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lilli.ch: let’s talk about sex
Wissen Sie, was jugendliche Patienten beschäftigt im Zusammenhang mit der Sexualität? Wie viele von ihnen Gewalt erfahren? Welche psychischen Herausforderungen sie zu bewältigen haben? Und wie Sie als Mediziner den Betroffenen bei diesen Problemen helfen können? Auf der Website www.lilli.ch finden insbesondere Jugendliche ein umfangreiches Beratungsund Informationsangebot rund um die Sexualität, das auch von Eltern, Ärzten und anderen Fachpersonen genutzt werden kann.
Von Karoline Bischof
Seit 2001 führt die Website www.lilli.ch ein niederschwelliges, kostenloses und anonymes Online-Angebot mit dem Fokus auf Gewaltprävention, Beziehungsgestaltung, sexuelle Gesundheit, Verhütung, körperliche, familiäre und persönliche Probleme. Auf lilli.ch können Menschen aller Altersgruppen unentgeltlich und ohne Angabe einer E-Mail-Adresse Anliegen schildern und Fragen stellen, die von Fachleuten beantwortet werden. Zudem finden Interessierte über 500 Texte mit praktischen Tipps sowie viele nützliche Links (Abbildung 1). Lilli legt den Schwerpunkt ihres Angebots auf die Prävention von Gewalt und die Förderung sexueller Gesundheit. Das Kernziel ist es, die sexuelle und persönliche Selbstsicherheit zu stärken, damit Menschen mit sich selbst und mit anderen in guten, respektvollen Beziehungen stehen können. In der Schweiz gibt es kein anderes
Abbildung 1: Startseite von lilli.ch
Online-Angebot, das diesen Ansatz der Gewaltprävention mit völlig anonymer und kostenloser Online-Beratung verbindet. Zu Beginn war Lilli vor allem für Jugendliche eine wichtige Anlaufstelle. Heute besuchen sie Menschen aller Altersgruppen und für viele ist sie seit Jahren eine Begleiterin. Zur Zielgruppe gehören auch Eltern, Mediziner und weitere Fachpersonen. Die Inhalte, Beratungs- und Informationstexte werden von Fachärzten, Psycho- und Sexualtherapeuten auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse verfasst. Auch Kinderärzte können sich hier zu Themen aus der Gewaltprävention und der Sexualität weiterbilden, im Fundus der Fragen stöbern und das Angebot als Nachschlagewerk nutzen.
Wie wird bei Lilli beraten?
Zu den Fragen, die bei Lilli gestellt werden, gehören beispielsweise folgende (die Fragen wurden original ohne Korrekturen übernommen):
Frage 37380: «Hallo. Ich bin w und bald 14. Bald habe ich bei meinen Arzt der Kinder und Jugendgendenarzt ist ein Thermin für eine Untersuchung. Ich weiß nicht genau wie die heißt, aber ich weiß, dass sie eigentlich bei jeden Jugendlichen in meinen Alter durch geführt wird. Meine Frage ist was dort gemacht wird und was untersucht wird?» Frage 34132: «Hallo, Ich gehe zum ersten Mal zur Frauenärztin habe totale angst und ich weiss nicht wie ich Ihr von den sexuellen Übergriffen und den Vergewaltigungen erzählen kann.» Frage 23120: «Hallo ich bin 10 und ein Mädchen ich habe eine Frage undzwar würd ich gerne mal den orgasmus bekommen ich habe mich auch schon gefingert doch ich spüre nix kann es sein das ich noch zu jung bin das ich deshalb nix spüre?» Frage 31423: «Hallo liebes Lili Team. Ich (12/w) habe mich vor kurzem selbst befriedigt und habe danach im Internet gelesen, dass wenn man das mit 12 macht später keine Kinder bekommen kann. Stimmt das? Oder passiert das nur wenn man es zu oft mach?» Frage 35527: «Liebes Lilli Team, Ich w. 14 Jahre und mein Freund 15 Jahre alt wollen bald zusammen Peting machen und uns ausziehen und so. Sie müssen wissen das ich ein mensch mit sehr vielen und
