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Harnwegsinfektionen – komplexe Diagnose, gezielte Therapie
In seinem Referat im Rahmen der Frühlingstagung der Kinderärzte Schweiz 2024 zeigte KD Dr. Michael Büttcher verschiedene für den ambulanten und stationären Bereich relevante Aspekte rund um Harnwegsinfektionen bei Säuglingen und Kindern auf. Der Infektiologe und leitende Arzt am Kinderspital Zentralschweiz (KidZ) Luzern erläuterte dabei auch die wichtigsten Punkte der Schweizer Konsensusempfehlungen (1).
Die Prävalenz von Harnwegsinfektionen (HWI) liegt bei Kindern ≤ 3 Monaten bei 7–8 Prozent, wobei sie bei den nicht zirkumzidierten Jungen häufiger (8–20%) auftreten. Diesen Unterschied erklären sich die Experten mit einer höheren Kolonisation unter anderem mit uropathogenen Escherichia-(E.-)coli-Bakterien bei gleichzeitiger Abnahme der maternalen Leih immunität. In der Altersgruppe der 3–6 Monate alten Kinder liegt die Prävalenz bei 6–7 Prozent, im Alter von 6–12 Monaten bei 5–6 Prozent, während bei Kindern zwischen 12 und 24 Monaten HWI bei rund 4–5 Prozent auftreten (2). Die Anzahl Fälle einer «serious bacterial infection» (SBI), in deren Folge es zu einer Bakteriämie oder Meningitis kommen kann, hat seit dem Jahr 2021 dank verschiedener peripartaler Prophylaxemassnahmen merklich abgenommen. Doch HWI zählen weiterhin als häufige Ursache einer SBI bei Kindern jünger als 36 Monate. Denn: «Bei Kindern im Alter zwischen 7 und 90 Tagen kann eine durch E. coli verursachte HWI bei 8–13 Prozent der Patienten eine Bakteriämie und bei 0,3 Prozent eine Meningitis hervorrufen.» Büttcher betonte deshalb, dass bei Kindern, die mit Fieber ohne Fokus in der Notfallstation vorstellig werden, immer eine HWI in Betracht gezogen werden sollte.
Symptome einer Pyelonephritis und Zystitis
Der Begriff HWI umfasst sowohl eine Pyelonephritis (PN) als auch eine Zystitis. Die typischen Symptome variieren altersabhängig (Tabelle). Eine akute PN manifestiert sich typischerweise mit Fieber, Entzündungszeichen und einer signifikanten Bakteriurie. Eine Zystitis präsentiert sich mit einer Dysurie, Pollakisurie und Bakteriurie, während sich im Blut keine Entzündungszeichen nachweisen lassen. Bei Kindern älter als 2 Jahre fehlen hingegen meist Symptome wie Fieber und Flankenschmerzen.
Verschiedene Risikofaktoren
Zu den Risikofaktoren für febrile HWI gehören einerseits prä- und postnatal diagnostizierte angeborene Fehl
bildungen der Nieren und/oder Harnwege («congenital anomalies of the kidney and urinary tract» [CAKUT]). Dazu gehören Ureterabgangsstenose, vesikoureteraler Reflux (VUR), renale Dysplasie, posteriore Urethralklappen oder primär obstruktiver Megaureter. Andererseits ist eine Blasen-Darm-Fehlfunktion («bladder and bowel dysfunction» [BBD]) ein häufiger Grund für HWI bei Kindern. In Folge einer BBD kommt es oft zu Darmentleerungsstörungen im Sinne einer Obstipation oder einer Miktionsstörung. Daher betonte Büttcher auch: «Fragen Sie deshalb die Eltern immer nach der Stuhlkonsistenz und der Häufigkeit der Darmentleerung ihres erkrankten Kindes.»
