Transkript
Schwerpunkt
Zu früh, zu spät?
Normvarianten und Pathologien der Pubertätsentwicklung
Die Pubertät ist ein komplexer Prozess. Normvarianten sind häufig und meist ist dann keine Behandlung nötig. Und doch: Auch wenn Störungen der Pubertät selten sind, setzt das Erkennen dieser Störungen ein fundiertes Wissen über den normalen Pubertätsverlauf, Normvarianten und pathologische Pubertätsstörungen voraus. In diesem Artikel werden deshalb praxisrelevant die Pubertätsentwicklung sowie ihre Normvarianten und Pathologien bei beiden Geschlechtern erläutert.
Von Claudia Katschnig
Die Pubertät ist eine sensible Phase der körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklung. Sie resultiert aus einem Erwachen eines komplexen neuroendokrinen Systems, dessen genauer Me-
chanismus im Detail noch nicht geklärt ist. Trotz ähnlicher
Lebensumstände kommt es physiologischerweise zu einer
zeitlichen Variation der Pubertätsentwicklung von 4 bis
5 Jahren. Die Variabilität wird unter anderem durch ge-
netische Faktoren, Ethnie, Ernährungsbedingungen und
den säkularen Trend beeinflusst. Für die Abgrenzung der
frühen, normalen und späten Pubertät braucht es somit
generell gültige Altersgrenzen,
Unter all den Kindern, welche wegen verzögerter Pubertät abgeklärt werden, hat nur ein geringer Anteil tatsächlich einen Hypogonadismus.
zumal die Frage nach einem zu frühen oder zu späten Einsetzen der Pubertät neben der Frage nach einer Wachstumsstörung eine der häufigsten Fragen an uns pädiatrische Endokrinolo-
gen ist. Aufgrund der Angaben
auf den Zuweisungsschreiben und aus den Gesprächen
in der Sprechstunde wissen wir, dass es nicht nur für El-
tern schwierig ist, Pubertät und andere hormonelle Ver-
änderungen, wie zum Beispiel die Adrenarche, voneinan-
der zu unterscheiden.
gewichtigen Mädchen ist eine Thelarche nicht immer einfach von einer Lipomastie zu unterscheiden. Hilfreich könnte hier ein Seitenunterschied (eine Thelarche beginnt oft einseitig) oder die Angabe von Schmerzen bei der Thelarche sein.
Hormone und Tanner-Stadien
Die hypothalamisch-hypophysär-gonadale Achse befindet sich nach einer aktiven Phase während der Fötal- und Neonatalphase in den nachfolgenden Jahren bis zur Pubertät in einer Ruhephase. Unter Einfluss des hypothalamischen Hormons GnRH, der Gonatropine LH und FSH sowie der Sexualsteroide Östradiol und Testosteron kommt es zur Ausprägung der inneren und äusseren Pubertätsmerkmale (Abbildung 1). Diese werden mittels Tanner-Stadien eingeteilt. Tannerstadium 1 entspricht dem noch präpuberalen Stadium, Tannerstadium 5 einem völlig in der Pubertät entwickelten Jugendlichen (Abbildung 2).
Pubertät bei Mädchen
Die Pubertät beginnt beim Mädchen mit der Thelarche (Tanner-Stadium B2). In der Schweiz ist das bei Mädchen im Schnitt um das Alter von 11 Jahren der Fall. Bei über-
Abbildung 1: Schematische Darstellung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse; GnRH: Gonadotropin-Releasing-Hormon; FSH: follikelstimulierendes Hormon; LH: luteinisierende Hormon (Grafik erstellt mit Abbildungen von Smart-Servier Medical Art: https://smart.servier.com/)
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Innerhalb der kommenden 3 bis 6 Monate kommt es meist zum Einsetzen des Pubertätswachstumsspurts. Manchmal tritt der Pubertätswachstumsspurt aber auch etwas verzögert ein. Im ersten Jahr der Pubertät ist bei Mädchen mit einem Wachstum von etwa 7 bis 10 cm zu rechnen. Die Menarche erfolgt im Schnitt 2 bis 2½ Jahre nach dem Beginn der Brustentwicklung, in der Schweiz meist im Alter von 13 bis 13½ Jahren. Bereits kurz nach dem Beginn der Brustentwicklung, also viele Monate vor der Menarche, kommt es zu Fluor albus (sog. Weissfluss) als Zeichen der Östrogenisierung des Genitals. Die Menarche setzt dann 1 bis 2 Jahre später ein. Bereits vor der Menarche nimmt die Wachstumsgeschwindigkeit wieder ab. Nach der Menarche ist im Schnitt noch mit einem Restwachstum von zirka 6 bis 8 cm zu rechnen. Mädchen sind somit meist mit 14½ bis 15½ Jahren ausgewachsen.
