Transkript
Schwerpunkt
Schwindel bei Kindern
Wie man Ursachen und Auslösern auf die Spur kommt
Bei Kindern gestaltet sich die Diagnostik von Schwindel oft schwierig. Mithilfe der Anamnese sowie gezielter neurootologischer und klinischer Unter suchungen können die zugrundeliegenden Faktoren und Zusammenhänge jedoch meist identifiziert werden.
Von Hélène Cao Van
Die Ätiologien von Schwindel bei Kindern unterscheiden sich von denen bei Erwachsenen und sollten den Kinderärzten bekannt sein. Dennoch wird bei 19 Prozent der Kinder, die wegen Schwindel behandelt werden, nach der Untersuchung keine Diagnose gestellt (2528 Kinder im Alter von 3 Monaten bis 15 Jahren) (1). Die in der Literatur geschätzte Prävalenz von Schwindel variiert bei Kindern zwischen 5 und 8 Prozent und steigt bei Jugendlichen auf 17 Prozent an (1, 2). Unter Berücksichtigung der geringen Spezifität und der guten Tolerierbarkeit der Symptome bei Kindern liegen diese Zahlen vermutlich unter der tatsächlichen Prävalenz. Das Gleichgewicht ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens verschiedener Sinnesorgane: des vestibulären Systems des Innenohrs, des Sehens und der Propriozeption. Deren Informationen ermöglichen es, den Muskeltonus anzupassen und eine dynamische posturo- und okulomotorische Kontrolle zu erreichen.
Das Gleichgewicht ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens des vestibulären Systems des Innenohrs, des Sehens und der Proprio zeption.
Die Klinik der Gleichgewichtsstörung bzw. des Schwindels muss genau spezifiziert werden, um die wahrscheinliche Ursache zu erkennen und die geeigneten Zusatzuntersuchungen festzulegen, die zur Diagnose und spezifischen Behandlung führen. Ausserdem ist es wichtig, einen zentral bedingten Schwindel von einem peripheren Schwindel zu unterscheiden. Die klinische otoneurologische Untersuchung muss auf das Kind abgestimmt sein.
Die neurootologische HNO-Untersuchung
Der vestibuläre Teil des Innenohrs hat eine Bogengangfunktion und eine Otolithen-Funktion. • Die Bogengangfunktion informiert über Winkel
beschleun igungen (Bewegung des Kopfes in verschiedenen Achsen) mittels eines Sinnesorgans, das sich an der Basis dreier Bogengänge befindet (anterior, lateral und posterior).
• Die Otolithen-Funktion informiert über lineare Beschleunigungen (Schwerkraftgefühl, Auf- und Abwärtsbewegung) mithilfe von 2 Sinnesorganen, dem Utriculus und dem Sacculus.
Bei der Untersuchung wird versucht, jedes Sinnesorgan zu beurteilen. Bei plötzlichem Schwindel stellt sich jedoch die dringliche Frage, wie der Schwindel peripheren Ursprungs vom zentral bedingten Schwindel unterschieden werden kann.
1. Anamnese Im Rahmen der Anamnese ist es von Bedeutung, die Art des Schwindels, die Dauer, die Häufigkeit und einen möglichen Auslöser (Position?) zu erfragen und ob der Schwindel von Übelkeit und Erbrechen und/oder Bewusstlosigkeit und/oder Kopfschmerzen begleitet wird. Zudem sollte erfasst werden, ob otologische Symptome vorliegen (Hörverlust, Tinnitus, Ohrenschmerzen, Otor rhoe). Auch muss der Kontext berücksichtigt werden, in dem der Schwindel auftritt, etwa nach einer Infektion der oberen Atemwege oder genauer gesagt einer akuten Otitis media, nach einem Trauma (Unfall oder Operation), einer Medikamenteneinnahme oder in einem Risikokontext für vestibuläre Störungen. Dazu gehören sensorineurale Schwerhörigkeit, Innenohrfehlbildungen, assoziierte Syndrome sowie ein familiärer Risikokontext, eine angeborene CMV-Infektion oder Meningitis. Angesichts des multisensorischen Aspekts des Gleichgewichts sollte der Untersucher auch nicht vergessen, sich über die ophthalmologische und neurologische Situation des Patienten zu informieren. Ein Drehschwindel, der von Übelkeit und Erbrechen begleitet wird, ohne dass ein Bewusstseinsverlust eintritt, deutet auf eine periphere Störung hin. Eine zentrale Störung äussert sich eher durch Instabilität als durch starken Schwindel und wird nicht unbedingt von neurovegetativen Störungen begleitet, ausser bei intrakranieller Hypertonie.
