemiologien, etwa die fokal klonischen Anfälle des primär motorischen Kortex, die hypermotorisch-affektiven Anfälle des zingulären Kortex und die mastikatorischen Anfälle des frontalen Operkulums, von sehr hohem lokalisatorischem Wert.
Bei deswegen zunehmend schlechterer Compliance erneuter nicht konvulsiver Status 1998. Wunsch des Absetzens der Valproinsäure und Wechsel auf Lamotrigin. In der Umstellphase 2- bis 3-mal kurze «Absenzenepisoden» über Minuten. In den folgenden Jahren pro Jahr jeweils 2 nicht konvulsive Anfallsstatus mit einer Dauer zwischen 1 bis 12 Stunden. Vereinzelt bis max. 10 Sekunden dauernde Phasen mit Konzentrationsstörungen und schlechterer Wahrnehmung. Weitere Dosiserhöhung von Lamotrigin durch Tremor limitiert. Add-on-Topiramat muss wegen zu starker Gewichtsabnahme wieder abgesetzt werden, Levetiracetam nicht genügend wirksam. Ende 2004 wegen neu auftgetretene fokal-motorische Anfälle des linken Arms Umstellung auf Carbamazepin. In der Folge innerhalb von 5 Monaten 5 nicht konvulsive Status mit 3 Hospitalisationen. Dauer der Status eine Stunde bis 11/2 Tage. Klinisch apathisch, verwirrt, wechselnd ansprechbar, gibt keine kohärente Antwort, kann aber am Folgetag die in diesem Zustand an sie gestellten Fragen der Ärzte und die Unterhaltung der Besucher teilweise korrekt wiedergeben. Beim längsten Ereignis 2-mal Urinverlust. Unterbrechung der Status mit Midazolam. In den jeweiligen EEG bilaterale, rechtsbetonte irreguläre Spike-Wave-Aktivität, im Verlauf zunehmend bifrontaler Schwerpunkt. Kontrolle des Schädel-MRI bis auf Erweiterung eines Seitenventrikels weiter unauffällig. Einverständnis, wieder niedrig dosiert Valproat und Lamotrigin einzunehmen. Damit die letzten 21/2 Jahre anhaltend anfallsfrei. Gewicht mit Diät im gewünschten Bereich.
Diagnose: Fokale Epilepsie mit frontalen Absenzen, sich als meist nicht konvulsiver Status epilepticus manifestierend.
5. Mastikatorische (oder operkuläre) Anfälle Anfallssemiologie: Kaubewegungen, Schlucken und ausgeprägter Speichelfluss. Bei Anfällen auf der dominanten Seite kommt es zu einer Sprechstörung. Das Bewusstsein bleibt
bei rein operkulären Anfällen erhalten. Die Ursprungs-/symptomatogene Zone liegt im frontalen Operkulum.
Lokalisation
Der Ort des Anfallsgeschehens kann bei FLE oft nicht genau lokalisiert
Spezielle Epilepsieformen
Nächtliche Frontallappenepilepsie (NFLE): Die NFLE ist charakterisiert durch Anfälle, die ausschliesslich oder vorwiegend in der Nacht auftreten. Charakteristische Anfälle dieser Art sind: paroxysmale Arousals, hypermotorische Anfälle, bilaterale asymmetrische tonische Anfälle und epileptisches Nachtwandeln (21, 22). Als Folge des fragmentierten Schlafes kann es zu einer erhöhten Tagesmüdigkeit kommen. Die NFLE ist kein homogenes epileptisches Syndrom. Es gibt symptomatische und genetische Formen. Die Rate der familiären Form, der autosomal dominanten nächtlichen Frontallappenepilepsie (ADNFLE), variiert zwischen 8 und 43 Prozent (13). Zur Erstmanifestation kommt es bereits in der Kindheit mit nächtlichen, kurzen Anfällen, die in Serie auftreten können. Als Ursache wurden Missens-Mutationen in Genen für neuronale NicotinAcetylcholin-Rezeptor-Untereinheiten gefunden. Bei den symptomatischen Ursachen werden immer häufiger kortikale
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Dysplasien gefunden. In einer aktuellen Arbeit bei operierten Patienten mit einer NFLE fanden sich in den histologischen Untersuchungen der Resektate in 20 von 21 Patienten kortikale Dysplasien. Das vorgängig durchgeführte Schädel-MRI wurde in 10 von 21 Patienten als unauffällig befundet (23).