Pubertät bei Knaben
Bei Knaben beginnt die Pubertät mit dem Hodenwachstum > 3 ml. Für die Bestimmung braucht es ein Orchidometer nach Prader, um die Hodenvolumina zu vergleichen. Im weiteren Verlauf kommt es zur Entwicklung von Schambehaarung, Vergrösserung des Penis, Stimmbruch und Bartwuchs. Im Schnitt beginnt ein Knabe in der Schweiz um das Alter von 13 Jahren mit der Pubertät. Im Gegensatz zu Mädchen tritt der Pubertätswachstumsspurt erst zirka 12 bis 18 Monate nach den ersten Pubertätszeichen auf. Normalerweise sehen wir ihn bei einem Hodenvolumen von 10 bis 12 ml. Der Stimmbruch kann bereits bei diesem Hodenvolumen oder auch etwas später einsetzen. Knaben erreichen ihre Endgrösse im Schnitt mit 18 bis 19 Jahren.
Normvarianten der Pubertät
Isolierte Thelarche: Unter einer isolierten Thelarche versteht man eine ein- oder beidseitige Brustentwicklung, welche sich nicht im Rahmen der frühzeitigen Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse erklären lässt. Eine isolierte Thelarche tritt meist im Säuglings- oder Kleinkindalter auf. Klinisch kann sie am Beginn nicht von einer Thelarche im Rahmen der Pubertät abgegrenzt werden. Um eine isolierte Thelarche von einer Pubertas praecox zu unterscheiden, empfiehlt man zu Beginn nur eine klinische Verlaufskontrolle (Brustentwicklung, Wachstumsgeschwindigkeit) in 3 Monaten. Eine Bestimmung der Geschlechtshormone beziehungsweise eine Sonografie der Brust ist nicht notwendig. In den Folgemonaten verschwindet eine isolierte Thelarche wieder spontan. Es kann von aussen weiterhin eine Brustvergrösserung wahrgenommen werden; die Brustdrüse ist dann aber nicht mehr stimuliert beziehungsweise tastbar. Eine Wachstumsbeschleunigung wie sie im Rahmen der Pubertät vorkommt, tritt bei der isolierten Thelarche nicht auf. Prämature Adrenarche: Die Adrenarche ist ein physiologischer Prozess und Ausdruck der Ausschüttung von Androgenen aus der Nebennierenrinde. Laborchemisch zeigt sich hierbei ein Anstieg der Androgene Dehydro epiandrosteron (DHEA) beziehungsweise Dehydro epiandrosteronsulfat (DHEAS). Die anderen Androgene (17a-Hydroxyprogesteron [17-OHP], Testosteron) sind meist im Normbereich.
Abbildung 2: Tanner-Stadien (Grafik: Michal Komorniczak)
Im Rahmen der Adrenarche kommt es zu einer Entwicklung von Scham- und Achselbehaarung, Akne und Schweissgeruch. Hierbei handelt sich nicht um ein Pubertätszeichen; sie werden aber oft damit verwechselt. Es ist somit wichtig, die Adrenarche von der Pubertätsentwicklung abzugrenzen. Auch bei der Adrenarche braucht es im Prinzip nur eine klinische Beurteilung und keine Laboruntersuchungen. Die Adrenarche läuft unabhängig von der Aktivierung der Hypophysen-Gonaden-Achse ab und sie setzt meist in einem Alter zwischen 7 und 8 Jahren ein. Tritt die Adrenarche bei Mädchen unter 8 Jahren und bei Knaben unter 9 Jahren auf, handelt es sich um eine prämature Adrenarche. Diese erklärt sich oft im Rahmen einer konstitu tionellen Beschleunigung von Wachstum und Pubertät. Die prämature Adrenarche kommt auch häufig bei Mangelgeborenen, Frühgeborenen und Zwillingen vor und kann bei diesen Kindern einen negativen Einfluss auf die Endgrösse haben. Die prämature Adrenarche ist von der viel selteneren Pathologie des «late onset adrenogenitale syndrome» (AGS) oder den noch selteneren adrenalen Tumoren zu unterscheiden. Beim AGS treten die Adrenarchezeichen oft wesentlich früher und ausgeprägter auf. Oft zeigt sich auch eine Androgenisierung des Genitals. Das Knochenalter ist oft um mehr als 2 Jahre beschleunigt und die prognostizierte Endgrösse