Tabelle:
Symptome für Harnwegsinfektionen abhängig vom Alter
Altersgruppe Symptome und Zeichen für Harnwegsinfektionen
Häufig
→ Selten
< 3 Monaten Fieber reduziertes Trinkverhalten Bauchschmerzen Erbrechen Gedeihstörungen Ikterus Lethargie Hämaturie Irritabilität stinkender Urin > 3 Monate bis Fieber
Bauchschmerzen
Lethargie
3 Jahre
Flankenschmerzen
Irritabilität
Erbrechen
Hämaturie
reduziertes Trink-/Essver- stinkender Urin
halten
Gedeihstörungen
> 3 Jahre
Dysurie
Bauchschmerzen
Fieber
Pollakisurie Flankenschmerzen
Unwohlsein
Miktionsunregelmässig-
Hämaturie
keiten
stinkender Urin
verändertes Kontinenz-
trüber Urin
verhalten
Quelle: nach Büttcher/modifiziert nach NICE-Guidelines (NICE: National Institute for
Health and Care Excellence [9])
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Vielschichtige Diagnostik
Besteht aufgrund der Anamnese und klinischen Befunde der Verdacht auf einen Harnwegsinfekt, muss diese Arbeitshypothese mittels verschiedener Laboruntersu chungen erhärtet werden. Dazu kommen grundsätzlich eine Urinanalyse, eine Urinkultur, die Bestimmung der Entzündungsparameter (C-reaktives Protein [CRP] oder Procalcitonin [PCT]). Bei jungen Säuglingen sollte eine Blutchemie (Kreatinin, Elektrolyte), eine Blutkultur und in bestimmten Fällen sogar ein full sepsis work-up durchgeführt werden.
Korrekte Uringewinnung
In einem ersten Schritt gilt es jedoch, sauberen Urin zu gewinnen. Beutelurin eignet sich lediglich zum Ausschluss einer HWI bei Kindern älter als 2 Monate. Doch: «Der Beutelurin sollte aufgrund einer möglichen Kontamination mit Perianalflora nie für eine Urinkultur verwendet werden.» Die «sauberste» Methode zur Uringewinnung erfolgt über eine suprapubische Blasenpunktion. Auch wenn viele Ärzte aus Angst vor einer akzidentiellen Darmverletzung diese Methode eher umgehen, ermutigte Büttcher sie, diese zuerst Ultraschall unterstützt zu üben und danach regelmässig in der Praxis anzuwenden. Dabei verwies er auf hilfreiche Lernvideos auf der Webseite des New England Journal of Medicine (3), siehe auch Kasten «Linktipps».. Als «zweitsauberste» Alternative gilt die Gewinnung von Katheterurin. Dabei sind jedoch die ersten Tropfen des Urins zu verwerfen, und im Vorfeld sollte mittels Ultraschalls kontrolliert werden, ob die Blase tatsächlich voll ist. Der «clean catch» und Mittelstrahlurin stellen ab dem Säuglingsalter eine weitere passable Möglichkeit dar.
Urinstreifentest und Urinkultur
Im ambulanten Setting stellt der Urinstreifentest ohne mikroskopische Untersuchung eine genügend gute Analysemethode dar. Stationär sollten beide Methoden stan-
Linktipps
Auf der Webseite des New England Journal of Medicine gibt es hilfreiche Lernvideos zur suprapubischen Blasenpunktion.
dardmässig angewandt werden. Doch auch bei der Kombination beider Methoden liegt die Sensitivität nicht bei 100 Prozent. Deshalb braucht es zur sicheren Diagnose eines Harnwegsinfekts zusätzlich eine Urinkultur. Die Indikationen dafür sind: • Säuglinge < 90 Tagen mit Verdacht auf HWI oder Fieber
ohne Fokus, • Kinder > 90 Tage mit Verdacht auf akute PN und posi-
tivem Stix und/oder Urinstatus, • reduzierter Allgemeinzustand, Verdacht auf invasive
bakterielle Erkrankung, • rezidivierende HWI und Grunderkrankungen (CAKUT), • fehlende Korrelation zwischen klinischen Symptomen
und den Resultaten des Urinstix bzw. des Urinstatus. Zusätzlich zur Urinanalyse ist bei Kindern < 3 Monaten, bei einem schlechten Allgemeinzustand und stationären Patienten eine Blutkultur sinnvoll. Bei Neugeborenen und Kindern < 3 Monaten und/oder wenn der Allgemeinzustand eines Patienten sehr schlecht ist, raten die Experten zusätzlich zu einer Lumbalpunktion im Sinne eines «full sepsis work-up» (5).
