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Unguis incarnatus
Was tun, wenn der Zehennagel drückt?
Schwerpunkt
Ein eingewachsener Zehennagel ist eine oft belastende Situation für das betroffene Kind und seine Familie. Die Behandlung ist meist langwierig und nicht selten von Misserfolg geprägt. Deshalb ist es wichtig, das Krankheitsbild so früh wie möglich zu erkennen und adäquat zu behandeln. Kommt es trotz konsequentem Umsetzen konservativer Massnahmen zu einer exsudativen oder gar chronischen Form, ist die operative Sanierung indiziert.
Von Cécile Balmer
Der eingewachsene Zehennagel, medizinisch Onychocryptosis oder geläufiger Unguis incarnatus, ist mit einer Prävalenz von 2,5 bis 5 Prozent (1) auch bei pädiatrischen Patienten ein häufiger Konsultationsgrund in der Praxis. Es wird geschätzt, dass zirka 20 Prozent der den Fuss betreffenden Konsultationen einem Unguis incarnatus zuzuschreiben sind (2). Knaben sind fast doppelt so häufig betroffen wie Mädchen (3). Ein Unguis incarnatus ist meist bereits im frühen Stadium sehr schmerzhaft, und er schränkt das Kind im Alltagsleben beträchtlich ein.
Ursache
Die Symptomatik des Unguis incarnatus entsteht in der überwiegenden Anzahl der Fälle infolge einer chronischen Reizung des Nagelwalls durch einen Nagelsporn, was eine lokale Fremdkörperreaktion auslöst und zur Hypertrophie des lateralen Nagelwalls sowie zur Bildung von Hypergranulationsgewebe führt. Dieses stellt einen idealen Nährboden für eine sekundäre bakterielle Infektion dar. Zudem behindert das überschüssige Gewebe das korrekte Nagelwachstum, was wiederum die Reizung verstärkt. Ursache ist eine im Verhältnis zum Nagelbett zu breite Nagelplatte und/oder eine falsche Nagelpflege sowie mangelnde Hygiene. Der Nagel wird zu kurz oder zu rund geschnitten, zu enges Schuhwerk übt zusätzlichen Druck aus. Gelegentlich entsteht ein Unguis incarnatus auch posttraumatisch, vor allem nach wiederholten Traumata. Gehäuft zeigen sich hartnäckige Verläufe bei Immunsuppression (z. B. Patienten unter Chemotherapie oder mit Diabetes mellitus). Der laterale äussere Nagelwall ist doppelt so oft betroffen wie der mediale Nagelwall (1, 3) (Abbildung 1).
Stadien des Unguis incarnatus
Das Krankheitsbild kann neben einer akuten und einer chronischen Form nach Mozena grob in 3 Stadien eingeteilt werden (1, 3, 4): • Stadium I: milde Ausprägung, nicht exsudativ (Rötung,
Schwellung, Schmerzen) • Stadium II: mittelstarke Ausprägung, exsudativ, Hyper-
trophie des Nagelwalls, +/– Infektion
Abbildung 1: Aufbau des Nagels
IIa: Nagelwall < 3mm breit über Nagelplatte reichend IIb: Nagelwall > 3mm breit über Nagelplatte reichend • Stadium III: starke Ausprägung, chronische Entzün-
dung, Hypergranulationsgewebe.
Bestehen die Beschwerden kürzer als 12 Wochen, spricht man von einer akuten Form (Stadium I und II). Halten die Beschwerden länger als 12 Wochen an, spricht man von einem chronischen Unguis incarnatus (Stadium III); dasselbe gilt für das Rezidiv. Grundsätzlich kann man mit der Familie immer einen konservativen Therapieversuch besprechen; die Erfolgsquoten sind bei der chronischen Form (Stadium III) jedoch eher gering. An unserer Klinik versuchen wir in der Regel maximal 3 Monate eine konservative Therapie. Wenn ein Kind ab Stadium II bereits vorher eine operative Sanierung wünscht, bieten wir das an.