2. Klinische Untersuchung Zunächst wird das Kind beobachtet. Wenn die Abweichung beim Gehen oder Sitzen immer auf derselben Seite zu sein scheint und vielleicht auch der Kopf geneigt ist, deutet dies eher auf eine periphere Schädigung hin, im Gegensatz zu einer Tendenz, nach hinten zu fallen oder
16
Pädiatrie 1/24
Schwerpunkt
bei Abweichungen in jede Richtung. Tritt die einseitige Abweichung bei geschlossenen Augen auf, deutet dies ebenfalls auf eine periphere Schädigung hin. Anschliessend werden die Augen genauer beobachtet, um einen Nystagmus (spontane Augenbewegung mit einer schnellen und einer langsamen Phase) zu identifizieren. Die schnelle Phase ist besser sichtbar und weist bei peripherer Schädigung auf ein aktives Vestibulum hin). Eine Frenzelbrille (welche die visuelle Fixierung verhindert) wird verwendet, um einen eventuellen spontanen Nystagmus besser erkennbar zu machen. Ein vertikaler und/ oder multidirektionaler Nystagmus, der bei der Fixation nicht gehemmt wird, deutet eher auf eine zentrale Schädigung hin. Ist kein Nystagmus vorhanden, kann versucht werden, diesen durch ein Hallpike-Manöver (rechts und links in Seitenlage) zu provozieren, um nach einem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (einer seltenen Diagnose bei Kindern) zu suchen, der mit spezifischen Kriterien wie Latenz, Erschöpfbarkeit und Geotropie verbunden ist. Des Weiteren wird nach einem möglichen Blick-Nystagmus gesucht (erkennbar durch eine leichte Abweichung von 20 Grad aus der Blickrichtung), der auf eine zentrale Beeinträchtigung hinweist. Bei Kindern kann auf einfache Weise ein Kopf-Impuls-Test (KIT) durchgeführt werden, der bei pathologischem Ergebnis auf eine periphere Schädigung hinweist. Für diesen Test positioniert man sich dem Kind gegenüber und bittet es, ein Spielzeug zu fixieren, das auf der eigenen Nase, dem Mund oder auf dem Oberteil des Arztkittels platziert wurde. Dann nimmt der Untersucher den Kopf des Kindes in die Hände und übt eine plötzliche seitliche Bewegung des Kopfes aus. Wenn das Kind nicht in der Lage ist, auf das Ziel fixiert zu bleiben und eine Rückstellsakkade des Auges erforderlich ist, ist der Test pathologisch und zeigt die betroffene Seite an. Der vestibulo-okuläre Reflex (VOR) kann auch leicht beurteilt werden, indem das Kind auf einem Schreibtischstuhl gedreht wird und die Augen beobachtet werden, die dann Sakkaden ausführen. Diese Sakkaden verschwinden, wenn sich das Kind auf ein Ziel konzentriert, das sich mit ihm dreht, was auf eine gute Kleinhirnfunktion hindeutet. Des Weiteren ist es wichtig, eine otoskopische Untersuchung und mindestens eine Akumetrie (Stimmgabeltest zur Beurteilung der Luft- und Knochenleitung und Flüstertest) durchzuführen, da es in der Arztpraxis keinen Zugang zu einer formellen Hörprüfung gibt. Eine neurologische Untersuchung beinhaltet insbesondere die Untersuchung der Hirnnerven. In spezialisierten Zentren wird die Untersuchung durch instrumentalisierte Messungen ergänzt (3). Die Bogengangfunktion (3 Bogengänge) wird durch den Video-Kopf-Impuls-Test, der die Verstärkung des VOR misst, und den kalorischen Test, der die Funktion des lateralen Bogengangs bei niedrigen Frequenzen testet, be urteilt. Die Funktion der Otolithen (Utriculus und Sacculus) wird durch zervikal evozierte myogene Potenziale (ab 3 Monaten, sobald das Kind den Kopf hält) und okulär evozierte Potenziale (ab 3 Jahren) beurteilt. Die zervikal vestibulär evozierten myogenen Potenziale (cVEMP) zeigen die R eflexaktivität der vestibulospinalen Bahnen auf.
