Transkript
Schwerpunkt
Verdächtige Wunden
Wann muss man an Kindesmisshandlung denken?
Die WHO sieht Fachleute des Gesundheitswesens besonders in der Pflicht, von Misshandlung betroffene Kinder und Jugendliche zu diagnostizieren und ihren Schutz sowie eine geeignete Therapie durch multiprofessionelle Kooperation zu sichern. Dieser Artikel soll einen Überblick geben und, vor allem anderen, für die grosse Relevanz dieses Themas sensibilisieren.
Von Tina Baumgartner und Annette Schneider
Im Jahr 2002 wurde das Thema der Kindesmisshandlung von der WHO als gesundheitspolitisch relevantes Thema auf die Agenda genommen. Die WHO benennt hierbei den Zusammenhang zwischen zahlreichen chronischen Leiden im Erwachsenenalter und Misshandlungen in der Kindheit. Neurologische Forschungen zeigen, dass chronische Misshandlungen die kognitiven und emotionsregulierenden Funktionen bleibend beeinträchtigen, Veränderungen im EEG auslösen und zu messbaren Verringerungen des Hirnvolumens führen können. Neben den körperlichen Verletzungen, welche in der Regel behandelbar sind, gehen erhebliche seelische Leiden einher. Hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit sind betroffene Kinder und Jugendliche mit einer ungünstigen Prognose verknüpft. Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung sind deshalb sowohl epidemiologisch bedeutsam als auch ein gesellschaftlich äussert relevantes Thema. Gerade auf Notfallstationen, wo ein hohes Patientenaufkommen und eine jeweils kurze Verweildauer der Patienten unter hohem Zeitdruck vorliegt, ist es eine Herausforderung, Zeichen von Kindesmisshandlung nicht zu übersehen. Auch in Kinderarztpraxen, wo sich die Patienten eventuell nur selten vorstellen beziehungsweise häufig den Kinderarzt wechseln, ist dies der Fall. Im oft hektischen Alltag des Gesundheitswesens sich Zeit zu nehmen, um aufmerksam auf die Details zu achten und einem Anfangsverdacht professionell nachzugehen, erfordert primär auch ein Bewusstsein für dieses bedeutsame Thema. Da in diesem Artikel lediglich ein Überblick gegeben werden soll, werden auf Details und ein ausführliches Literaturverzeichnis verzichtet. Der Artikel lehnt sich an Inhalte aus dem Leitfaden der Stiftung Kinderschutz Schweiz von Ulrich Lips, Markus Wopmann, Andreas Jud und Roxanne Falta (1) sowie an die 2. Auflage des Buches «Kindesmisshandlung» von Bernd Herrmann, Reinhard B. Dettmeyer, Sibylle Banaschak und Ute Thyen (2) an.
Definition von Kindesmisshandlung
Kindesmisshandlung ist die nicht zufällige, bewusste oder unbewusste körperliche und/oder seelische Schädigung (durch aktives Handeln oder durch Unterlassung) durch
Personen (Eltern, andere Erziehungsberechtigte, Dritte), Institutionen und gesellschaftliche Strukturen, die zu Entwicklungshemmungen, Verletzungen oder zum Tode führt, eingeschlossen die Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse.
Formen von Kindesmisshandlung
Meist findet sich in der medizinischen Fachwelt eine Unterteilung in 5 Formen: • körperliche Misshandlung • sexuelle Ausbeutung (Synonyme: sexuelle Gewalt, se-
xuelle Übergriffe, sexueller Missbrauch) • psychische Misshandlung • Vernachlässigung • Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom (Münchhausen
by proxy).
Im Folgenden wird auf die körperliche Kindesmisshandlung und die entsprechenden verdächtigen Symptome näher eingegangen.
Körperliche Misshandlung
Ausgangspunkt des Verdachts auf Misshandlung sind häufig körperliche Befunde. Eine fachgerechte und wissenschaftlich abgesicherte Befunderhebung, Interpretation, Diagnose und Differenzialdiagnose sind elementare Voraussetzungen, um aus einem körperlichen Befund die Diagnose einer Kindesmisshandlung abzuleiten. Am häufigsten finden sich bei körperlicher Kindesmisshandlung stumpfe Gewalteinwirkungen. Typische Beibringungsarten sind unter anderem Ziehen am Ohr und an den Haaren, Schläge auf den Kopf, Kneifen, kräftiges Zupacken, Schläge mit der flachen Hand und/oder der Faust, Stockschläge oder Schläge mit anderen Gegenständen, Fusstritte, fallen lassen und gegen eine Wand werfen (Tabelle). Alle diese Beibringungsarten können zu lokalen Verletzungen in Form von Hämatomen, Hautabschürfungen bis hin zu knöchernen Verletzungen führen. Misshandlungsbedingte knöcherne Verletzungen betreffen in der Mehrzahl jüngere Kinder unter 3 Jahren. Das Brechen kindlicher Knochen erfordert eine massive Gewalteinwirkung, da diese noch biegsam sind.