Konservative Therapie
Die Behandlung muss so lange durchgeführt werden, bis der Nagel über das Hyponychium herausgewachsen ist, was bis zu 12 Wochen dauern kann. Studien haben gezeigt, dass eine lokale oder orale antibiotische Therapie keine signifikante Verbesserung be-
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Abbildung 2: Taping des Nagelwalls, um diesen von der Nagelplatte zu lösen
täglich. Wir verwenden Prontosan® oder Octenisept®, da Betadine® die Nägel eher brüchig macht. • Schuhwerk: Das Kind soll keine zu engen und so oft wie möglich offene Schuhe tragen. Es soll die Socken täglich wechseln und atmungsaktives Material verwenden. • Taping: Durch Zug am Nagelwall vom Nagel weg, mit Hilfe eines Pflastertapes (z. B. Leukoplast®) wird der Nagelwall von der Nagelplatte abgehoben und der Nagel kann frei herauswachsen. So kann die Reizung und somit die Symptomatik rasch und deutlich gebessert werden. Das Verfahren ist einfach und nach kurzer Instruktion problemlos durch die Familie selbst durchführbar. Limitierende Faktoren sind starkes Schwitzen und schlecht klebendes Tape (Abbildung 2). • Einlage von Platzhaltern/Schienung: Verschiedene Autoren empfehlen das Einbringen von Wattestücken oder eines Plastiksplints zwischen Nagel und Nagelwall. Auch Nagelspangen (durch professionelle Podologen angebracht) können im Frühstadium zur Besserung führen. (1, 4).
Abbildung 3: Behandlung mit Silbernitratstiften
Stadium II und III (exsudatives Stadium): In diesem Stadium ist aufgrund der Sekretion (nicht selten eitrig) oft ein Verbinden des Zehs unumgänglich, insbesondere wenn sich Hypergranulationsgewebe gebildet hat. Dieses ist sehr sensibel, fängt rasch an zu bluten, und es stellt, wie bereits erwähnt, einen idealen Nährboden für Bakterien dar. Daher empfehlen wir die Applikation von desinfizierenden Gels/Salben (Octenisept® oder Prontosan®-Gel) und eines Verbands nach den Bädern. Vor Anlage des Verbands soll der Zwischenraum zwischen Nagelwall und Nagel stets so gut wie möglich gereinigt werden (z. B. mit Wattestäbchen oder einer Pinzette). Zusätzlich zu den oben erwähnten Therapieansätzen kann das Hypergranulationsgewebe mittels Silbernitratstiften verödet werden (Abbildung 3). Das Gewebe trocknet aus und kann schrittweise abgetragen werden. Wir veröden zu Beginn 1-mal pro Woche; je nach Resultat können die Intervalle im Verlauf verlängert werden. Ist das Hypergranulationsgewebe ausgetrocknet, kann erneut das Taping angewendet werden.
Abbildung 4: Material für die Nagelavulsion und Matrixektomie (mechanisch): Lochtuch, Faden monofil nicht resorbierbar, Spritze und Spülkanüle, Pinzetten chirurgisch, Klemmchen, spitze Schere, Fadenschere, Skalpell (11er-Klinge), feiner scharfer Löffel, Vessel-Loop, NaCl 0,9%, Nadelhalter, Kompressen, Desinfektionsmittel (Octenisept®, Octeniderm®, Prontosan® o. ä)
ziehungsweise Verkürzung der Therapie mit sich bringen. Daher wird auch bei Infektionszeichen eine lokale oder orale antibiotische Therapie nicht empfohlen (2, 4, 6, 9).