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starken Haaren bin. Desswegen ist mein Intimbereich auch davon betroffen. Ich habe eigentlich gerade Haare aber da unten sind sie sehr gekräuselt. Ist das normal? Ich schäme mich deswegen sehr und habe angst das sich mein Freund darüber ekelt. Wie kann ich mein Intimbereich besser akzeptieren? Haben sie eine Idee wie ich es meinem Freund erklären kann? Danke für Ihre Antwort.» Frage 34005: «Hoi. Bin w, 13. Mach ich mich strafbar wenn ich meinem Freund (13) Nacktbilder schicke und umgekehrt? Lieber Gruss» Frage 32629: «hallo 11 jahre, ich darf meine oma an die möse fasen imer wen ich will. Sie fast nichts bei meinen Privaten bereichen an. Könnte sie ferhaftet werden?» Frage 34100: «Hallo, ich bin 13 Jahre alt und habe eine körperliche Behinderung. Man sieht es mir man, wenn ich laufe, da meine Beinmuskeln einwenig verkürzt sind. Ich würde gerne eine Freundin finden, aber habe das gefühl, dass man mich wegen meiner Behinderung eh nicht will. Was kann ich tun?» Frage 36729: «Hallo, ich bin 13 Jahre alt und werde im august 14, ich hatte eine Herztransplantation und muss Medikamente nehmen. Ich habe heute herausgefunden das eines meiner Medikamente die ich seit Jahren nehme die sperma Produktion bei mir reduziert oder sie auch stoppen kann. Was mir jetzt Angst macht ist das ich noch keinen Spermaerguss u.s.w hatte, die meisten der Jungs in meinem Alter hatten schon einen. Denkt ihr ich bekomme auch noch einen? Weil ich habe mehrmals versucht zu masturbieren und es kam immer nichts raus.»
Lillis Antworten finden Sie, wenn Sie die entsprechenden Fragenummern hier eingeben: https://www.lilli.ch/suche/1 oder per QR-Code:
Die Website erreicht eine grosse Zahl von Menschen. Häufig verzeichnet sie bis zu 10 000 Besucher pro Tag. So wurde lilli.ch 2022 gesamthaft 3 188 552 Mal aufgerufen. Das Jahressoll von 1200 persönlichen Beratungen wird regelmässig deutlich übertroffen – 2022 wurden 1531 Online-Beratungen durchgeführt. Im Zusammenhang mit der Sexualität interessieren sich Mädchen, wie der Besuch von Infotexten zeigt, vor allem für die Verhütung und den Orgasmus. Jungen sind sehr mit Fragen rund um Penisgrösse und -funktion beschäftigt (Tabelle). Die Zugänglichkeit wurde im Laufe der Jahre verbessert, damit Ratsuchende unabhängig von ihren persönlichen Voraussetzungen das Angebot nutzen können. Als Informationsmaterialien dienen Grafiken, Illustrationen, Filme und andere Multimediabeiträge. Für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen gibt es zudem einen Bereich in leichter Sprache und für Menschen mit Migrationshintergrund ein englischsprachiges Angebot. Auch die Online-Beratungen werden auf Deutsch, auf Englisch und in leichter Sprache durchgeführt. Trotz vollständiger Anonymität sind sie sehr persönlich. Bei den
Abbildung 2: Top Ten der Fragenthemen
Fragen handelt es sich oft um ausführliche Schilderungen von vielschichtigen Problemen. Fast 10 Prozent der Ratsuchenden schreiben mehr als einmal – jeweils Bezug nehmend auf die Nummer der vorherigen Anfrage. So können trotz der Anonymität vertiefte Beratungen über längere Zeit stattfinden. Wegen ihrer grossen Reichweite und ihrer vielfältigen Vernetzung ist lilli.ch zudem gut dazu geeignet, auf andere Angebote aufmerksam zu machen und Ratsuchende zu ermutigen, fachliche und ärztliche Unterstützung aufzusuchen.
Was beschäftigt die Jugendlichen?