Eine Elektrode am kontrahierten Musculus sternocleidomastoideus zeichnet eine biphasische Welle als Reaktion auf eine akustische Stimulation auf. Diese wird bei Kindern bevorzugt als Knochenleitung eingesetzt, um nicht vom Zustand des Mittelohrs abhängig zu sein (seromuköse Otitiden sind bei Kindern häufig). Für die M essung von okulär vestibulär evozierten myogenen Potenzialen (oVEMP) werden die Elektroden um die Augen herum positioniert, und das Kind wird gebeten, ein Ziel zu fixieren, das die Anspannung der Augenmuskeln ermöglicht. Die akustische Stimulation erfolgt ähnlich wie bei cVEMP.
Ätiologien von Schwindel bei Kindern (1, 2)
1. Migräne-Äquivalente Dies sind die häufigsten Ursachen für Schwindel bei Kindern aller Altersgruppen (25%). Die klinische (neurootologische und neurologische) Untersuchung ist normalerweise normal, und es handelt sich um eine Ausschlussdiagnose. Zur Diagnosestellung dienen klinische Kriterien, die von der Bárány-Gesellschaft (Internationale Gesellschaft für Neuro-Otologie) herausgegeben wurden (mindestens 5 Episoden mit vestibulären Symptomen mässiger bis schwerer Intensität von 5 Minuten bis 72 Stunden, die Hälfte davon mit Kopfschmerzen) (5). Der Schwindel kann von Kopfschmerzen begleitet sein, muss aber nicht zwangsläufig. Häufig findet man Migräne in der F amiliengeschichte oder eine visuelle Ermüdung als Ursache der Anfälle (oft zu lange am Bildschirm!). Die Anfälle werden von Übelkeit/Erbrechen begleitet und können vor allem bei Kleinkindern, die sich nicht äussern können, mit einer Magen-Darm-Störung verwechselt werden. Häufig findet man eine Somnolenz nach der Attacke, wobei der Anfall in der Regel einige Stunden andauert.
Migräne-Äquivalente sind die häufigsten Ursachen für Schwindel bei Kindern aller Altersgruppen.
Die Behandlung ist mit der von Migräne vergleichbar und beginnt mit einer gesunden Lebensweise (Schlaf, Flüssigkeitszufuhr, Einschränkung der Bildschirmzeit) und Schmerzmitteln der ersten Stufe. Die ophthalmologische Untersuchung ist von ent scheidender Bedeutung, da Sehstörungen bezüglich der Refraktion oder der Vergenz die Symptomatik verschlechtern können (44,4% der Migränefälle) und ihre Beh and lung daher Teil der Erstbehandlung ist. Wenn der neurologische Befund normal ist, wird eine Kernspintomographie nicht zwingend empfohlen. Allerdings handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose, so dass mitunter zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Anomalie oder ein zentraler Prozess formell ausgeschlossen werden muss.
2. Gutartiger paroxysmaler Schwindel in der Kindheit (Recurrent Vertigo in Children) Diese Entität wurde 1964 von Brasser beschrieben. Die Ätiologie ist bis heute unbekannt. Diese Diagnose betrifft vor allem kleine Kinder (2–4 Jahre). Es handelt sich um die zweithäufigste Ursache für Schwindel bei Kindern.
