Transkript
Schwerpunkt
Auditive Rehabilitation
Indikation und Funktionsweise technischer Hörhilfen
Für die meisten permanenten Hörstörungen bei Kindern und Jugendlichen stehen heute auditive Rehabilitationsmöglichkeiten zur Verfügung. Die in diesem Beitrag vorgestellten technischen Hörhilfen führen in der Regel zu einer messbaren audiologischen Verbesserung. Das soziale Umfeld sowie audiopädagogische und logopädische Massnahmen sind jedoch ebenso wichtig, denn sie fördern das Verstehen.
Von Christof Stieger
Schwerhörigkeit betrifft auch Kinder. Gemäss dem letzten Bericht der World Health Organisation (WHO) sind bei Geburt 0,2 Prozent der Menschen betroffen. Die Prävalenz erhöht sich mit zunehmendem Alter und verzehnfacht sich fast bis zum Jugendlichenalter (15–19 Jahre) auf 1,9 Prozent (1). Ebenso wie bei den Erwachsenen stehen je nach Ursache und Schweregrad der Hörbeeinträchtigung unterschiedliche Hörsysteme zur Verfügung. In der Abbildung sind alle vier Wirkprinzipien von aktuellen apparativen Hörhilfen dargestellt. Explizit ausgeschlossen sind dabei rein operative Rehabilitationsmöglichkeiten zur Behandlung von akuten Hörstörungen wie Paukenröhrchen oder Parazentesen.
Konventionelle Hörgeräte werden bei Kindern am häufigsten verwendet.
Audioprozessor (AudP) bei allen Hörhilfen erforderlich
Allen Hörhilfen gemeinsam ist der Audioprozessor (AudP). Dieser beinhaltet mindestens ein Mikrofon, einen Verstärker und eine Signalverarbeitungseinheit. Heutige Audioprozessoren sind leistungsstarke Echtzeitcomputer, die individuell an die vorliegende Hörstörung angepasst werden. Sie berechnen zu jedem einkommenden Mikrofonsignal wie Sprache, Lärm oder Musik die benötigte Verstärkung. Bei Kindern werden in der Regel nur die notwendigsten Verstärkungsverfahren eingesetzt, um die auditive Plastizität des Gehirns möglichst zu fördern. Die berechneten Signale werden an eines der vier Wirkprinzipen gesendet.
Hörgeräte (HG)
Das Wirkprinzip bei konventionellen Hörgeräten beruht auf einem Lautsprecher, welcher verstärkten Schall in den Gehörgang appliziert. Dabei gibt es verschiedene Bauformen. Bei Kindern werden in der Regel sogenannte Hinter-dem-Ohr-Hörgeräte (HdO) verwendet, bei wel-
chen sich der Soundprozessor hinter dem Ohr befindet. Dies hat den wesentlichen Vorteil, dass beim wachsenden Gehörgang nur das Ohrpassstück erneuert werden muss. Bei den kleineren Hörgeräten im Gehörgang wäre der Aufwand sehr viel grösser. Ein angenehmer Nebeneffekt der grösseren HdO ist das vereinfachte Suchen und Finden von verlorenen oder nicht selten versteckten Hörgeräten, z. B. im Kinderzimmer. Hauptsächlich werden konventionelle Hörgeräte bei Pathologien der Cochlea (Schallempfindungsschwerhörigkeit) eingesetzt. Der Indikationsbereich erstreckt sich aber auch auf Schallleitungsschwerhörigkeiten, sofern der Gehörgang vorhanden ist, oder auf retrocochleäre Hörstörungen. Durch den weiten Indikationsbereich und die nicht invasive Anwendung ist das konventionelle Hörgerät mit 956 Stück in den Jahren 2017–2019 das mit Abstand am meisten verwendete Hörsystem bei Kindern. Diese Anzahl entspricht rund 2 Prozent aller kassenfinanzierten konventionellen Hörgeräte in der Schweiz (2).
Knochenleitende Hörsysteme (BAHS)
Bei den knochenverankerten Hörsystemen wird die vom Soundprozessor berechnete Verstärkung mittels Vibration durch den Schädelknochen zum Innenohr geleitet. Der Vibrator wird hinter der Ohrmuschel oder in seltenen Fällen auf der Stirn platziert. Bei Kleinkindern wird der Vibrator in der Regel mittels eines Stirnbandes oder eines Klebeadapters fixiert. Ab dem Schulalter wird oft zu einem perkutanen oder subkutanen Implantat gewechselt, welches die direkte und somit effizientere Vibration des Knochens ermöglicht. Dazu ist ein chirurgischer Eingriff notwendig. Ein externer Soundprozesser bleibt in allen Fällen vorhanden. Knochenleitende Hörsysteme sind indiziert, wenn die Schallleitung beeinträchtigt ist, wie z. B. bei einer Gehörgangsatresie. Die Knochenleitung funktioniert auch bei einer zusätzlichen leicht bis mittelgradigen Schallempfindungsschwerhörigkeit. Bei einer einseitigen Taubheit können knochenleitende Hörsysteme auch im Sinne einer Contralateral-Routing-of-Signals-Versorgung (CROS-Ver-
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sorgung) verwendet werden, da die Vibration durch den Knochen einen zusätzlichen akustischen Input auf das gesunde Ohr ermöglicht.