In knapp einem Drittel der Anfragen von Jugendlichen geht es um Verhütung und Safer Sex, in einem weiteren Viertel um sexuelle Anliegen. Die restlichen Beratungen drehen sich um Beziehungsanliegen, Gewalterfahrungen und Probleme mit sich selbst. Die Analyse der Anfragen (Abbildung 2) zeigt, dass Angst
Tabelle:
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Nützliche Links: SEXUELLE GESUNDHEIT SCHWEIZ
www.rosenfluh.ch/qr/sexuelle-gesundheit-schweiz-2
Jugendplattform feel-ok.ch
www.rosenfluh.ch/qr/jugendplattform-feel-ok-2
Korrespondenzadresse: Dr. med. Karoline Bischof FMH Frauenheilkunde Klinische Sexologin ISI Zürcher Institut für klinische Sexologie und Sexualtherapie ZISS Minervastrasse 99 8032 Zürich E-Mail: karoline.bischof@ziss.ch Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen. Sie ist ehrenamtlich im Vorstand des Vereins Lilli tätig und sporadisch an der Verfassung von Informationstexten beteiligt. Abbildungen: Alle Abbildungen und Tabellen wurden von der Autorin bzw. lilli.ch zur Verfügung gestellt.
darin einen wichtigen Platz einnimmt – sei es Angst vor Schwangerschaft oder Infektionen, seien es diffuse Ängste bis hin zu Panik. Häufig sind auch Probleme mit Selbstwertgefühl, Selbstsicherheit und Selbstbehauptung. In fast jeder zehnten Frage werden psychische Probleme angesprochen. Verhältnismässig oft geht es auch um Gewalt. Die Häufigkeit von Themen wie Verhütung, Sexualität und Safer Sex ist für die pädiatrische Praxis sehr relevant, denn Mythen und Falschinformationen darüber sind weit verbreitet, und die Jugendlichen trauen sich nicht unbedingt spontan, ihre Fragen dazu bei Vorsorgeuntersuchungen zu äussern. Insbesondere den jüngeren Jugendlichen wird ein entsprechendes Interesse oft noch gar nicht zugetraut. Gewalterfahrungen werden häufig verschwiegen und erfordern vielleicht ein aktives Ansprechen von ärztlicher Seite.
Aktuelle praxisrelevante Projekte auf lilli.ch
Lilli wird laufend durch spezifische Projekte zu bestimmten Themenfeldern mit neuen Informationstexten erweitert. Es lohnt sich daher, die Seite periodisch aufzusuchen. Zugrunde liegen unter anderem Umfragen, die das Erleben zu verschiedensten Fragen sondieren und damit Trends unter den Jugendlichen aufzeigen, z. B. über Schmerzen beim Sex, Drogengebrauch, die Anwendung von Verhütung oder Gewalterfahrungen. Im Projekt «Sexuelle Gesundheit 21–23» erhalten Menschen mit sexuellen, körperlichen und psychischen Problemen Unterstützung. Die Themen des Projekts spiegeln häufige Anliegen zur Sexualität in der Online-Beratung, der ärztlichen Praxis und der psychologischen Beratung. Im Zentrum stehen Aufklärung, Entmystifizierung und Enttabuisierung der Sexualität sowie Sensibilisierung, Prävention, Empowerment und konkrete Hilfe zur Selbsthilfe. Neuere Beratungstexte behandeln zum Beispiel Schamgefühle bei nicht normschönen Körpern aufgrund von Behinderungen, Unfällen und Krankheiten. Für Grundversorger von Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen besonders relevant und nachlesenswert sind Texte über das Überwinden sexueller Probleme im Kontext von Erkrankungen und
medizinischen Behandlungen. Alle bestehenden Inhalte werden überdies so umgestaltet, dass sie dem diskriminierenden Vorurteil «nur gesunde Menschen leben Sexualität» entgegenwirken. Es sei auch das Projekt Gewalt in der Familie erwähnt, da dies verborgen oder auch sichtbar viele Patienten in der pädiatrischen Praxis betrifft. Im Zentrum stehen insbesondere subtile Aspekte der Gewalt wie Manipulation und versteckte Aggression. Das Projekt spricht alle Generationen an. Es klärt auf über Formen der Gewalt, Loyalitätskonflikte und die Liebe zu gewalttätigen elterlichen Bezugspersonen. Wichtig ist die niederschwellige, anonyme und kostenlose Online-Beratung und die Abgabe von konkreten Handlungstipps bezüglich der Ablösung aus Gewaltsystemen und der Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und Beziehungsverhaltens gegenüber Eltern, Partnern, Kindern und weiteren Familienangehörigen.