liegt unter der familiären Grösse. Mittels der Bestimmung der Androgene (v. a. 17OHP bzw. mit dem Adrenocorticotropin-[ACTH-]Stimulationstest) kann ein AGS von einer Adrenarche unterschieden werden. Diese Abklärungen werden aber in der Regel nicht in der kinderärztlichen Praxis durchgeführt, sondern sie erfolgen durch einen pädiatrischen Endokrinologen. Konstitutionelle Verzögerung: Der spontane Pubertätsbeginn liegt über der 97. Perzentile für die einzelnen Tanner-Stadien. Die Brustentwicklung gemäss Tanner B2 wird erst nach dem Alter von 13 Jahren, die Hodenvergrösserung > 3 ml erst nach dem Alter von 14 Jahren erreicht. Das Wachstum ist im Vergleich zur Altersgruppe deutlich langsamer, die Körpergrösse fällt von der bisherigen Perzentile ab. Die Erwachsenengrösse liegt aber durch eine längere Wachstumsdauer meist im elterlichen Zielbereich. In der Familienanamnese gibt es oft Verwandte mit einer ähnlich verzögerten Pubertät. Da sich
Die zeitliche Variation der Pubertätsentwicklung beträgt 4 bis 5 Jahre.
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hinter einer konstitutionellen Verzögerung auch eine Hypothyreose, eine Zöliakie oder ein Wachstumshormonmangel verstecken kann, ist eine basale Blutentnahme (Schilddrüsenwerte, Zöliakieserologie, Insulin-like growth factor [IGF I]) oft sinnvoll. Sollten Knaben ab dem Alter von über 14½ Jahren unter der verzögerten Pubertät leiden, gibt es die Möglichkeit, eine Pubertätsinduktion mit niedrig dosiertem Testosteron durchzuführen. Hierfür verabreicht man insgesamt 6-mal jeweils Testoviron® 100 mg im Abstand von 4 Wochen. Innerhalb der ersten 3 bis 4 Monate beginnt der Pubertätswachstumsspurt, das Hodenvolumen nimmt zu und der Stimmbruch setzt ein. Eine Verlaufskontrolle erfolgt nach 6 Monaten; nach gutem Ansprechen wird die Behandlung beendet. Eine Verlaufskontrolle 6 Monate später sollte das spontane Fortschreiten der Pubertät aufzeigen und damit eine Pathologie (Hypogonadismus) sicher ausschliessen. Eine ähnliche Möglichkeit gibt es auch für Mädchen über 13 Jahre mit geringen Mengen Östrogen (z. B. Estrofem®) in aufsteigender Dosierung. Man beginnt je nach Alter mit 0,25 mg und steigert die Dosis auf bis zu 2 mg/Tag in 3- bis 6-monatlichen Abständen. Da eine verzögerte Pubertät bei Mädchen nicht so häufig vorkommt wie bei Knaben und Mädchen weniger unter der Verzögerung
Tabelle:
Mögliche Ursachen vorzeitiger Pubertätsentwicklung
Zentrale Pubertas praecox (beide Geschlechter) • idiopathisch • hirnorganische Störungen (Tumor, Hydrocephalus, Trauma, Infektionen, angeborene
Fehlbildungen usw., Hypothyreose seit langem bestehend und unbehandelt, seit langem behandelte Pseudopubertas praecox [AGS, Testotoxikose]) • Iatrogen (Anwendung von Gonadotropinen) • genetisch (GPR54, KISS1, UPD14)
Periphere Pubertas praecox bei Mädchen • autonome Ovarialzysten • McCune-Albright-Syndrom • Ovarialtumoren • exogene Östrogenzufuhr • kongenitales AGS • Nebennierenrindentumor • androgensezernierender Tumor • exogene Androgenzufuhr
Periphere Pubertas praecox bei Knaben • Testotoxikose • kongenitales AGS • Leydigzelltumor • Teratom • hCG-sezernierende Tumoren • exogene Androgenzufuhr • Sertolizelltumor • exogene Östrogenzufuhr
AGS: adrenogenitales Syndrom; hCG: humanes Choriongonadotropin
