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Schwerpunkt
Wie werden Epilepsien klassifiziert?
Epilepsien manifestieren sich mehrheitlich schon im Kindes- und Jugendalter und hier in besonderer Vielfalt. Mit der hohen Gesamtprävalenz von Epilepsie sind auch seltenere Präsentationsformen keine absolute Rarität in der Praxis. Für Pädiater ist die Unterscheidung zumindest grober Kategorien wichtig, um Diagnostik und Therapiewahl zu verstehen und Betroffene zu beraten. Die Einteilung von Epilepsien kann auf verschiedenen Stufen erfolgen. Die International League Against Epilepsy (ILAE) hat hierzu in den letzten Jahren mehrere umfassend revidierte Konsensempfehlungen herausgegeben.
Von Ralf Eberhard
Grand mal oder Petit mal? Konvulsiv oder motorisch? Rolando-Epilepsie, benigne fokale Epilepsie oder selbstlimitierte Epilepsie mit zentrotemporalen Spikes? Strukturell, symptomatisch, idiopathisch? Partiell oder fokal? Komplex bis zum Bewusstseinsverlust? – Nomenklatur und Klassifikationen mögen verunsichern und zu Diskussionen Anlass geben. Viele Sprachen haben ein historisch gereiftes Fach- und Laienvokabular zu Epilepsien. In den vergangenen Jahren sind in der Epileptologie international viele gängige Begriffe und Konzepte formal abgelöst oder zum Teil mehrfach neudefiniert worden. Im klinischen Alltag kursieren gleichzeitig alte und neue, sprachspezifische oder übersetzte Begriffe, oft in Mischung und mit letztlich unscharfer Abgrenzung. Eine Vereinheitlichung ist zur besseren Orientierung und Kommunikation auf allen Spezialisierungsstufen erstrebenswert.
Die vor über 100 Jahren gegründete ILAE hatte 1985 eine erste Klassifikation der Epilepsien und Epilepsiesyndrome herausgegeben, welche mit Revision von 1989 und Ergänzungen 2006/2010 langjährig Bestand hatte. Im Bestreben um eine neue Strukturierung, die den schnell wachsenden Erkenntnissen und aktuellen Stossrichtungen in Diagnostik und Therapie gerecht würde, wurde in einem iterativen Prozess die 2017 vorgelegte ILAE-Klassifikation der Epilepsien erarbeitet (nachfolgend ILAE17). Diese sollte universell einsetzbar sein durch eine normative Terminologie, welche von zahlreichen Benutzer- und Interessengruppen verwendet und verstanden werden sollte, und durch Flexibilität im Detaillierungsgrad. Diese altersübergreifende Klassifikation der Epilepsien wurde zwischenzeitlich ergänzt mit einer adaptierten für Anfälle beim Neugeborenen (2020), sowie einer kriterienbasierten Definition und Einteilung von Epilepsiesyndromen (2022).
Abbildung 1: Framework der ILAE-Klassifikation der Epilepsien 2017 aus: Scheffer IE et al.: ILAE-Klassifikation der Epilepsien: Positionspapier der ILAEKommission für Klassifikation und Terminologie. Z. für Epileptol. 2018;31:296-306.