Relevanz von lilli.ch für die pädiatrische Praxis
Es kann heute wohl davon ausgegangen werden, dass ein Grossteil der Kinderärzte schon von Lilli gehört hat und diese Seite auch weiterempfiehlt. Zusammenfassend sei hier angeregt, selbst gelegentlich die Seite zu besuchen. Obwohl die Fragen und Umfragen auf Lilli nicht den Anspruch erheben, repräsentativ zu sein, so spiegeln sie doch das Erleben, die Nöte und die Sorgen einer grossen Anzahl Jugendlicher und somit auch der kinderärztlichen Patienten. Es erscheint sinnvoll, sich darüber periodisch ein Bild zu machen. Insbesondere die vielen medizinischen Fragestellungen zur Pubertät, Fertilität, Safer Sex und dem Körperbild sind pädiatrisch hochrelevant. Auch für psychische Probleme und Gewalterlebnisse sind Kinderärzte Ansprechpartner. Daneben wäre es wünschenswert, dass Sexualität in der Arztpraxis thematisiert werden könnte, einschliesslich bei jüngeren Altersstufen und gegenüber Eltern. Die eigene Beratungskompetenz kann durch Infotexte auf lilli.ch gefördert werden, insbesondere durch die Rubriken «Sexualität: Facts und Tipps» sowie «Sex-Probleme und Lösungen». Falls eine Überweisung zu Spezialisten indiziert ist, sei noch auf die sehr umfassende Seite «Adressen & Links» hingewiesen.
Hintergründe zu Lilli
Lilli entstand auf Initiative der frauenberatung:sexuelle Gewalt – damals noch Nottelefon Zürich – im Auftrag der Stadt Zürich. Das Ziel war, anonyme Fragen jugendlicher Frauen zu Date Rape zu beantworten. 2004 wurde das Projekt Lilli in eine eigene Trägerschaft überführt, den unabhängigen, steuerbefreiten Verein Lilli für Prävention und Online-Beratung junger Frauen und Männer zu Sexualität und sexueller Gewalt. Mittlerweile ist dieses Angebot der Gewaltprävention und Förderung sexueller Gesundheit aus der schweizerischen Beratungslandschaft nicht mehr wegzudenken. Lilli ist in der Fachwelt sehr gut vernetzt: «Sexuelle Gesundheit Schweiz» hat das Fragefenster auf ihrem Online-Portal integriert. Auf der Jugendplattform feel-ok.ch hat Lilli die Rolle der Spezialistin für sexuelle Gewalt. Lilli ist Mitglied der Allianz für Sexualaufklärung in der Schweiz. Wo immer möglich, werden Synergien mit anderen Fachstellen und Fachleuten genutzt.
Das Budget zum Betreiben von Lilli besteht vor allem aus Personalkosten. Die Infrastruktur kostet dank des virtuellen Betriebs sehr wenig. Drei fest angestellte Mitarbeiter erfüllen zusammen weniger als ein 100-Prozent-Pensum. Dazu kommen rund zwanzig feste oder freie Fachberater, die Lilli bei verschiedenen Projekten zur Verbesserung des Angebots unterstützen und die ihre Arbeit zum Teil ehrenamtlich leisten. Dank dieser flexiblen Unterstützung können die Kosten für eine Beratungsstelle dieser Grösse äusserst niedrig gehalten werden.Lilli finanziert sich als unabhängiger Verein vollumfänglich durch Spenden. Zur Fortführung des unentgeltlichen, werbefreien und unabhängigen Online-Angebots ist sie daher jedes Jahr erneut auf die Grosszügigkeit von Stiftungen, Kantonen, Gemeinden, Kirchgemeinden und Privatpersonen angewiesen. Dies stellt eine grosse Herausforderung dar und Lilli ist für jede Spende dankbar.
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