Gutartige Epilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen Spikes (Rolando-Epilepsie)
Es handelt sich dabei um eine gutartige Epilepsieform mit Remission in der Mitte des zweiten Lebensjahrzehnts. Die meist aus dem Schlaf auftretenden Anfälle äussern sich als fokale motorische Anfälle mit einseitigen Kloni der Gesichtsmuskulatur, Lippen oder Zunge, mit Kaubewegungen, Speichelfluss und/oder Sprecharrest. Auch generalisiert tonisch-klonische Anfälle können vorkommen. Vor allem im Schlaf-EEG finden sich typische zentrotemporale Spikes. Es besteht eine familiäre Prädisposition.
Diagnosestellung
Wichtigstes Element zur Diagnosestellung ist eine gute Anamneseerhebung mit detaillierter Beschreibung der Anfallssymptome und den Umständen von deren Auftreten. Interiktales und iktales EEG: Grosse Teile des medialen und orbitalen Kortex sind in der Oberflächen-EEG-Ableitung schlecht erfassbar. Falls im interiktalen EEG keine epileptiformen Potenziale gefunden werden, wie dies bei etwa 40 Prozent der FLE berichtet wird, sollte ein Nachtschlaf-EEG mit Video durchgeführt werden. Dieses bringt häufig auch wegen der Registrierung der Anfälle und charakteristischer Semiologie eine grössere diagnostische Ausbeute. Das Standard-EEG kann während der Anfälle, vor allem bei den hypermotorischen Anfällen, stark artefaktgestört sein. Wegen häufig bilateraler epileptiformer Entladungen kann die Abgrenzung zu generalisierten Entladungen im Rahmen von primär generalisierten Epilepsien schwierig sein. Bei der Frage nach möglicher Operation des Herdes
sind invasive Abklärungen mit subduralen oder Tiefenelektroden nötig. Strukturelle Abklärungen: Die Abklärung der Ätiologie mit hochauflösendem Schädel-MRI ist unerlässlich. Fokale Läsionen bei FLE werden je nach berichteter Serie in 30 bis 65 Prozent gefunden. Bereits die Erstbildgebung sollte nach den heutigen epileptologischen Standards durchgeführt werden (24), um die Diagnose zu sichern, dem Patienten unnötige Mehrfachuntersuchungen zu ersparen und gegebenenfalls frühzeitig Merkmale einer pharmakoresistenten Epilepsie (z.B. Vorliegen einer fokalen kortikalen Dysplasie) in Hinblick auf eine mögliche prächirurgische Epilepsiediagnostik zu dokumentieren. Ursachen: Bei den symptomatischen Formen können Tumoren, Zustände nach Meningoenzephalitiden, posttraumatische Veränderung, fokale kortikale Dysplasien, vaskuläre Malformationen und andere Pathologien Ursachen des Anfallsleidens sein. Bei den genetischen Formen wurden verschiedene Mutationen bei der ADNFLE gefunden. Eine genetische Ursache hat wegen des gehäuften familiären Vorkommens auch die erwähnte gutartige Epilepsie des Kindesalters (Rolando-Epilepsie).
Behandlung und Prognose
Zur medikamentösen Behandlung können alle zugelassenen Antikonvulsiva mit einer Wirksamkeit gegen fokale Anfälle eingesetzt werden. Bezüglich Medikamentenwahl gelten die Kriterien der Wirksamkeit und Verträglichkeit (25), wie auch das Fallbeispiel 2 verdeutlicht. Bei den autosomal dominanten NFLE wurde Carbamazepin empfohlen. In unkontrollierten offenen Studien bei bis anhin refraktären FLE wurden gute Erfahrungen mit der Kombination Valproat und Lamotrigin (26) oder Topiramat (27) gemacht. Systematische Studien bezüglich Wirksamkeit von Antikonvulsiva bei verschiedenen Lokalisationen oder auf die einzelnen Anfallssymptome wurden bisher aber nie durchgeführt. Die Rate von nicht
oder ungenügend medikamentös Ansprechenden wurde bei NFLE mit etwa 30 Prozent angegeben. Bei Unwirksamkeit der medikamentösen Therapie sollte eine prächirurgische Diagnostik in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden. Die Diagnostik umfasst eine Aufzeichnung patiententypischer Anfälle mit simultaner Video-EEG-Langzeitableitung zum elektrophysiologischen Nachweis des fokalen Anfallsursprungs, eine definitive strukturelle Bildgebung, eine neuropsychologische Untersuchung zum Nachweis epilepsieund gegebenenfalls lokalisationsbezogener kognitiver Einbussen. Je nach Befundkonstellation kommen