Transkript
Funktionelle Obstipation und Stuhlinkontinenz
Neue S2k-Leitlinie für Kinder und Jugendliche
Gastroenterologie
Die seit Längerem abgelaufenen Leitlinien zur Enkopresis und zur Obstipation im Kindesalter wurden ersetzt. Was sind die wesentlichen Inhalte?
Wesentliches für die Praxis
• Die Leitlinie stellt nachvollziehbare und ausführ liche Informationen zur Verfügung. Sie ist an aktuellen Daten orientiert.
• Sehr klare Schlüsselempfehlungen fassen die wichtigsten Informationen zusammen.
• Die Orientierung an einem zeitgemässen Klassi fikationssystem erleichtert das Verständnis des Pathomechanismus und öffnet logisch leicht nachvollziehbare Wege zu Diagnostik und Be handlung.
• Die Leitlinie ist unter folgendem Link abrufbar: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/068-019.html
D ie Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung und die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie haben die seit Längerem abgelaufenen Leitlinien zur Enkopresis und zur Obstipation im Kindesalter ersetzt. Zehn weitere Fachgesellschaften und Verbände waren vertreten, die auch diese Leit linienempfehlungen zu einem wirklichen interdisziplinären Konsens machen. Insbesondere werden die aktuellen Definitionen der funktionellen Störungen nach Rom-IV sowie die Evidenzen zur medikamentösen und nicht medikamentösen Therapie der Störungen berücksichtigt. Die Leitlinie fügt die somatischen und psychischen Aspekte sowie die Komorbiditäten der Stuhlentleerungsstörungen zusammen. Unnötige und nicht evidenzbasierte Untersuchungs- und Behandlungsverfahren werden benannt, und es erfolgt eine zielgerichtete Darstellung zur effektiven Diagnostik und Therapie.
Definition nach Rom-IV-Kriterien
Die Klassifikationssysteme der DSM-5, der ICD-10 und der ICD-11 sind leider nicht zeitgemäss, sie sollen daher zur Klassifikation der Stuhlinkontinenz und Obstipation nicht verwendet werden. Die Leitlinie empfiehlt stattdessen die Rom-IV-Klassifikation der pädiatrischen Gastroenterologie. Diese unterscheidet 2 Hauptgruppen: die funktionelle Obstipation (mit oder ohne begleitende Stuhlinkon-
tinenz) und die nicht retentive Stuhlinkontinenz (siehe Kasten 1). Für beide Gruppen gilt nach Rom-IV: • kein Nachweis von medizinischen Erkrankungen, die
die Obstipation und/oder Stuhlinkontinenz erklären würden • ein Entwicklungsalter von mindestens 4 Jahren • Kinder mit einer Intelligenzminderung werden gegebenfalls von der Diagnose ausgeschlossen, laut Leitlinie sollen sie dennoch diagnostiziert und behandelt werden • auch bei jüngere Kinder empfiehlt die Leitlinie eine Diagnostik und eine rasch einsetzende Behandlung einer Obstipation • eine Symptomdauer von mindestens 1 Monat
Diagnostik
Warnzeichen (s. Kasten 2) sollen eine intensivere organische Diagnostik nach sich ziehen, da eine organische Ursache wahrscheinlicher ist. Die Standarddiagnostik bei Kindern mit Obstipation umfasst eine gründliche Anamnese, Fragebögen zur Obstipation/Stuhlinkontinenz, Fragebögen zu psychischen Symptomen und Störungen (aufgrund der hohen Komorbidität psychischer Störungen) und ein Tagebuch zur Darmentleerung (Obstipation, Stuhlinkontinenz). Dazu gehören ausserdem eine vollständige pädiatrische und neurologische Untersuchung unter Beachtung der Warnzeichen. Eine rektal-digitale Untersuchung soll nicht als Routinediagnostik durchgeführt werden, da sie insbeson-
Kasten 1:
Funktionelle Obstipation und Stuhlinkontinenz – Definitionen
Die funktionelle Obstipation mit Stuhlinkontinenz ist gekennzeichnet durch: • 2 oder weniger Defäkationen in die Toilette pro Woche • mindestens eine Inkontinenzepisode pro Woche • Zurückhalten von Stuhl beziehungsweise exzessive willkürliche Stuhlretention • schmerzhafter oder harter Stuhlgang • grosse Stuhlmassen im Rektum • grosse Stuhldurchmesser, die die Toilette verstopfen können
Die nichtretentive Stuhlinkontinenz zeigt sich durch: • Defäkation an Stellen, die für den sozialen Kontext unangemessen sind • das Fehlen einer Stuhlretention
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Kasten 2:
Warnzeichen
Anamnestische Hinweise: • später erster Mekoniumabgang > 48 Stunden postnatal • Beginn der Obstipation bald nach der Geburt beziehungsweise im Säuglingsalter • bleistiftartiges Kaliber des Stuhls • primäre, anhaltende Harninkontinenz • Gedeihstörung, Inappetenz, Erbrechen, Fieber, Ileus • Polyurie/Polydipsie • familiäre Belastung für Morbus Hirschsprung • blutige Stühle in Abwesenheit von analen Rhagaden • galliges Erbrechen
Warnzeichen bei der Untersuchung: • extreme Angst bei der analen Inspektion • ausgeprägte abdominelle Vorwölbung (Distension) • Schilddrüsenveränderungen • leeres Rektum bei digitaler Untersuchung • auffälliger Anus (Position, Stenose) • fehlender analer, Bauchhaut oder KremasterReflex • lumbosakral gelegene Grübchen, Haarbüschel, Lipome • Asymmetrie der Analfalte • anale Narben, perianale Dermatitis, perianale Psoriasis, Lichen sclerosus