Definition und Diagnose von Epilepsie
Epilepsie ist eine Erkrankung mit einer Veranlagung des Gehirns für epileptische Anfälle; diese zeichnen sich aus durch transiente Symptome und klinische Zeichen, welche von exzessiver oder abnorm synchroner neuronaler Aktivierung im Gehirn ausgelöst werden. Dieser konzeptuellen Definition von Epilepsie der ILAE folgte 2014 eine operationale, d.h. praktisch-klinische, mit den alternativen Diagnosekriterien: 1. mindestens 2 unprovozierte (oder Reflex-) Anfälle im
Abstand von > 24 h, 2. ein unprovozierter Anfall mit hoher Wahrscheinlichkeit
(geschätzt > 60%) eines weiteren Anfalls in den folgenden 10 Jahren, oder 3. Vorliegen eines Epilepsiesyndroms. Die Diagnosestellung einer Epilepsie erfordert also bereits eine erste wichtige Kategorisierung in unprovozierte, d. h. spontane (oder diskret getriggerte) epileptische Anfälle bei entsprechender Veranlagung, oder provozierte epileptische Hirnaktivität durch akute Schädigung. Diese synonym auch als akut symptomatisch bezeichneten An-
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fälle sind ursächlich und zeitlich direkt an akute Auslöser geknüpft wie Fieber, Intoxikationen, Elektrolytstörungen, Hypoglykämie, Enzephalitis, intrakranielle Blutung, Ischämie oder Asphyxie und nicht mit einer Epilepsie gleichzusetzen. Die Abgrenzung ist entscheidend zum Vermeiden von Fehltherapie und ist auch bei diagnostizierter Epilepsie immer wieder vorzunehmen.
ILAE-Klassifikation von Epilepsien 2017
Abbildung 1 repräsentiert das häufig wiedergegebene Raster mit den verschiedenen Klassifikationsebenen oder Dimensionen. Ausgangspunkt ist die Einteilung von Anfällen, wofür ein umfangreiches Instruktionsmanual detaillierte Anwendungskriterien und die Terminologie liefert (Abbildung 2). Die Hauptkategorisierung erfolgt nach dem Anfallsursprung in fokal oder generalisiert. Nach Möglichkeit sollen Anfallsformen zugeordnet werden, die neu spezifiziert und in motorisch oder nicht motorisch gruppiert worden sind. Bei fokalen Anfällen wird zudem nach erhaltener oder eingeschränkter Bewusstheit im Anfallsverlauf unterschieden. Die Kategorisierung von Anfällen als Minimalvariante der ILAE17 kann theoretisch auch auf provozierte Anfälle angewendet werden. Hingegen setzt die ILAE17 voraus, dass epileptische Anfälle schon mit Bestimmtheit von nicht epileptischen Ereignissen wie z. B. Synkopen, Parasomnien oder dissoziativen Anfällen abgegrenzt worden sind. Diese gehen nicht in die Anfallsklassifikation ein und sind allenfalls bei den Komorbiditäten aufzuführen (siehe unten). Die Kategorie unbekannter Beginn bezieht sich auf epileptische Anfälle und ist nicht als Sammeltopf für unklare Ereignisse zu verstehen. Die Einteilung der Epilepsieart wird bestimmt von den Anfallsarten. Zudem sind Befunde aus dem EEG mitentscheidend, so dass z. B. generalisierte epilepsietypische Potenziale im interiktalen EEG auch bei Anfällen mit unbekanntem Beginn die Zuteilung zu einer generalisierten Epilepsie rechtfertigen. Neu sind die Kategorien kombiniert fokal und generalisiert sowie unklassifiziert, wobei letztere nicht für den Zweifel an der Epilepsiediagnose dient. Epilepsiesyndrome werden anhand charakteristischer Merkmalskombinationen aus Anfallsformen und EEG-Veränderungen definiert, oft unterstützt durch spezifische ätiologische Befunde. Auch Alter oder Entwicklungsaspekte sind meist typisch (siehe unten). Viele der Epilepsien im Kindes- und Jugendalter lassen sich einem Epilepsiesyndrom zuordnen. Die Ätiologie wird als eine die drei genannten Ebenen übergreifende Dimension dargestellt. Die Ursachendiagnostik von Epilepsie läuft gewöhnlich schon früh an, wird gesteuert von der erfolgten Kategorisierung auf den verschiedenen Ebenen und fliesst umgekehrt mit ein in die Bewertung von Anfallsformen, Epilepsieart oder Syndromzuordnung. Die 6 definierten Kategorien (strukturell, genetisch, infektiös, metabolisch, immunvermittelt oder unbekannt) haben primär eine hohe Therapierelevanz. Komorbiditäten überspannen ebenfalls als neue Dimension die 3 Ebenen (siehe unten). Die Klassifikationsebenen/-dimensionen der ILAE17 sind
Abbildung 2: Erweiterte Version der ILAE-2017-Anfallsklassifikation nach: Fisher RS et al.: Operationale Klassifikation der Anfallsformen durch die ILAE: Positionspapier der ILAE-Klassifikations- und Terminologiekommission. Z. für Epileptol. 2018;31:272-281.