Fallstricke bei der Urinanalyse
Lässt man den Urin vor einem Streifentest zu lange stehen, besteht die Gefahr, dass der Nitritbefund falschpositiv ausfällt. Doch auch die Verweildauer des Urins in der Blase hat einen Einfluss auf den Nitritbefund: «Insbesondere bei Säuglingen passiert der Urin die Blase rasch, weshalb es zu einem falsch negativen Nitrit im Streifentest kommen kann.» Deshalb ist es sinnvoll, bei Kindern < 90 Tagen mit Fieber ohne Fokus und/oder einem Verdacht auf eine HWI immer eine Urinkultur zu machen. Zudem darf nicht vergessen werden, dass bei Infektionen mit grampositiven Keimen der Nitritbefund negativ ausfällt, da die Keime Nitrat nicht in Nitrit umwandeln. Wird im Probematerial die Leukozytenesterase nachgewiesen, kann dieses Resultat auch aufgrund kontaminierter und entzündeter Schleimhäute, Fieber anderer Genese oder anderer Entzündungsprozesse falschpositiv sein. Die zusätzliche mikroskopische Beurteilung des Urins erhöht zwar die Spezifität der Diagnostik. Dennoch: «In der Grundversorgerpraxis reicht ein Streifentest aus.» Werden bei der mikroskopischen Untersuchung Leukozytenzylinder festgestellt, ist dies ein Hinweis auf eine PN. Bei Infektionen mit Enterokokken, Klebsiellen oder Pseudomonas kann es auch bei der mikroskopischen Untersuchung zu falschnegativen Resultaten (Leukozytenesterase bzw. Leukozyten) kommen. So fällt bei diesen Patienten die Messung der Leukozytenesterase negativ aus, und im Sediment lassen sich keine Leukozyten finden.
Die Datenbank des Schweizerischen Zentrums für Antibiotikaresistenzen (www.anresis.ch) erlaubt die Recherche zur aktuellen Resistenzlage in den verschiedenen Regionen der Schweiz.
Wann ist eine Urinkultur indiziert?
«Eine Urinkultur ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Kriterium bei der Diagnose einer HWI», fasste der Experte zusammen. Für die Diagnose müssen die Vorgeschichte, das klinische Bild und die Resultate weiterer Labor befunde miteinbezogen werden. Grundsätzlich gilt, dass wenn ein einzelner Keim (meist E. coli) in der Kultur aus Katheter-, Blasenpunktions- oder Mittelstrahlurin wächst, dies ein starker Hinweis auf einen Harnwegsinfekt ist. Beim Wachstum mehrerer Keime muss von einer Verunreinigung der Urinprobe primär ausgegangen werden. Ausser bei Säuglingen jünger als drei
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Monate. In dieser Altersgruppe kann eine Mischinfektion mit E. coli und Enterokokken dennoch für eine HWI sprechen, wenn obige Parameter auch suggestiv sind.
Wahl des Antibiotikums
Für die Wahl des Antibiotikums gilt die Grundregel, basierend auf dem Befund der Urinkultur, immer den Wirkstoff mit dem möglich geringsten Spektrum zu wählen (6). Zudem sollte das Resistenzmuster des Keims sorgfältig abgeklärt werden. Daten zur aktuellen Resistenzlage in den verschiedenen Regionen der Schweiz können über die Datenbank des Schweizerischen Zentrums für Antibiotikaresistenzen (www.anresis.ch) abgerufen werden (siehe auch Linktipp). Da eine parenterale Therapie zumindest zu Beginn notwendig ist, sollten Kinder < 60 Tagen im Spital behandelt werden. Bei Patienten > 60 Tage und stabilem Allgemeinzustand kann ambulant eine perorale Therapie begonnen werden. Bei einer PN eignet sich Amoxicillin-Clavulansäure. Bei Kindern mit einer CAKUT oder rezidivierenden HWI wird ein Cephalosporin der dritten Generation während 7–10 Tagen empfohlen. Bei einer Zystitis ist Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder Amoxicillin-Clavulansäure während 3 Tagen peroral die Therapie der Wahl. Da kaum mehr Suspensionen mit diesen Wirkstoffen (3. Generation Cephalosporin) erhältlich sind, müssen die Tabletten gemörsert werden.