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Hautbefunde
Als grösstes Organ ist die Haut bei fast 90 Prozent der misshandelten Kinder betroffen. Kontusionen und Abrasionen als Folge von stumpfer Gewalt, Risswunden, Verbrennungen sowie Verbrühungen, Quetschungen und Stiche hinterlassen sichtbare Spuren. Die Kombination von verschieden alten Verletzungen (bei anamnestisch nur einem Trauma) weist auf die Mehrzeitigkeit von Traumatisierungen hin. Für die Beurteilung von Hautbefunden als Indikatoren einer Misshandlung spielen das Verteilungsmuster, der Ort, das Erscheinungsbild, die Art und, mit Einschränkungen, die zeitliche Zuordnung (Mehrzeitigkeit) eine wichtige Rolle. Cave bei Ungereimtheiten in der Anamnese: Wichtigstes Kriterium ist die Plausibilität der Verletzung. Ungereimtheiten wie die folgenden sollten aufhorchen lassen: • Es werden unwahrscheinliche, nicht zum Verletzungs-
muster passende anamnestische Angaben gemacht; • dieselbe Person erklärt die Entstehung der Verletzun-
gen zu verschiedenen Zeitpunkten abweichend;
• verschiedene, angeblich beim Unfall anwesende Personen, geben abweichende Schilderungen an;
• gemessen am Entwicklungsstand des Kindes nicht plausibler Unfallmechanismus;
• Arztbesuch deutlich verzögert; • Behauptung, das Kind habe sich die Verletzung selber
zugefügt; • Behauptung, die Verletzungen seien vom Geschwister-
kind zugefügt worden; • wiederholte stationäre Klinikaufenthalte wegen Ver-
letzungen oder unspezifischen Störungen. Die eindeutige Beurteilung eines Falles kann sich schwierig gestalten. Oftmals ist es leichter, eine angegebene Version auszuschliessen, als eine sichere Antwort darauf zu finden, wie die Verletzung entstanden ist. Spuren: Spuren, die einem Gegenstand oder Körperteil zugeordnet werden können, sind praktisch beweisend für Misshandlung, zum Beispiel Gürtelschnalle, Stock (= lineare Doppelkontur), Draht oder Seil (= Schleife), Kleiderbügel, Hand/Finger, Bissspuren. Verbrühungen: Misshandlungsbedingte Verbrühungen sind in der Regel scharf abgegrenzt und vor allem an
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Tabelle:
Stumpfe Gewalteinwirkungen und ihre Folgen
Gewalteinwirkung am Ohr ziehen an den Haaren ziehen Schläge auf den Kopf Beissen kräftiges Zupacken, Greifen Kneifen Fesselung gewaltsames Füttern Schläge mit der flachen Hand Schläge mit der Faust Schläge mit den Fingerknöcheln Schläge mit einem Stock oder Ähnlichem Schläge mit Schnüren, Seilen, Kabeln Schläge mit anderen Gegen- ständen (Gürtel, Kleiderbügel, Stuhlbeine usw.) Fusstritte Fallen lassen, Kind gegen eine Fläche (Wand) oder einen Gegenstand werfen oder schleudern
Mögliche Verletzungen Einrisse der Ohrläppchen Haarausrisse, kahle Stellen (Alopezie), Kopfhautverletzungen Hämatome, Platzwunden, Narben Zahnabdruckkonturen, ovale oder halbmondförmige Hämatome (Quetschverletzung) Griffspuren: Hämatome von 0,5 bis 2,5 cm Grösse an den Armen oder seitlich am Brustkorb, evtl. gruppiert angeordnet, Daumen an der gegenüberliegenden Seite uncharakteristische Hämatome, evtl. Hautabschürfungen durch Fingernägel zirkuläre Hautrötungen (Ligaturen), Hautabschürfungen oder Hämatome an den Gelenken Verletzungen von Lippen, Lippeninnenseiten, Gingiva, Lippen- oder Zungenbändchen, Zähnen oder Mundschleimhaut durch Einstossen des Löffels oder der Flasche geformte Hämatome der Wange: Finger können zu charakteristischen Doppelstriemen führen, Ringe können zu zusätzlicher Formung führen; retroaurikuläre Hämatome, Trommelfellrupturen Monokelhämatome, Augenverletzungen, Hämatome der Mundschleimhäute (Lippe innen, knöcherner Kiefer als Widerlager), Zahnfrakturen, Organkontusionen oder -einrisse im Bauchraum ohne äussere Verletzungszeichen rundliche, nebeneinander liegende Hämatome Doppelstriemenmuster: parallel angeordnete, feinstreifige Hämatome mit zentrale Abblassung