nicht als hierarchisch zu verstehen; vielmehr entwickelt sich die Kategorisierung in den verschiedenen Bereichen gemeinsam und bezieht reziprok Informationen aus den anderen mit ein. Wichtig ist, dass Diagnose und Einteilungen dynamisch sind und immer wieder überprüft werden, von der Initialfrage epileptisch ja/nein? bis in alle Subkategorien der Klassifikation.
Die phänomenologische Syndromzuordnung geht der Ursachenaufklärung gewöhnlich weit voraus und gelingt deutlich häufiger.
ILAE-Klassifikation der Epilepsiesyndrome
Die Beschreibung von Epilepsiesyndromen als wiederkehrende phänotypische Cluster liegt Dekaden zurück (z. B. Lennox-Gastaut-, Landau-Kleffner-, Dravet-Syndrom); auch bei «Rolando-Epilepsie» oder «Kindheits-Absenzen-Epilepsie» handelt es sich um typische Konstellationen von Anfallsformen, EEG-Befunden und Alter des Auftretens, sodass auch diese «Diagnosen» Syndrome darstellen. Die ILAE hat im Jahr 2022 eine umfänglich überarbeitete Klassifikation und Definition der Epilepsiesyndrome publiziert, unterteilt nach dem typischen Alter bei Beginn in Neugeborenen- und Kleinkindalter (< 2 Jahre), Kindesalter, oder variables Alter (Abbildung 3). Die allesamt neu charakterisierten Syndrome beruhen mehrheitlich auf gut bekannten, erhielten aber neue Namen und Abkürzungen (hauptsächlich phänomenologisch beschreibend und bis auf die eingangs genannten nicht mehr mit Eponymen), z. B. Self-Limited Epilepsy with Centrotemporal Spikes (SeLECTS) für die Rolando-Epilepsie. Eine wesentliche Neuerung sind genau definierte
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Abbildung 3: ILAE-Klassifikation der Epilepsiesyndrome modifizierte Zusammenstellung nach: Baumgartner C et al.: Klassifikation von Epilepsiesyndromen. Klin. Neurophysiol. 2023;54:154-167.
Kriterien zu Anfällen, EEG-Befunden und Begleitaspekten, welche entweder obligat für die Zuteilung sind, als Warnzeichen (alerts) zu werten sind (d. h. beim Syndrom selten vorkommen), oder eine entsprechende Syndromzuordnung ausschliessen. Die Epilepsiesyndrome werden in verschiedene Gruppen geordnet, bemerkenswerterweise mit Entwicklungsstörung als einem Haupt-Klassifikator (siehe unten). Zudem werden einzelne ätiologiespezifische Syndrome aufgeführt, welche ausgehend von bestimmten genetischen oder strukturellen Ursachen eine relativ charakteristische Kombination von epilepsiebezogenen und anderen Merkmalen aufweisen. Für die Mehrzahl bekannter Epilepsieursachen, insbesondere genetischen, ist die Korrelation mit dem elektroklinischen Phänotyp aber mässig (hohe genetische und phänotypische Heterogenität). Die phänomenologische Syndromzuordnung geht der Ursachenaufklärung gewöhnlich weit voraus und gelingt deutlich häufiger, sodass sie auch bei einer zunehmenden Zahl identifizierbarer Ätiologien entscheidend bleibt für die Orientierung in der Vielfalt der Epilepsien und als Basis der (meist symptomatischen) Therapiewahl.