Kriterien, bei denen ein atypischer Harnwegsinfekt in Betracht gezogen werden sollte, sind unter anderem: • schwere Erkrankung • geringe Urinproduktion trotz normaler Hydratation • Auffälligkeiten beim Status im Abdomen • erhöhtes Kreatinin (eGFR < 80 ml/min/1,73 m2) • abnormale Elektrolyte • Septikämie • Mono Urinkultur mit Non-E.coli-Keim. Kontrastmitteluntersuchung Bei einer atypischen PN und beim Verdacht auf eine CAKUT nach einer Ultraschalluntersuchung sollte eine MCUG erfolgen. Aber: «Eine isolierte, leichte Dilatation des Nierenbeckens bis 10 mm ist keine Indikation für die Durchführung einer MCUG.» Prävention Dank neuer Erkenntnisse hat sich im Bereich der Prophylaxe die Lehrmeinung teilweise stark geändert. Aufgrund eines fehlenden Nutzens hinsichtlich der Nierenfunktion oder Narbenbildung sind bei mildem Reflux eine Antibiotikapophylaxe (siehe auch Kapitel «Wahl des Antibiotikums») oder eine chirurgische Therapie nicht indiziert (8). Hingegen sprechen die Daten für einen positiven Nutzen von Cranberrysaft, während sich mit Probiotikaprodukten ein Harnwegsinfekt nicht verhindern lässt. Matthias Scholer Wann ist eine prophylaktische Behandlung mit Antibiotika sinnvoll? Im Allgemeinen raten die Experten davon ab, da eine Narbenbildung im Verlauf einer HWI sich damit nicht reduzieren lässt (7). Eine antibiotische Prophylaxe ist hingegen bei Kindern mit einer komplexen CAKUT, hochgradigem VUR (WHO Grad IV und V), bei kontinenten Kindern mit BBD und VUR und in Fällen, in denen eine Miktionszystourethrografie (MCUG) bevorsteht, indiziert. Verlaufskontrollen bei febrilem HWI Das erkrankte Kind sollte 3 bis 5 Tage nach Therapiebeginn für eine Verlaufskontrolle einbestellt werden. Dabei liegt der Fokus auf: • dem klinischen Zustand (Allgemeinzustand, Fieber) • der Verifikation der Diagnose • der Überprüfung der Resultate der Urinkultur und des Antibiogramms, um die empirische Therapie gegebenenfalls anzupassen. Wenn kein Harnwegsinfekt vorliegt, soll die Therapie gestoppt werden. Eine erneute Urinanalyse, Urinkultur oder Bestimmung der Entzündungsparameter sind nicht nötig – auch nicht am Ende der Therapie. Quelle: Online Frühjahrstagung der Kinderärzte Schweiz, Vortrag «Update Harnwegs infektionen», am 14. März 2024. Referenzen: 1. Buettcher M et al.: Swiss consensus recommendations on urinary tract infections in children. Eur J Pediatr. 2021;180(3):663-674. DOI: 10.1007/s00431-020-03714-4. 2. Shaik N et al.: Prevalence of urinary tract infection in childhood: a meta-analysis. Pediatr Infect Dis J. 2008;27(4):302-308. DOI: 10.1097/INF.0b013e31815e4122. 3. Marin JR et al.: Videos in clinical medicine. Suprapubic bladder aspiration. N Engl J Med. 2014;371(10):e13. DOI: 10.1056/NEJMvcm1209888. 4. Shaikh N et al.: Procalcitonin, C-reactive protein, and erythrocyte sedimentation rate for the diagnosis of acute pyelonephritis in children. Cochrane Database Syst Rev. 2015;1(1):CD009185. DOI: 10.1002/14651858.CD009185.pub2. 5. Leroy S et al.: Procalcitonin, a useful biomarker in pediatric urinary tract infection. Arch Pediatr. 2013;20(1):54-62. DOI: 10.1016/j.arcped.2012.10.025. 6. Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie, Guideline Harnwegsinfektionen bei Kindern und Jugendlichen. https://ssi.guidelines.ch/guideline/4005/de 7. Morello W et al.: Antibiotic Prophylaxis in Infants with Grade III, IV, or V Vesicoure teral Reflux. N Engl J Med. 2023;389(11):987-997. DOI: 10.1056/NEJMoa2300161. 8. Overland M et al.: Revisiting the utility of prenatal ultrasound in the routine workup of first febrile UTI: A systematic review and meta-analysis of the negative predictive value of prenatal ultrasound for identification of urinary tract abnormalities after first febrile urinary tract infection in children. J Pediatr Urol. 2023;19(6):754-765. DOI: 10.1016/j.jpurol.2023.08.020. 9. Urinary tract infection in under 16s: diagnosis and management. London: National Institute for Health and Care Excellence (NICE); 2022 Jul 27. (NICE Guideline, No. 224.) Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK588844/ Ultraschall Nach der ersten Episode einer PN oder bei einer rezidivierenden HWI sollte bei allen Kindern ein Ultraschall der Nieren und Harnwege durchgeführt werden, um eine anatomische Malformation auszuschliessen – unabhängig davon, ob bereits pränatal ein Ultraschall erfolgt ist. Zusätzlich ist eine Sonografie bei therapieresistenten Kindern indiziert, um atypische bzw. komplizierte HWI auszuschliessen. 4+5/24 Pädiatrie 13