1/24 Pädiatrie
17
Schwerpunkt
Der Schwindel ist rotatorisch und kurz (einige Sekunden bis 10 Minuten) und zwingt das Kind oft, sich plötzlich hinzusetzen, ohne dass weitere Symptome auftreten. Das Kind hat mehrere «Anfälle», die sich manchmal über denselben Tag verteilen. Die Symptomatik verschwindet nach einigen Monaten. Die neurootologische Untersuchung ist normal. Ein Drittel der betroffenen Kinder entwickelt mit zunehmendem Alter Migräne. Diese Entität wird ebenfalls anhand der von der Bárány-Gesellschaft herausgegebenen klinischen Kriterien identifiziert (mindestens 3 Episoden von 1 Minute bis 72 Stunden ohne Kopfschmerzen). Es wird eine klinische Überwachung empfohlen, jedoch keine Bildgebung.
3. Traumatische Ursachen Bei posttraumatischem Schwindel ist eine Felsenbeinfraktur zu vermuten, die möglicherweise mit einer Labyrinthkontusion einhergeht. Bildgebende Verfahren sind hier unerlässlich, ebenso wie eine Hörprüfung. Es ist wichtig, die Entwicklung des Patienten genau zu verfolgen. Im Falle einer Verschlechterung ist eine Mittelohrexploration, gegebenenfalls mit Verschluss einer Liquorfistel, angezeigt. Es handelt sich um die dritthäufigste Ursache für Schwindel bei Kindern (10%).
4. Fehlbildungen des Innenohrs Fehlbildungen können die Cochlea (Mondini) oder das Vestibulum (Dilatation des Vestibularis-Aquädukts) betreffen. Je nach Fehlbildung, die isoliert oder syndromal auftreten kann, wird eine spezifische genetische Ätiologie vermutet. Cochleovestibuläre Defizite können progressiv verlaufen, weshalb eine klinische Nachsorge empfohlen wird.
Der bei Erwachsenen häufige benigne paroxysmale Lagerungsschwindel ist bei Kindern extrem selten.
vierte Keim in diesem Fall. Die anfängliche Symptomatik ähnelt einem plötzlichen Vestibularis-Ausfall, die jedoch in einem akuten infektiösen Kontext auftritt. Eine chirurgische Behandlung ist hier dringend erforderlich (Entlastung mittels Paukenröhrchen und Anthrotomie/ Mastoidektomie), ebenso wie eine intravenöse Antibiotikabehandlung. Eine spätere Kontrollbildgebung wird empfohlen, um eine beginnende Ossifikation zu erkennen. Eine engmaschige funktionelle Überwachung (Gehör und vestibuläres System) wird ebenfalls empfohlen. Eine Meningitis, auch eine nicht otogene, kann die gleichen Komplikation hervorrufen (30% der Meningitis-Fälle). Cholesteatome, die nicht behandelt werden, führen zu einer fortschreitenden Zerstörung des Mittelohrs und greifen schliesslich auf das Innenohr über. Bildgebende Verfahren und eine chirurgische Behandlung sind erforderlich.
7. Zentraler Ursprung Tumore in der hinteren Schädelgrube (z. B. Astrozytom, Medulloblastom, Gliom) machen weniger als 1 Prozent der Diagnosen aus. Das betroffene Kind zeigt eher eine Instabilität als einen Drehschwindel. Neurologische Zeichen sind sehr häufig begleitend. Dieser funktionelle neurootologische Befund spricht für eine zentrale Beeinträchtigung. Die Bildgebung ist dann für die Diagnose unerlässlich.
8. Psychogener Schwindel Psychogener Schwindel ist relativ selten bei Kindern und findet sich häufiger bei präadoleszenten und jugendlichen Mädchen. Die neurootologische Untersuchung ist normal und die Klinik oft sehr atypisch. Eine angemessene Behandlung durch einen Kinderpsychiater wird empfohlen. Eine Eskalation nicht notwendiger medizinischer Untersuchungen, insbesondere bildgebender Verfahren, sollte vermieden werden.
5. Plötzlicher Vestibularis-Ausfall Diese Diagnose macht 5 Prozent der Schwindelanfälle bei Kindern aus und ist vergleichbar mit der Häufigkeit bei Erwachsenen. Die Prognose für die Wiederherstellung der Funktion ist besser als bei Erwachsenen, was möglicherweise mit der beschriebenen, eher viralen Schädigung zusammenhängt. Die klinischen Manifestationen sind eindeutig (grosser Drehschwindel) mit dem Vorhandensein eines spontanen Nystagmus, der bei Fixation gehemmt ist und dazu neigt, von der betroffenen Seite abzuweichen. Der KIT ist auf der betroffenen Seite pathologisch. Im Zweifelsfall kann ein kalorischer Test den Diagnoseverdacht bestätigen. Die Behandlung erfolgt symptomatisch. Kortikosteroide haben hier keine Wirkung gezeigt.