etatrophicans
Auffälligkeiten im Verlauf: • Therapieresistenz trotz konsequenter Durchführung der Massnahmen
Behandlung der funktionellen Obstipation nicht ausreichend und sollten lediglich ergänzend eingesetzt werden. Die Behandlung der funktionellen Obstipation soll mit einer Desimpaktion beginnen. Diese soll möglichst oral mit Polyethylenglykol (PEG; Macrogol, Dosierungsschemata in der Leitlinie, S. 37) erfolgen. Nur wenn eine Desimpaktion nicht oral möglich ist, sollte sie mit phosphatfreien Klistieren erfolgen. Bei der Anwendung soll eine Traumatisierung vermieden werden; dazu kann in einigen Fällen eine Analgosedierung erforderlich sein. In der Erhaltungstherapie soll eine Kombinationsbehandlung von kindzentrierter Beratung, verhaltenstherapeutischen und psychosozialen Interventionen sowie oralen Stuhlweichmachern/Laxanzien durchgeführt werden. Sie soll langfristig (mindestens 6 Monate mit anschliessender Ausschleichphase) angelegt sein. Die Dosis an Polyethylenglykol sollte individuell austitriert werden und bei ca. 0,2 bis 0,8 g/kg KG liegen, in Einzelfällen höher. PEG 3350 mit Elektrolyten und PEG 4000 sind dabei gleichwertig. Als Mittel der zweiten Wahl kann Lactulose als osmotisches Laxanz verwendet werden. Lactulose ist im Vergleich zu Makrogol schlechter wirksam und nebenwirkungsreicher (Blähungen, Meteorismus, Bauchschmerzen, Durchfälle). Nicht empfohlen werden Biofeedbackverfahren, Neurostimulation, Beckenboden-Physiotherapie, anale Irrigationen, Botulinumtoxin-A-Injektionen in den Analsphinkter und chirurgische Interventionen. Der Einsatz dieser Verfahren gehört bei therapieresistenten Verläufen in die Hände von erfahrenen Spezialisten.
Korrespondenzadresse: Dr. Ute Mendes SPZ Vivantes Klinikum im Friedrichhain Landsberger Allee 49 D-10249 Berlin E-Mail: ute.mendes@vivantes.de
Interessenlage: Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis 4/2022. Der leicht bearbeitete Nachdruck erfolgt mit Zustimmung der Autorin und des Verlags Kirchheim.
dere Kleinkinder mit schmerzhaften Erlebnissen in Zusammenhang mit der Defäkation weiter belasten und traumatisieren kann. Informationen über die Rektumfüllung lassen sich auch durch die Sonografie erhalten, die die Patientinnen und Patienten weniger belastet und sich auch als Verlaufskontrolle eignet. Eine Labordiagnostik kann erwogen werden und umfasst TSH, Kalium, Kalzium im Serum, Kreatinin, Gewebstransglutaminase-IgA-AK und Gesamt-IgA im Serum, fäkale Elastase und einen Urinstatus. Die Leitlinie weist explizit auch auf primär entbehrliche Untersuchungen hin: Laboruntersuchungen auf eine Kuhmilchallergie, Endoskopie, Rektumbiopsien, MRT-Untersuchungen und alle strahlengebundene Verfahren, wie Kolon-Szintigrafie, Abdomen-Übersicht, Kolonkontrasteinlauf, Defäkografie, Abdomen-CT, Kolon-Transit-Untersuchungen.
Behandlung bei Obstipation
Zur Behandlung der akuten Obstipation, die insbesondere bei Kleinkindern rasch erfolgen sollte, empfiehlt die Leitlinie oral verabreichte Stuhlweichmacher (Macrogol). Ziel der Therapie sind tägliche, komplette und schmerzfreie Stuhlentleerungen ohne Haltemanöver und eine komplette Kontinenz. Die Grundlage dafür bilden eine kindzentrierte Beratung, Informationsvermittlung und ein dem Alter und dem Tagesverlauf angepasstes Toilettentraining. Diätetische Massnahmen mit Steigerung der Ballaststoffe und der Flüssigkeitszufuhr sind zur alleinigen
Behandlung bei nicht rententiver Stuhlinkontinenz
Hier stehen kindzentrierte Psychoedukation, Beratung, Demystifizierung und ein Toilettentraining im Vordergrund, die bei Bedarf durch weitere verhaltenstherapeutische Elemente erweitert werden können. Stuhlweichmacher sollen nicht zum Einsatz kommen.
Komorbide Störungen
Eine häufig komorbide Harninkontinenz (Einnässen tagsüber) und/oder eine Enuresis nocturna sollen diagnostiziert und urotherapeutisch behandelt werden. Die Reihenfolge der Behandlung beginnt mit der Behandlung der Obstipation/Stuhlinkontinenz, es folgt die Behandlung der Harninkontinenz am Tag und zuletzt die Behandlung der Enuresis nocturna. Wegen der hohen Rate an komorbiden psychischen Störungen sollte immer ein Screening auf psychische Symptome und Störungen mit validierten BreitbandElternfragebögen durchgeführt werden. Diagnostizierte psychische Störungen sollen zusätzlich zur Therapie der Obstipation und Stuhlinkontinenz behandelt werden. Insbesondere Kinder mit ADHS, ASS und Intelligenzminderung weisen hohe Raten an Obstipation/Stuhlinkontinenz auf. Sie verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit.
Quelle: Funktionelle (nicht-organische) Obstipation und Stuhlinkontinenz im Kindes- und Jugendalter. S2k-Leitlinie der Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (GPGE) und Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP). Version 1. 1.; Datum: 05.04.2022; https:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/068-019.html
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