Klassifikation von Anfällen des Neugeborenen
Epileptische Anfälle des Neonaten zeigen viele Eigenheiten: Es dominieren akut provozierte Anfälle durch perinatale Ereignisse wie hypoxisch ischämische Enzephalopathie oder Infektionen, weit vor der Erstmanifestation seltener Epilepsiesyndrome; der Anfallsbeginn wird als fokal angenommen; die klinische Präsentation beschränkt sich auf diskretere Muster oder bleibt bei den anteilsmässig häufigen, rein elektrografischen Anfällen ganz aus. In einer 2020 publizierten Modifikation der ILAE17 für Neugeborenenanfälle spielt das EEG im Korrelat mit der beobachtbaren Klinik eine zentrale Rolle, für die Hauptunterteilung in nicht epileptische Episoden (ohne iktales EEG-Muster) und elektroklinische oder rein elektrografische Anfälle. Die elektroklinischen Anfälle werden nach dem dominierenden Merkmal kategorisiert: motorisch, nicht motorisch, sequenziell oder unklassifiziert. Weitere Spezifizierungen sind optional, so z. B. für die motorischen Muster und deren topische Verteilung.
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Integrierte Klassifikation
In einigen epilepsiechirurgischen Zentren ist die «Vierdimensionale Klassifikation» anzutreffen, die sich bei den Anfällen auf eine detaillierte Analyse der Semiologie, d.h. den klinisch beobachteten schrittweisen Ablauf konzentriert und nicht wie die ILAE17 den Kontext für eine mehr interpretative Kategorisierung miteinbezieht. Die breite Anwendung einer als «Integrierte Klassifikation» vorgeschlagenen Struktur (Abbildung 4) könnte helfen, in der Praxis eine einheitliche und übersichtliche Formulierung von Epilepsie-Diagnosen zu erreichen.
Fokal oder generalisiert
Die Hauptkategorien der ILAE17 für Anfälle und Epilepsietyp beziehen sich auf die zerebrale epileptische Aktivität zu Beginn eines Anfalls. Bei fokal wird ein örtlich umschriebener Anfallsursprung vermutet, während bei generalisiert eine sehr frühe weite (diffuse) Verteilung von synchronisierter Fehlaktivierung in beiden Hemisphären beobachtet wird. Die Abgrenzung erfolgt durch fokale (z. T. lateralisierende) Zeichen in der klinischen Beobachtung oder subjektiven Wahrnehmung, im Idealfall gesichert mit fokalen EEG-Veränderungen am Beginn eines Anfalls, oder durch typische generalisierte EEG-Muster wie diffuse synchrone 3-Hz-Spike-Waves. Der frühere Begriff «sekundär generalisiert» sollte beschreiben, dass ein tonisch-klonisch endender Anfall nicht von Beginn weg diffus abgelaufen ist, sondern sich nach fokaler Einleitung mehr oder weniger schnell auf ein beidseitiges Muster ausgedehnt hat. Mit der ILAE17 wird er ersetzt durch fokal zu bilateral (tonisch-klonisch), um der Idee des primär Fokalen Nachdruck zu verleihen und generalisiert für den Anfallsbeginn zu reservieren. «Grand Mal» oder «Petit Mal» für tonisch-klonische generalisierte oder kleinere generalisierte, respektive «partial» für fokale Anfälle sind mit der ILAE17 hinfällig geworden. Der Anfallsbeginn ist wegweisend in der Diagnostik und Therapie. Bei fokal ist nebst den relativ häufigen selbstlimitierenden Epilepsiesyndromen eher eine strukturelle Ursache abzuklären, wo sich eine Bildgebung aufdrängt. Hier schliesst auch die frühe Erwägung einer epilepsiechirurgischen Therapieoption an. Generalisiert wird einer genetisch bedingten Veranlagung zugeordnet, bei der kein strukturelles Korrelat in der Bildgebung bekannt wäre. Bei den medikamentösen Therapien haben gewisse Substanzgruppen verschieden gute Wirksamkeit auf fokale oder generalisierte Anfälle, wonach sich auch die zugelassenen Indikationen richten. Wichtig für die Beratung ist zu erinnern, dass bilateral tonisch-klonische mehr als fokal limitierte Anfälle mit einem erhöhten Risiko für SUDEP (sudden unexpected death in epilepsy) assoziiert sind.