leiden, wird eine Behandlung wegen verzögerter Pubertät bei Mädchen seltener durchgeführt als bei Knaben. Konstitutionelle Akzeleration: In diesem Fall erfolgt die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse mehr als 2 Standardabweichungen vor dem Zeitpunkt der normalerweise beginnenden Pubertät, aber nicht vor dem 8. Lebensjahr bei Mädchen und dem 9. Lebensjahr bei Knaben. Wie bei der konstitutionellen Verzögerung besteht im familiären Umfeld häufig ein ähnliches Reifungsmuster. Oft hatte die Mutter eine frühe Pubertätsentwicklung, mit der Menarche bereits deutlich vor dem Alter von 13 Jahren. Eine Behandlung ist nicht nötig. Klinische Verlaufskontrollen von Wachstum und Pubertät reichen aus. Pubertätsgynäkomastie: Man findet sie in unterschiedlicher Ausprägung bei 40 bis 60 Prozent aller Knaben zu Beginn der Pubertät. Oft ist lediglich der Brustdrüsenkörper als kleine Verhärtung unterhalb der Brustwarze tastbar. Teilweise kann die Gynäkomastie so ausgeprägt sein, dass sie optisch einer weiblich entwickelten Brust ähnelt. Ursächlich ist ein Überwiegen der Östrogene gegenüber den Androgenen zu Beginn der Pubertät. Meist verschwindet die Gynäkomastie innerhalb der darauffolgenden 6 bis 18 Monate. Bei Persistenz und hohem Leidensdruck kann eine chirurgische Intervention erforderlich sein. Differenzialdiagnostisch kann man die Lipomastie eines adipösen Jugendlichen von der Gynäkomastie abgrenzen. Bei Lipomastie kommt es unter Gewichtsabnahme oft zu einem Verschwinden der Problematik.
Pathologie der vorzeitigen Pubertät
Definitionsgemäss handelt es sich um eine Pubertas praecox, wenn die Thelarche bei einem Mädchen im Alter von unter 8 Jahren auftritt. Im Gegensatz zur isolierten Thelarche kommt es hier innerhalb weniger Monate zu einer deutlichen Progredienz der Brustentwicklung und Wachstumsbeschleunigung. Bei Knaben spricht man von einer Pubertas praecox, wenn das Hodenvolumen vor dem Alter von 9 Jahren > 3 ml (gemessen mit dem Orchidometer nach Prader) liegt. Eine klinische Beurteilung der Tanner-Stadien durch den Arzt (siehe Abbildung 2) ist somit unerlässlich, um eine korrekte Diagnose stellen zu können. Im Rahmen einer Pubertas praecox kommt es zu einer frühzeitigen Wachstumsbeschleunigung, einer meist deutlich avancierten Knochenreifung und Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale sowie zum frühen Schluss der Epiphysenfugen. Für uns Endokrinologen ist die Diagnose der jeweiligen Ursache der vorzeitigen Pubertätsentwicklung essenziell, um eine kausal wirksame Therapie einzuleiten (Tabelle). Für den Alltag in der kinderärztlichen Praxis ist es wichtig, eine zu früh einsetzende Pubertätsentwicklung nicht zu verpassen und die Zuweisung zu einem pädiatrischen Endokrinologen zu veranlassen. Die Pubertas praecox lässt sich in die zentrale (Gonadotropin-abhängige) und periphere (Gonadotropin-unabhängige) Pubertas praecox einteilen. Zentrale Pubertas praecox: Diagnostiziert wird die zentrale Pubertas praecox durch die frühe Pubertätsentwicklung, eine Wachstumsbeschleunigung, eine Knochenalterbeschleunigung und eine erhöhte Sekretion des luteinisierenden Hormons (LH) basal oder im Gonadotropin-Releasing-Hormon-(GnRH-)Stimulationstest (LHRH-
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Test). Die zentrale Pubertas praecox resultiert aus einer frühzeitigen Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse und kommt wesentlich häufiger vor. Das Geschlechterverhältnis Mädchen:Knaben liegt in etwa bei 4:1. Bei zirka 80 Prozent der Mädchen und 40 Prozent der Knaben bleibt die Ursache der zentralen Pubertas praecox ungeklärt. Organische Läsionen im Hypothalamus-Hypophysen-Bereich können für das vorzeitige Auftreten der Pubertät verantwortlich sein. Aus diesem Grund empfiehlt man, bei Mädchen mit Thelarche in einem Alter von deutlich unter 8 Jahren und bei allen