Stadium I (trockenes Stadium): • Hygiene/Desinfektion: desinfizierende Bäder (Beta-
dine®, Octenisept®, Prontosan®, Seife) 1- bis 2-mal
Operative Therapie Stadium II bis III
Ab dem exsudativen Stadium soll man eine operative Therapie in Betracht ziehen. Bei den chronischen Formen verläuft der konservative Therapieversuch oft frustran. Daher gilt ab Stadium III die operative Sanierung als Therapie der Wahl. Ziel ist es, die Breite der Nagelplatte zu reduzieren und die germinale Matrix seitlich zu zerstören, sodass der Nagel hier nicht mehr nachwächst. Die früher regulär durchgeführte Kocher-Keilexzision beziehungsweise Emmert-Plastik wurde mittlerweile durch weniger invasive Verfahren ersetzt, da diese eine geringere Rezidivrate und ästhetisch schönere Resultate ergeben (Rezidivraten bei Kocher-Keilexzision betragen bis zu 50% oder mehr [1, 3]). Die partielle Nagelavulsion mit Matrixektomie gilt heute als Goldstandard, zeigt aber weiterhin eine Rezidivrate von 5 bis 20 Prozent (2–4), abhängig von der Erfahrung des Operateurs. Die Matrixektomie, also die selektive Zerstörung der germinalen Matrix, kann rein mechanisch oder mit chemischen Agenzien erfolgen. Bei den chemischen Methoden hat sich seit
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Ablauf der partiellen Nagelavulsion und Matrixektomie (mechanisch)
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Abbildung 5: Lokalanästhesie mittels Oberst-Leitungsblock mit Lidocain 1–2%, Levo-/Bupivacain 0,25–0,5% bzw. Ropivacain 0,2% mit oder ohne Adrenalin; wir präferieren Bubivacain oder Ropivacain, da diese potenter sind und länger wirken
Abbildung 6: Blutsperre mit einem Vessel-Loop, Einschneiden des Nagels parallel zum lateralen Nagelwall mit der spitzen Schere bis zur Nagelbasis unter den proximalen Nagelwall
Abbildung 7: Diagonaler Schnitt nach schräg proximal bis auf den Knochen; das Hypergranulationsgewebe wird mit einem scharfen Löffel oder dem Skalpell abgetragen
Abbildung 8: Herausheben des Nagelrandes inklusive des proximalen Nagelhorns mit der Klemme Richtung lateraler Nagelwall; anschliessend radikales Débridement der germinalen Nagelmatrix mit dem Klemmchen und dem scharfen Löffel
Abbildung 9: Kontrolle auf vollständige Entfernung aller Nagelreste und der Nagelmatrix, Spülen der Wunde mit NaCl 0,9% oder Prontosan®
Abbildung 10: Naht der Inzisionen mit einem EKN mit monofilem nicht resorbierbarem Faden (z. B. Prolene™ oder Ethilon™, Stärke 3-0 oder 4-0)
einigen Jahrzehnten Phenol durchgesetzt. Die Operation ist bei kooperativen Kindern gut in Regionalanästhesie mittels Oberst-Leitungsblock (z. B. Lidocain 1–2%, Levo-/ Bupivacain 0,25–0,5% oder Ropivacain 0,2%) durchführbar. Dass eine Kombination mit Adrenalin sicher ist, haben Studien bestätigt (1, 10). Als zusätzliche Analgosedation und Anxiolyse hat sich die N2O-Inhalation bewährt. Die Möglichkeit einer Operation in Vollnarkose muss aber, insbesondere bei ängstlichen Kindern, besprochen und angeboten werden.
Multiple Studien zeigen, dass durch die Matrixektomie mit Phenol die Rezidivgefahr vermindert werden kann (1–4, 8, 9). Bei der chemischen Matrixektomie wird auf den Schnitt mit dem Skalpell verzichtet und nach Heraushebeln des Nagels 3-mal 1 Minute lang lokal, in der Wundhöhle unter dem proximalen Nagelwall, das Phenol appliziert, um die germinale Matrix zu zerstören. Dabei ist wichtig, die umgebende gesunde Haut mit Zinksalbe oder Vaseline vor dem Phenol zu schützen und die Wundhöhle danach ausgiebig zu spülen, da das Phenol via
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Abbildung 11: Resultat 1 Woche (li) und 2 Wochen (re) postoperativ (nach Fadenentfernung)
Hautkontakt absorbiert wird. Die Toxizität des Agens, insbesondere auch für den Operateur durch Inhalation, wird aber kontrovers diskutiert (4, 11) und somit wird diese Methode nicht überall angeboten. Auch wenn keine toxischen Dosen erreicht werden, können Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel nach der Exposition auftreten, insbesondere wenn der Behandlungsraum nicht gelüftet werden kann beziehungsweise kein Abzugssystem vorhanden ist. An unserer Klinik wird aus diesen Gründen kein Phenol mehr angewendet. Somit präsentieren wir hier ein Beispiel einer mechanischen Matrixektomie (Abbildungen 4–11). Bei dieser ist das sorgfältige und radikale Débridement bis auf den Knochen besonders wichtig, um Rezidive zu verhindern. Auch bei der operativen Therapie zeigte die Anwendung von Antibiotika weder vor, während noch nach dem Eingriff eine signifikante Verminderung der Infektionsrate, Verkürzung der Heilungszeit oder Reduktion der Rezidivrate (6, 7, 9).