schlaufenförmige, längsovaläre Abdrücke
flächenhafte, geformte Hämatome, die den Gegenstand abbilden; alle Lokalisationen möglich, typisch im Gesicht, am Gesäss, am Rücken oder als Parierverletzungen der Unterarme
Profilabdrücke bei beschuhten Füssen, Cave: Bauchtritte können ohne äussere Verletzungszeichen zu schweren Verletzungen führen (s. Faustschläge) flächenhafte Hämatome besonders über prominenten Knochenabschnitten (z. B. Schulterblatt, Wirbelkörperdornfortsätze, Beckenkamm), Schädelbrüche usw., vom Verletzungsmuster unter Umständen schwer von akzidentellem Trauma zu unterscheiden
mod. aus (2)
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Abbildung: Lokalisation akzidenteller Hämatome (blau) üblicherweise über Knochenvorsprüngen und prominenten Stellen, misshandlungsverdächtige Hämatome (rot) (nach 4, 5).
Händen, Füssen und im Anogenitalbereich zu finden. Typischerweise sind die erzählten Unfallverläufe nicht vereinbar mit dem Entwicklungsstand des Kindes. Oft wird ein Arzt verzögert aufgesucht, eine Schmerzbehandlung erfolgte anamnestisch auch nicht. Bei einem solchen Verhalten der Angehörigen gilt es genau zu dokumentieren, was berichtet wurde, auch wenn die Wunde möglicherweise primär nicht auf eine Misshandlung hindeutet. Verbrennungen: Kinder, die unfallbedingt Kontakt mit Feuer hatten, kannten die Gefahr nicht. Klassische Unfälle geschehen durch die heisse Herdplatte, die heisse Backofentür usw. oder aber, weil die Kinder stolpern oder stürzen und sich so an heissen Gegenständen verletzen. Der Unfallhergang muss auch hier nachvollziehbar sein und zu den Läsionen passen. Eine Verbrennung an Zigarette, Bügeleisen oder Grill ist misshandlungsverdächtig. Differenzialdiagnosen: Staphylococcal Scalded Skin Syndrome, Epidermolysis bullosa, fernöstliche Volksheilverfahren (Bestreichen der Haut mit heissem Löffel gegen Fieber: Cao Gio oder cupping).
Hämatome
Hämatome sind Weichteilblutungen in die Haut und in das Unterhautfettgewebe, manchmal bis zur Muskulatur. Die Farben der Hämatome ändern sich im Verlauf der Zeit: anfänglich von rot über blau-lila und braun-schwarz hin zu grün und am Ende meist gelb. Dieses Farbspektrum entsteht durch den Abbau der verschiedenen Blutbestandteile in der Einblutungsstelle. Blaue Flecken im Kindesalter sind je nach Lokalisation, Alter und Entwicklungsstand des Kindes physiologisch. Auch deren Anzahl variiert je nach Alter und Mobilität. An der Cardiff University wurden blaue Flecken bei gesunden Kindern im Vorschulalter in einer Langzeitstudie verfolgt (3). Bei Neugeborenen, welche sich noch nicht selbständig umdrehen, sind blaue Flecken sehr selten. Entstehen können sie durch Selbstverletzung mit einem Spielzeug oder mit der eigenen Faust. Durch die noch nicht ausgebildete Kopfkontrolle kommt es auch vor, dass sich Babys den Kopf am Gegenüber anstossen. Die Hämatomquote bei Säuglingen, die herumrollen, lag bei 9,8 Prozent. Die Ursachen waren Kippen, Stürzen oder Rollen gegen einen Gegenstand sowie sich selbst
Schlagen mit einem Gegenstand. 45,6 Prozent von den sich krabbelnd fortbewegenden Kindern hatten mindestens einen Bluterguss, insbesondere an der Stirn und der Nase sowie im Schienbeinbereich. Im Alter von 10 bis 70 Monaten lag die Quote bei 78,8 Prozent. Die Hauptlokalisation war an den Beinen unterhalb der Knie. Bei allen Kindern wurden an bestimmten Lokalisationen nur selten (< 1%) Hämatome gefunden, so an Ohren, Hals, Gesäss, Genitalien und Händen. Ebenfalls wichtig: Ein Leben als Geschwisterkind beeinflusst die Zahl der Hämatome (3). In der Abbildung sind die typischen Lokalisationen von akzidentiellen und misshandlungsverdächtigen Hämatomen zusammengefasst. Wenn die Hämatombildung bei