6. Komplikation einer akuten oder chronischen Otitis media Eine mögliche Komplikation einer akuten Otitis media ist eine Labyrinthitis mit cochleovestibulärem Defizit. Die Infektion kann sich zu einer Fibrose und dann zu einer intralabyrinthären Ossifikation entwickeln, die das Einsetzen eines Cochlea-Implantats nicht mehr zulässt. Streptococcus pneumoniae ist der am häufigsten invol-
9. Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Diese bei Erwachsenen häufige Diagnose ist bei Kindern extrem selten. Sie hat die gleichen Merkmale (induzierter Lagerungsschwindel mit Auftreten des Nystagmus nach einer Latenz nach der auslösenden Bewegung und einem geotropen, erschöpfbaren, isolierten Nystagmus) und erfordert die gleiche Behandlung wie bei Erwachsenen (Befreiungsmanöver). Er tritt manchmal nach einem Trauma auf. Es besteht eine anatomische Prädisposition (Innenohrfehlbildung wie die Dilatation des Vestibularis-Aquädukts). Da diese Diagnose bei Kindern sehr selten ist, kann dies eine Bildgebung rechtfertigen, um eine zentrale Ursache und eine Innenohrfehlbildung formell auszuschliessen.
10. Orthostatische Hypotonie und Hypoglykämien
11. Menière-ähnliche Syndrome Diese Syndrome sind sehr selten und nur bei älteren Kindern (> 8–10 Jahre) zu finden. Die klassische Situation besteht aus einer Schwindelattacke (mehrere Stunden/ Tage) sensorineuraler Schwerhörigkeit der niedrigen Frequenzen und Tinnitus.
18
Pädiatrie 1/24
Schwerpunkt
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schwindel bei Kindern nach wie vor ein schwer zu identifizierendes Symptom ist (zu jung und spricht nicht oder hat Schwierigkeiten, zu erklären, was es empfindet, oft Verwechslung mit einer gastrointestinalen Störung). Die häufigsten Ätiologien bei Kindern sind Migräne-Äquivalente (17–40%) und benigner paroxysmaler Schwindel im Kindesalter (6–20%) (1, 2). Ophthalmologische Störungen können die Klinik bei migräneähnlichen Situationen verschlechtern. Eine vestibuläre Störung findet sich bei 36,5 Prozent der Kinder, die im Rahmen von Schwindel zur neurootologischen Untersuchung überwiesen werden (1). Untersuchungen ermöglichen, jedes Sinnesorgan des vestibulären Systems des Innenohrs (Bogengangfunktion mit KIT und kalorischen Tests und Otolithen-Funktion mit evozierten myogenen Potenzialen) zu beurteilen, und zwar mit an das Kind angepassten Modalitäten. Anhand der Anamnese und der klinischen Untersuchung kann zwischen eher peripheren und zentralen Beeinträchtigungen unterschieden werden. Die Anamnese muss den Kliniker auf Risikofaktoren aufmerksam machen (Familiengeschichte, kongenitale CMV-Infektion ...). Eine ophthalmologische Untersuchung ist oft eine gute Ergänzung. Pädiatrisches Fachwissen und die Kenntnis häufiger Ätiologien sollten die Zahl der nicht bei tragenden Zusatzuntersuchungen, insbesondere der bildgebenden Verfahren, begrenzen oder im Gegenteil die notwendigen Untersuchungen rasch einleiten, um eine angemessene und schnelle Behandlung zu ermöglichen, wie sie bei der Nachsorge von Meningitis erforderlich ist. Es ist wichtig zu beachten, dass ein vestibulär bedingter Schwindel von einer Funktionsschwankung zeugt. Ein
Kind mit einer angeborenen bilateralen vestibulären Areflexie hat zwar keinen Schwindel, aber eine verzögerte psychomotorische Entwicklung und mögliche Lernschwierigkeiten, die mit Schwierigkeiten bei der räumlichen Darstellung zusammenhängen. Bei diesen Kindern ist eine psychomotorische Behandlung angezeigt. Das vestibuläre Implantat wird es in hoffentlich naher Zukunft ermöglichen, die fehlende Funktion bei diesen Kindern wiederherzustellen, ähnlich wie das Cochlea-Implantat (4).