Knaben ein MRI des Kopfes zum Ausschluss einer intrazerebralen Läsion durchzuführen. Je früher die Pubertät auftritt, umso wahrscheinlicher ist eine organische L äsion. Periphere Pubertas praecox: Bei der peripheren Pubertas praecox kommt es durch eine gesteigerte Ausschüttung von Geschlechtshormonen direkt in den Endorganen (Ovar, Hoden, Nebennnierenrinde, Leber) oder durch eine exogene Exposition mit Geschlechtshormonen. Exogen erhöhte Geschlechtshormonspiegel treten zum Beispiel im Rahmen östrogenhaltiger Salben bei Labiensynechien auf. Nach Absetzen des Auslösers verschwindet die Brustentwicklung wieder komplett. Bei Knaben kann es selten im Rahmen von Tumoren der Leydigzellen des Hodens, die vermehrt Testosteron produzieren, zu einer vorzeitigen Hodenvergrösserung kommen, welche in diesem Fall oft einseitig ist und diagnostisch hilfreich sein kann. Eine Sonderstellung nimmt das McCune-Albright-Syndrom ein, welches durch charakteristische Cafe-au-laitFlecken und polyostotische fibröse Dysplasien der Knochen mit Frakturneigung auffällt. Die Pubertas praecox ist hier durch Ovarialzysten bedingt, die zu Abbruchblutungen schon in den ersten Lebensjahren führen können. Beim McCune-Albright-Syndrom können auch andere Hormonstörungen wie Hyperthyreose, Cushing-Syndrom oder eine vermehrte Sekretion von Wachstumshormon auftreten. Behandlung: Bei der Behandlung eines Kindes mit zentraler Pubertas praecox kommen GnRH-Analoga zum Einsatz. Die sekundären Geschlechtsmerkmale verschwinden unter dieser Therapie wieder oder sie schreiten nicht voran. Die Wachstumsgeschwindigkeit fällt wieder in einen präpubertalen Bereich ab. Die Knochenreifung beschleunigt sich nicht weiter. Die Menarche tritt nicht vorzeitig auf. Wenn das Mädchen bereits weit in der Pubertät vorangeschritten sind und eine deutlich Brustentwicklung aufweist, verschwindet unter der Pubertätsblockade zwar die Stimulation der Brustdrüse, aber eine weibliche Brustform bleibt erhalten. Auch kann es wenige Tage nach der ersten Leuprorelingabe (Lucrin®) zu einer Menstruation kommen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Eltern und das Mädchen diesbezüglich zu informieren. Während der Behandlung sollten regelmässige Kontrollen von sekundären Geschlechtsmerkmalen, Wachstum und Knochenreifung erfolgen. Wenn die Pubertät klinisch suffizient unterdrückt ist, braucht es keine Laborbestimmungen. Die Behandlung erfolgt meist bis zum Alter von 11 Jahren bei Mädchen beziehungsweise 13 Jahren bei Knaben, da dann bereits bei einem grossen Teil der Alterskollegen die Pubertät eingesetzt hat. Nach dem Stopp der Behandlung schreitet die Pubertätsentwicklung normal voran. Die Menarche tritt meist 12
bis 18 Monate nach Ende der Pubertätsblockade auf. Die Endgrösse ist durch die Behandlung meist nicht beeinflussbar. In Einzelfällen mag sich eine Therapie mit einem GnRH-Analogon positiv auf die Endgrösse auswirken, insbesondere, wenn parallel zu dem GnRH-Analogon auch eine Behandlung mit Wachstumshormon stattfindet.
Pathologie der ausbleibenden Pubertät
Bei ausbleibender Pubertätsentwicklung bleibt die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale aus. Eine Scham- oder Achselbehaarung kann trotzdem aufgrund intakter Nebennierenrindenfunktion bestehen. Eine weiterführende Abklärung ist sinnvoll, wenn bei Mädchen im Alter von 13 Jahren noch keine Brustentwicklung und bei Knaben im Alter von 14½ Jahren noch keine Vergrösserung der Hodenvolumina auf > 3ml festgestellt werden kann.
Bei verzögerter Pubertät ist der Leidensdruck bei Knaben höher als bei Mädchen.