Betroffenen deutlich ausgeprägt ist und auch an nicht physiologischen Lokalisationen vorliegt, kann die Ursache eine Gerinnungsstörung oder eine Gewalteinwirkung sein – in seltenen Fällen sogar beides. Deshalb ist es wichtig, dass ab Beginn der Behandlung immer an beide Möglichkeiten gedacht wird. Gerinnungsstörungen als Ursache der Hämatome: Schwere angeborene Gerinnungsstörungen zeigen sich bereits im Säuglingsalter. Leichte und mittelschwere Blutungen können sich erst später manifestieren, zum Beispiel beim Beginn des Gehens. Erworbene Blutungskrankheiten zeigen sich jedoch in jedem Alter! Wegweisend für die Gerinnungsabklärung ist die persönliche sowie die Familienanamnese bezüglich Blutungen. Scores, die mithilfe von Fragebögen ermittelt werden, können hilfreich sein (6). Auch die Medikamentenanamnese muss erhoben werden, da viele Medikamente, insbesondere fiebersenkende, das Gerinnungssystem beeinflussen können. Hautblutungen in Kombination mit Fieber können bei Kindern auf einen banalen viralen Infekt hinweisen, sie können aber auch ein Alarmsignal für eine drohende fulminant verlaufende bakterielle Sepsis sein. Ein schrittweises Vorgehen in der Diagnostik ist von Vorteil, da unnötiges Stechen, insbesondere bei unkooperativen Kindern, umgangen werden kann. Auch unnötige Analysen können dadurch vermieden werden. Das Blutbild und die Bestimmung von PZ, aPTT und Fibrinogen gelten als Screening-Diagnostik. Danach können je nach Befund die weiteren Schritte eingeleitet werden (vgl. [7]). In der Gerinnungsdiagnostik muss jeweils auch die Präanalytik beachtet werden. Gerade in der Pädiatrie gibt es im Praxisalltag oft Probleme aufgrund schwieriger Venenverhältnisse. Insbesondere ist darauf zu achten, dass die Analysemonovette gut gefüllt wird. Enthält sie zu wenig Blut, ist kein auswertbares Resultat möglich, da das Verhältnis zwischen Blut und Citrat genau eingehalten werden muss. Auch eine zu lange Transport- oder Lagerungsdauer des Analysematerials kann zu fehlerhaften Resultaten führen. Es gilt zu bedenken, dass einige Analysen von Gerinnungsfaktoren viel Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb muss je nach Dringlichkeit der Abklärung gut abgewogen werden, welche Analysen zu welchem Zeitpunkt tatsächlich notwendig sind. Frakturen Ein Kind kann sich erst eine Fraktur zuziehen, wenn es frei gehen gelernt hat. Werden Frakturen vor dem ersten Ge- 22 Pädiatrie 5+6/23 burtstag diagnostiziert, ist dies sehr verdächtig. Es gibt sogar einzelne Studien, die Frakturen vor dem 4. Lebensjahr als verdächtig einstufen und in diesem Fall eine genaue Hinterfragung anraten. Multiple Frakturen/unterschiedliches Alter der Frakturen: Nach Unfällen liegt in 80 Prozent der Fälle eine einzige Fraktur vor. Sollten Sie ein Kind mit mehreren Frakturen sehen, ist dies sehr verdächtig für eine Misshandlung. Handelt es sich gar um unterschiedlich alte Frakturen, sind diese ein starkes Argument für das Vorliegen einer (mehrzeitigen) Misshandlung. Rippen- und Röhrenknochen: Frakturen der Rippen und der langen Röhrenknochen sowie meta- und epiphysäre Frakturen bei Kleinkindern («corner fracture» bzw. «bucket handle fracture») gelten als hochverdächtig für eine Kindesmisshandlung. Schädelfrakturen: Schädelfrakturen weisen auf eine massive Gewalteinwirkung hin. Beim Vorliegen von Frakturen des knöchernen Schädels wird oftmals ein Sturz vom Wickeltisch oder ähnlichem als Erklärung ange geben. Bis zu einer Sturzhöhe von 100 bis 150 cm sind jedoch bei Säuglingen und Kleinkindern üblicherweise keine lebensgefährlichen Verletzungen zu erwarten. Bei Unfällen fanden sich in 80 Prozent der Fälle keine Verletzungen, in 1 Prozent der Fälle fand sich eine einfache lineare Schädelfaktur ohne intrakranielle Begleitverletzungen. Impressionsfrakturen