Zusammenfassung
Das Krankheitsbild des Unguis incarnatus ist oft eine belastende Situation für das Kind und die Familie, welche nicht selten in einer langwierigen und von Misserfolg geprägten Behandlung resultiert. Daher ist es wichtig, das Krankheitsbild so früh wie möglich zu erkennen und adäquat zu behandeln. Dazu ist eine gute Instruktion der Familie unerlässlich. Kommt es im Verlauf trotz konsequentem Umsetzen der Massnahmen zu einer exsudativen oder gar chronischen Form, so bringt meist nur noch die operative Sanierung Linderung der Beschwerden. Diese kann, bei einem kooperativen Kind, problemlos in lokaler Anästhesie durchgeführt werden. Wir empfehlen folgendes Behandlungsschema: • Wachsenlassen des Nagels, bis dieser über den distalen
Zehenrand reicht. Gerades Kürzen des Nagels.
• Kein Tragen von engen Schuhen, idealerweise Tragen von offenen Schuhen so oft wie möglich. Tägliches Wechseln der Socken, welche bevorzugt aus atmungsaktivem Material sind.
• Bis 2-mal täglich desinfizierende Bäder, bei exsudierenden Befunden zudem lokal desinfizierende Salben/Gels anwenden.
• Taping des Nagelwalls nach lateral, so dass der Nagel frei nach vorne wachsen kann.
• Veröden des Hypergranulationsgewebes mit Silbernitratstiften.
• Bei fehlender Besserung der Beschwerden trotz adäquater Therapie > 12 Wochen Zuweisung an eine chirurgische Klinik zur operativen Sanierung des Befundes.
• Eine topische oder orale Antibiotikatherapie bringt weder bei der konservativen noch bei der operativen Therapie einen Vorteil.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Cécile Balmer Oberärztin Kinderchirurgie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: cecile.balmer@ukbb.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Alle Fotos in diesem Beitrag wurden von der Autorin zur Verfügung gestellt (© C. Balmer).
Literatur: 1. Thakur V, Vinay K, Haneke E: Onychocryptosis - decrypting the controversies. Int J Dermatol. 2020;59(6):656-669. 2. Mayeaux EJ Jr, Carter C, Murphy TE: Ingrown Toenail Management. Am Fam Physician. 2019;100(3):158-164. 3. Ezekian B et al.: Onychocryptosis in the Pediatric Patient. Clin Pediatr (Phila). 2017;56(2):109-114. 4. Moellhoff N et al.: Unguis incarnatus – konservative oder operative Therapie? Ein praktischer Behandlungsalgorithmus. Unfallchirurg. 2021;124(4):311-318. 5. Mozena JD: The Mozena Classification System and treatment algorithm for ingrown hallux nails. J Am Podiatr Med Assoc. 2002;92(3):131-135. 6. Reyzelman AM et al.: Are antibiotics necessary in the treatment of locally infected ingrown toenails? Arch Fam Med. 2000;9(9):930-932. 7. Bos AM: Randomized clinical trial of surgical technique and local antibiotics for ingrowing toenail. Br J Surg. 2007;94(3):292-296. 8. Vinay K et al.: Efficacy and safety of phenol-based partial matricectomy in treatment of onychocryptosis: A systematic review and meta-analysis. J Eur Acad Dermatol Venereol. 2022;36(4):526-535. 9. Eekhof JA et al.: Interventions for ingrowing toenails. Cochrane Database Syst Rev. 2012;(4):CD001541. 10. Sylaidis P, Logan A: Digital blocks with adrenaline. An old dogma refuted. J Hand Surg Br. 1998;23(1):17-19. 11. Losa Iglesias ME et al.: Safety of phenol vapor inhalation during performance of chemical matrixectomy to treat ingrown toenails. Dermatol Surg. 2008;34(11):15151519.
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