Funktionsuntersuchungen wie die Positronen-Emissionstomografie (PET) und die Single Photon Emission Computerized Tomography (SPECT) zur Darstellung der «functional deficit zone», die funktionelle Kernspintomografie (fMRI) oder der intrakarotidale Amobarbital-Test (Wada Test) kommen zur Bestimmung der Sprachdominanz zur Anwendung. Sollte durch diese Untersuchungen ein umschriebenes Areal trotz einer tragfähigen Arbeitshypothese nicht einzugrenzen sein, kann eine zusätzliche invasive Diagnostik mit Anfallsaufzeichnung über chronisch implantierte subdurale Streifenoder Gitterelektroden und/oder intrazerebrale Tiefenelektroden in vielen Fällen noch zu einer Operationsempfehlung führen. Bei epileptogenen Läsionen in der Nähe eloquenter Areale kann mittels Elektrostimulation über subdurale Gitterelektroden auch eine funktionelle Hirnkartierung (electrical stimulation mapping) erfolgen. Mit einer solchen modernen Diagnostik lassen sich heute präzise Operationsempfehlungen formulieren. Meist werden sogenannte erweiterte Läsionektomien durchgeführt, das heisst die mutmasslich epileptogene Läsion (z.B. fokale kortikale Dysplasie, Kavernom) inklusive des individuell zu bestimmenden periläsionellen epileptogenen Areals wird reseziert. Selbst bei völlig fehlendem Läsionsnachweis im MRT kann bei sonst stimmiger Diagnostik
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Ein Video-EEG mit Registrierung der Anfälle und der Analyse der Anfallssymptome ist
in der Regel für eine Diagnosestellung unerlässlich.
eine erfolgreiche Resektion des epileptogenen Areals möglich sein. Histologisch zeigen sich dann oft subtile fokale Dysplasien, die der bildgebenden Darstellung heute noch entgehen (23). Die Aussichten auf Anfallsfreiheit sind heute (im Unterschied zu Berichten über ältere Operationsserien) annähernd den Ergebnissen bei der Chirurgie der Temporallappenepilepsien gleich mit einer Quote von 50 bis 60 Prozent postoperativ anfallsfreier Patienten (28, 29).
Differenzialdiagnosen
In der Praxis kann die Differenzialdiagnose zu Parasomnien und psychogenen Anfällen Schwierigkeiten bereiten. Überschneidungen von nächtlichen Frontallappenanfällen zu Parasomnien sind möglich. In der Anamnese bei Patienten mit NFLE werden bei etwa 34 Prozent, bei deren Familienangehörigen in 39 Prozent, Parasomnien angegeben (13, 30), was einer deutlich höheren Prävalenz als in der Allgemeinbevölkerung entspricht. Eine gute Unterscheidungsmöglichkeit bietet der Frontal Lobe Epilepsy and Parasomnia (FLEP) Scale mit einer hohen Sensivität und Spezifität (31). Komplex-motorische/hypermotorische Anfälle können wegen ihrer frenetischen (Williamson) oder bizarren Symptomatik und der fehlenden EEGVeränderungen als psychogene Anfälle missinterpretiert werden, wie auch psychogene Anfälle umgekehrt als Frontallappenanfälle erscheinen können. Klinische Hinweise auf nicht epileptische (psychogene) Anfälle sind im Gegensatz zu den oben erwähnten Charakteristika der frontalen epileptischen Anfälle: die variable Dauer, das Auftreten aus dem Wachheitszustand (auch in der Nacht), die variablen, nicht stereotypen, motorischen Bewegungen.
Fazit
Frontallappenanfälle können sich je
nach involviertem Areal unterschied-
lich manifestieren. Die Kenntnis der
typischen Anfallssemiologie und der
Begleitumstände des Auftretens kann
in der Differenzialdiagnose zu Para-
somnien und psychogenen Anfällen
helfen. Bei Nichtansprechen auf eine
ausdosierte medikamentöse Behand-
lung sollte bereits früh die epilepsie-
chirurgische Option in Betracht gezo-
gen werden, die in den letzten Jahren
mit den verbesserten technischen
Abklärungsmöglichkeiten zu einer
hohen Quote postoperativ anfalls-
freier Patienten geführt hat.
■
Dr. med. Heinrich Vogt Facharzt für Neurologie FMH
Leitender Arzt Schweizerisches Epilepsie Zentrum
Bleulerstrasse 60, 8008 Zürich
Interessenkonflikte: keine
Ein herzlicher Dank gilt Prof. Martin Kurthen für seine kritische Durchsicht und Ergänzung des Manuskripts.
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