bei Stürzen aus geringer Höhe können dann entstehen, wenn der Schädel zum Beispiel auf einen kleinen harten Gegenstand aufschlägt; die Beschaffenheit der Aufprallfläche muss mitberücksichtigt werden. Differenzialdiagnosen: Osteogenesis imperfecta, Osteopenie bei extremer Frühgeburtlichkeit (< 32 SSW) in den ersten Lebensmonaten, Osteopenie bei Inaktivität (gehunfähige, behinderte Kinder), Rachitis. Alle diese Zustände sind entweder anamnestisch und klinisch erfassbar (Frühgeburtlichkeit, Rachitis, Inaktivität) oder viel seltener als Kindesmisshandlung (Osteogenesis imperfecta). Dokumentation Manchmal kann es sein, dass Sie sich fragen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen sein kann, die Anzeichen aber zu wenig konkret sind, um daraus einen Anfangsverdacht entstehen zu lassen. Eventuell kommt dieses seltsame Gefühl auch erst später, wenn die Patientenfamilie schon wieder gegangen ist. Halten Sie diese Befunde und Gedanken in Ihrer Dokumentation fest, markieren Sie diese vielleicht in irgendeiner Form. Sollten bei diesem Patienten im Verlauf der Zeit weitere Ungereimtheiten auftreten, werden Ihnen diese Notizen helfen, ein meist komplexes Geschehen besser einordnen zu können. Was tun, wenn ein Anfangsverdacht besteht? Im Leitfaden der Kinderschutzstiftung Schweiz heisst es hierzu: «Wenn der Verdacht einmal aufgekommen ist, muss schon einiges passiert sein, denn wir alle haben die Tendenz, die Wahrnehmung von Kindsmisshandlung erst einmal zu verdrängen oder zu verharmlosen. Der Verdacht muss also ernst genommen und zugelassen, es muss gehandelt werden.» Das bedeutet: Tragen Sie frühere Dokumentationen zusammen, ordnen Sie die Gesamtsituation. Nehmen Sie Kontakt zu einer Fachgruppe auf, in der Schweiz sind diese flächendeckend anzutreffen. Die Beratung kann gegebenenfalls anfangs anonym erfolgen. Besprechen Sie gemeinsam mit der Fachgruppe das weitere Vorgehen: Nicht immer sind behördliche Wege notwendig, manchmal sind es Unterstützungsangebote, die fehlen; regelmässige Kontrollen sind angebracht oder Therapiewege können dargestellt werden. Eine Meldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Gefährdungsmeldung), wobei es hier manchmal sinnvoll sein kann, zum Beispiel den Namen des Kinderarztes aussen vor zu lassen, um ein Vertrauensverhältnis zu wahren. CAVE: Sollte jedoch eine Strafanzeige auch nur im Entferntesten im Bereich des Möglichen liegen, dürfen potenzielle Täterinnen und Täter nicht informiert werden! Dasselbe gilt für Personen, bei denen keine Gewähr besteht, dass sie gegenüber den Tatverdächtigen verschwiegen sind! Korrespondenzadresse: Tina Baumgartner Leitung Pflege Interdisziplinäre Notfallstation Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: tina.baumgartner@ukbb.ch Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen. Literatur: 1. Lips U, Wopmann M, Jud A, Falta R (Hrsg.): Kindsmisshandlung Kindesschutz – Leitfaden zu Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis. Stiftung Kinderschutz Schweiz 2022. https://www.kinderschutz.ch; Download unter https://www.rosenfluh. ch/qr/kindesschutz. 2. Herrmann B, Dettmeyer RB, Banaschak S, Thyen U: Kindesmisshandlung. 4. Auflage 2022;Springer Verlag, ISBN 978-3-662-62416-6. 3. Kemp AM et al.: Patterns of bruising in preschool children – a longitudinal study. Arch Dis Child. 2015;100(5):426-431. 4. Doutaz M, Spalinger J: Kindsmisshandlung – verpasse ich etwas? Schweiz Med Forum 2003; 20: 469–474. 5. Beutler D: Verdacht auf Kindesmisshandlung. PÄDIATRIE. 2012;3:49–53. 6. Tosetto A, Castaman G, Rodeghiero F: Assessing bleeding in von Willebrand disease with bleeding score. Blood Rev. 2007;21(2):89-97. 7. Kühne T, Schifferli A: Kompendium Kinderhämatologie. Springer-Verlag, 2016. Schwerpunkt 5+6/23 Pädiatrie 23