Korrespondenzadresse: Dr. med. Hélène Cao Van Hôpitaux Universitaires de Genève Médecin adjointe Responsable de l’ORL pédiatrique et pédo-audiologie Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4 1205 Genève
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Referenzen: 1. Wiener-Vacher SR, Quarez J, Priol AL: Epidemiology of Vestibular Impairments in a Pediatric Population. Semin Hear. 2018 Aug;39(3):229-242. 2. Devaraja K: Vertigo in children; a narrative review of the various causes and their management. Int J Pediatr Otorhinolaryngol. 2018 Aug;111:32-38. 3. Dhondt C, Dhooge I, Maes L: Vestibular assessment in the pediatric population. The Laryngoscope, 2019;129: 490-493. 4. Perez Fornos A et al.: The vestibular implant: A probe in orbit around the human balance system. J Vestib Res. 2017;27(1):51-61. 5. van de Berg R et al.: Vestibular Migraine of Childhood and Recurrent Vertigo of Childhood: Diagnostic criteria Consensus document of the Committee for the Classification of Vestibular Disorders of the Bárány Society and the International Headache Society. J Vestib Res. 2021;31(1):1-9.
Zweite Top-5-Liste Pädiatrie
Service
pädiatrie schweiz hat zusammen mit der gemeinnützigen Organisation smarter medicine eine zweite Top-5-Liste publiziert. Darin sind fünf weitere diagnostische Untersuchungen in der Pädiatrie auf geführt, auf welche in der Regel verzichtet werden kann.
1. Kein Röntgenbild bei einer OSG-Distorsion mit niedrigem Risiko für eine relevante Fraktur Die Mehrheit der OSG-Distorsionen geht einher mit einer Verletzung der Weichteile oder mit Frakturen, die ohne spezifische Interventionen ausheilen und kein orthopädisches Follow-up benötigen.
2. Keine Borrelien-Serologie ohne klinischen Verdacht auf eine Lyme-Borreliose Zu den spezifischeren Symptomen einer Lyme-Borreliose gehören Erythema chronicum migrans, Hirnnervenparesen, eine Meningitis oder eine Karditis. Zu den unspezifischen Symptomen gehören Fieber, Müdigkeit und Myalgien. Liegen lediglich Letztere vor, besteht klinisch kein Verdacht auf eine Lyme-Borreliose.
3. Keine Routineuntersuchungen für Kinder, die nach einem einfachen Fieberkrampf ihren üblichen Bewusstseinszustand wiedererlangt haben Nach einem einfachen Fieberkrampf sind in der Regel weder eine stationäre Überwachung noch eine besondere Nachsorge erforderlich. Ergänzende Untersuchungen können durchgeführt werden, wenn die Umstände dies rechtfertigen.
4. Keine Bluttests bei Kindern mit akuter Tonsillopharyngitis Blutuntersuchungen sind für die Unterscheidung zwischen viraler und bakterieller Tonsillopharyngitis nicht hilfreich und somit für die initiale Diagnostik und den Entscheid für oder gegen eine antibiotische Behandlung nicht notwendig.
5. Keine routinemässigen Thorax-Röntgenbilder bei Kindern mit Bronchiolitis Die Diagnose der Bronchiolitis und die Beurteilung des Schweregrads basieren auf Anamnese und klinischer Untersuchung. Das Thorax-Röntgenbild trägt nicht zu einer Verbesserung der Behandlung bei.
Ausführliche Empfehlungen sowie die Literaturangaben finden sie unter www.smartermedicine.ch
smarter medicine/PS
Medienmitteilung von smarter medicine vom 30.01.2024
1/24 Pädiatrie
19