Aktive Mittelohrimplantate (AMEI)
Die aktiven Mittelohrimplantate stimulieren direkt die Cochlea über die Ossikelkette oder das runde Fenster. Je nach Ankopplung sind sie für reine Schallempfindungsoder kombinierte Hörstörungen indiziert. Sie werden typischerweise erst als Folgeversorgung nach einer nicht invasiven Methode (HG oder BAHS) diskutiert. Somit sind aktive Mittelohrimplantate trotz guter audiologischer Ergebnisse bei allen Altersgruppen die am wenigsten verwendeten Hörsysteme.
Cochlea-Implantate (CI)
Beim CI wird der Hörnerv direkt elektrisch stimuliert. Dazu muss ein Elektrodenstrang mit bis zu 22 Elektroden in die Cochlea eingelegt werden. Akustisch gesehen ist die Cochlea ähnlich wie ein Klavier aufgebaut. Jede Tonhöhe (Frequenz) hat einen bestimmten Ort. Eine elektrische Stimulation von der Basis der Cochlea (siehe Abbildung, hellblauer Pfeil) führt zur Wahrnehmung eines hohen Tons. Mit zunehmendem Abstand zur Basis werden elektrische Stimulationen tiefer wahrgenommen (dunkelblauer Pfeil). Beim gesunden Ohr wird der Hörnerv über einen mechano-elektrischen Prozess der Haarzellen stimuliert. Wenn die Haarzellen weitgehend fehlen, liegt eine an Taubheit grenzende Schallempfindungsschwerhörigkeit vor. In solchen Fällen kann das CI als einziges Hörsystem den Hörnerv stimulieren. Ein solches Implantat mit nur wenigen Elektroden kann aber nicht das natürliche Hören mit Tausenden von Haarzellen komplett ersetzen. Dennoch sind die klinischen Resultate und epidemiologischen Daten äusserst überzeugend. So war vor dem Cochlea-Implantat eine Integration in Schule und Beruf bei kongenitaler, an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit praktisch ausgeschlossen. Schaut man sich die Homepage der jungen Selbsthilfe der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft «Deaf Ohr Alive» an, zeigt sich eindrücklich, wie Kinder und Jugendliche mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit heute selbstständig ihren Weg in der hörenden Welt beschreiten können. Dabei bezeichnen sie sich richtigerweise als «Andershörende» und nicht als «Normalhörende». In den Anfangsjahren (1990–2005) wurden die meisten Kinder im Alter zwischen 3 und 12 implantiert (3). Bei prälingualer Schwerhörigkeit hat sich jedoch gezeigt, dass eine möglichst frühe Implantation einer der wichtigsten Faktoren für die erfolgreiche Sprachentwicklung ist. So wird bei idealen Voraussetzungen die Einlage eines CI vor dem Erreichen des ersten Lebensjahrs angestrebt (4).
Abbildung: Übersicht der technischen Hörhilfen. (Quelle: Christof Stieger) Alle Systeme benötigen einen Audioprozessor (AudP).
HG: Hörgerät produziert Schall. BAHS: Knochenleitende Hörsysteme produzieren eine Vibration des Knochens. AMEI: Aktive Mittelohrimplantate erhöhen die Vibration im Mittelohr oder im runden Fenster, CI: Cochlea Implantate stimulieren den Hörnerv elektrisch. Ein schwarzer Rahmen kennzeichnet eine nicht invasive Hörhilfe, bei rotem Rahmen ist ein chirurgischer Eingriff nötig. Die Rahmendicke symbolisiert die relativen Fallzahlen. Pathologie der Schallleitung (SL): orange, Pathologie der Schallempfindung (SE): pink.
für eine erfolgreiche Hörversorgung. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die audiopädagogische, logopädische Förderung in den Schulen sowie das familiäre Umfeld. Erfreulicherweise können mithilfe der Hörversorgung viele Kinder und Jugendliche die Regelschule und eine reguläre Berufsausbildung oder ein Studium erfolgreich absolvieren. Dennoch sind spezialisierte Institutionen für Schule und Berufsbildung in vielen Fällen eine echte Alternative zur Förderung hörbehinderter Kinder und Jugendlicher.
Korrespondenzadresse: PD Dr. ès sc. Christof Stieger Leiter Audiologie Vorsitzender Arbeitsgruppe Cochlea-Implantate der Schweiz HNO Klinik Universitätsspital Basel 4031 Basel E-Mail: Christof.stieger@usb.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Fazit
Für die meisten permanenten Hörstörungen steht eine auditive Rehabilitationsmöglichkeit zur Verfügung. Dies führt in der Regel zu einer messbaren audiologischen Verbesserung der Hörsituation in allen Altersstufen. Somit könnte man leicht dem Gedanken verfallen, dass sämtliche Hörprobleme gelöst und die Kinder und Jugendlichen problemlos integriert sind. Die technischen Hörhilfen bieten sicher die audiologischen Grundlagen
Literatur: 1. Chadha S et al.: The world report on hearing, 2021. Bull World Health Organ. 2021;99(4):242-242A. 2. Braun-Dubler N et al.: Beiträge zur sozialen Sicherheit. Anhang zu Forschungsbericht Nr. 15/20. Analyse der Preise und der Qualität in der Hörgeräteversorgung. Anhang 1: Qualität der Hörgeräteversorgung; 2020. 3. Schweizerisches Cochlea-Implantat-Register, öffentlicher Zwischenbericht per 31.12.2021. 4. Cottrell J et al.: Cochlear Implantation in Children Under 9 Months of Age: Safety and Efficacy. Otol Neurotol. 2024;45(2):121-127.
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