Bewusst oder nicht bewusst erlebt
Bei generalisierten Anfällen wird durch die bilateral-synchrone kortikale Beteiligung eine Bewusstseinsalteration angenommen und nicht explizit genannt. Für fokale Anfälle soll angegeben werden, wenn das Bewusstsein zu irgendeinem Zeitpunkt beeinträchtigt scheint; der ganze Anfall wird dann als fokal nicht bewusst erlebt klassifiziert. Im Englischen sind die Entsprechungen für bewusst erlebt und nicht bewusst erlebt «aware» respektive «impaired awareness». «Awareness» (Bewusstheit) wird als
1. Zusammenfassende Überschrift: Epilepsietyp (fokale, generalisierte, unklassifizierte) & Ätiologie (strukturelle, infektiöse, genetische, metabolische, immunbedingte, unbekannte) & «Epilepsie» (plus Datum der Erstmanifestation oder Erstdiagnose)
2. Anfallstyp: beschreibend nach Semiologie (oder Anfallsform gemäss ILAE-Klassifikation) 3. Epilepsietyp: fokal (plus Lokalisation), generalisiert oder unbekannt; Epilepsiesyndrom wenn
Zuordnung möglich 4. Ätiologie: wie bei 1., (plus exakte Ätiologie wenn bekannt) 5. Komorbiditäten und Präferenzen: auch Medikamentenunverträglichkeiten, therapierelevante
Absichten wie z. B. Kinderwusch/Berufsplanung
Abbildung 4: Vorschlag einer «Integrierten Epilepsie Klassifikation» zum Formulieren einer detaillierten Epilepsiediagnose angepasst nach Rosenow F.: Epilepsieklassifikation – Vor- und Nachteile verschiedener Klassifikationssysteme – ein Review. Klin. Neurophysiol. 2023. doi:10.1055/a-2142-446.
Surrogat für «consciousness» (Bewusstsein) genommen und ist operational definiert als «das Wissen von sich selbst und dem Umfeld». Pragmatisch geht man davon aus, dass die betroffene Person sich später an den Anfall erinnern und das bewusste Erleben bestätigen kann. Reaktionsfähigkeit («Ansprechbarkeit») ist nicht damit gleichzusetzen; sie wird oft nicht getestet und erscheint nicht als primäres Kriterium in der Klassifikation. Die früheren Begriffe «einfach partiell» für erhaltenes oder «komplex partiell» für beeinträchtigtes Bewusstsein bei fokalen Anfällen sind obsolet. Die Beeinträchtigung des Bewusstseins im Anfallsverlauf hat mit dem erhöhten Risiko für physische Gefährdung und Beeinträchtigung der Aufnahmefähigkeit eine hohe praktische Relevanz; unter anderem hängt die Fahr- und Berufseignung davon ab.
Der Anfallsbeginn ist wegweisend in der Diagnostik und Therapie.
Entwicklung und Kognition
Bei Epilepsie sind Entwicklungsaspekte oft mitbetroffen und Normabweichungen gehäuft. In den 2000er-Jahren reifte der Begriff der Epileptischen Enzephalopathie (EE): Früher für bestimmte gravierende Epilepsiesyndrome gebraucht, wurde mit der ILAE-Definition von 2010 damit ein Prozess beschrieben, «bei dem die epileptische Aktivität oder Anfälle Probleme von Kognition und/oder Verhalten generieren, die über jene von der Ätiologie zu erwartende hinausgehen». Dieses Konzept war essenziell in der Anerkennung einer Entwicklungsstagnation oder gar Regression, die mit aktiven Epilepsien gesehen werden kann, und suggerierte gleichzeitig, dass durch Kontrolle der Epilepsie eine Verbesserung der gehemmten Entwicklung erreicht werden könnte. Mit wachsenden Erkenntnissen vor allem aus der Genetik wird klarer, dass in vielen Fällen aufgrund einer gemeinsamen Ursache ein Neben- und Miteinander von Epilepsie und Entwicklungsstörungen vorliegt, also letztere unabhängig von der epileptischen Aktivität schon ablaufen und zusätzlich durch eine aktive Epilepsie verstärkt sein können. Dies hat zur heute gebräuchlichen Beschreibung von entwicklungsbedingter und epileptischer Enzephalopathie (Developmental and Epileptic Encephalopathy, DEE) geführt, welche auch in der neuen Syndromklassifikation als wichtiges Gruppierungskriterium erscheint.
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Komorbiditäten
Anfälle als (Haupt-)Symptom von Epilepsie betten sich ein in ein komplexes Erkrankungsgefüge mit somatischen, neurologischen sowie vor allem auch psychiatrischen und psychosozialen Aspekten. Nebst oben genannten Entwicklungsproblemen sind definierte Störungen wie AD(H)S, Schlafstörungen, Angststörungen oder Depression bei Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie hoch prävalent. Hier sind auch die nicht epileptischen, funktional-dissoziativen Anfälle einzureihen, die bei Epilepsie-Betroffenen im Krankheitsverlauf überdurchschnittlich häufig vorkommen. Für all diese Assoziationen ist analog zum Konzept bei den DEE anzunehmen, dass eine gemeinsame Ursache die Veranlagung zu einer Vielzahl möglicher separater Störungen schaffen und/oder die Epilepsie solche Zusatzerkrankungen auslösen oder begünstigen kann, über Anfälle, epileptische Aktivität, Behandlungsnebeneffekte und soziale Implikationen. Die aktive Berücksichtigung von Begleiterkrankungen bei Epilepsie kann für die ätiologische Diagnostik wegweisend sein und ist noch entscheidender für die Ausrichtung der Therapie. Die wachsende Zahl an ursachenspezifischen Therapien hat das Potenzial, Epilepsie und auch Komorbiditäten direkt in deren Pathomechanismen zu beeinflussen. Gleichzeitig sollte stets mit den bestehenden (mehrheitlich noch symptomatischen) Möglichkeiten das Bestreben hin zu einer integrierten Gesundheit und optimaler psychomotorischer und sozialer Gesamtentwicklung unterstützt werden, welches über die Anfallskontrolle hinaus eine gleichwertige Behandlung der Komorbiditäten einschliesst.
Zusammenfassung
Mit der ILAE17 ist ein breit abgestützter Vorschlag zur Terminologie und Klassifikation von Epilepsien gemacht worden, der international zunehmend Eingang in die Praxis findet. Die zusätzliche Spezifizierung und Kategorisierung von Epilepsiesyndromen hilft für die Übersicht und einfachere Orientierung in der Vielzahl von Präsentationsformen, wie sie mehrheitlich im pädiatrischen Alter manifest werden. Da auch die kognitive Entwicklung eine besondere Gewichtung erhält und insgesamt die Komorbiditäten stärker einbezogen werden, haben die neuen Klassifikationen auch eine hohe Relevanz für viele Bereiche der Pädiatrie.
Korrespondenzadresse: Dr. med. sc. nat. Ralf Eberhard, Oberarzt Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Weiterbildung in Neuropädiatrie und Schwerpunktweiterbildung in EEG/Epileptologie Schweizerisches Epilepsie-Zentrum Klinik Lengg AG Bleulerstrasse 60 8008 Zürich E-Mail: ralf.eberhard@kliniklengg.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Abbildung 5: Referenzen für Diagnose-, Klassifikations- und Terminologie-Standards (Quelle: Ralf Eberhard) 8 Pädiatrie 3/24