Der Leidensdruck ist bei Knaben generell höher, zum einen, weil bei ihnen die Pubertät ohnehin später beginnt als bei den Mädchen, und zum anderen wegen des positiven Effekts von Testosteron auf die Muskelmasse. Der Zuwachs an Muskelmasse ist 5-mal höher als vor der Pubertät, sodass Knaben mit einer verzögerten Pubertät besonders im Sport benachteiligt sind. Differenzialdiagnosen: Die wichtigste Differenzialdiagnose ist auch hier die konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, nachzufragen, wie Familienmitglieder sich in der Pubertät entwickelt haben. Auch muss man daran denken, dass es im Rahmen von Störungen anderer Hormonwirkungen, wie zum Beispiel bei einem Wachstumshormonmangel oder einer Zöliakie, zu einem verzögerten Pubertätsbeginn kommen kann. Aus diesem Grund sollte in den meisten Fällen neben der klinischen Beurteilung von Wachstum und Pubertät zu Beginn eine laborchemische Abklärung (Schilddrüsenhormone, Zöliakie Serologie, IGF I, Prolaktin) erfolgen. Eine Bestimmung der Geschlechtshormone vor Pubertätsbeginn ist meistens nicht nötig.
Wenige Tage nach der ersten Gabe eines GnRH-Analogons kann es bei Mädchen zu einer Menstruation kommen.
Wenn aufgrund von Anamnese und Diagnostik eine konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät wahrscheinlich, der Leidensdruck nicht allzu gross und aufgrund des Knochenalters mit einem baldigen Pubertätsbeginn zu rechnen ist, ist nur eine Verlaufskontrolle von Wachstum und Pubertätsentwicklung in 6 Monaten indiziert. Bei einem Grossteil der Jugendlichen kommt es innerhalb der kommenden Monate zu einem spontanen Einsetzen der Pubertät. Falls das nicht geschieht, muss an eine Hormonstörung (Hypogonadismus) gedacht werden. Hierbei ist wichtig zu erwähnen, dass die Pubertät erst dann beginnen kann, wenn das Knochenalter – unabhängig vom chronologi-
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Korrespondenzadresse: Dr. med. Claudia Katschnig PEZZ, Pädiatrisch-Endokrinologisches Zentrum Zürich Möhrlistrasse 69 8006 Zürich E-Mail: claudia.katschnig@pezz.ch
schen Alter – bei einem Mädchen mindestens 11 Jahre und bei einem Knaben mindestens 13 Jahre beträgt. Das führt zu der grossen natürlichen Streuung des Alters, in dem die Pubertätsentwicklung im individuellen Fall eintritt. Als Hypogonadismus bezeichnet man im Allgemeinen die Unterfunktion der Gonaden (Keimdrüsen). Unter all den Kindern, welche wegen verzögerter Pubertät abgeklärt werden, hat nur ein geringer Anteil tatsächlich einen Hypogonadismus. Hypogonadismus: Ein Hypogonadismus kann in einen hypogonadotropen (Ursache liegt im Hypothalamus oder in der Hypophyse) oder einen hypergonadotropen Hypogonadismus (Ursache liegt in den Keimdrüsen) unterteilt werden. Diese Einteilung ist klinisch nicht unterscheidbar. Sie hat vor allem diagnostische und therapeutische Relevanz. Beim hypogonadotropen Hypogonadismus sind die Werte für LH, FSH (follikelstimulierendes Hormon) und die Geschlechtshormone niedrig. Beim hypergonadotropen Hypogonadismus sind die Spiegel der Gonadotropine LH und FSH erhöht, diejenigen der Geschlechtshormone jedoch tief. Der Hypogonadismus kann sowohl angeboren (z. B. im Rahmen eines Kallmann-Syndroms [Hypogonadismus, Anosmie]) oder erworben sein. Ein erworbener funktioneller (hypogonatroper) Hypogonadismus kann zum Beispiel im Rahmen einer Anorexia nervosa oder bei Leistungssportlern auftreten. Dies sehen wir zunehmend nicht nur in dafür bekannten Sportarten wie Ballett oder Eiskunstlauf, sondern auch bei Knaben mit exzessivem Krafttraining. Klassische angeborene gonadale Störungen, die mit einem hypergonadotropen Hypogonadismus einhergehen, sind chromosomale Erkrankungen wie das Turner-Syndrom (45,X) bei Mädchen oder das Klinefelter-Syndrom (47,XXY) bei Jungen. Im Gegensatz zum Klinefelter-Syndrom, welches weiterhin oft erst im Erwachsenenalter festgestellt wird, fällt das Turner-Syndrom bereits häufig vor dem Pubertätsalter durch pränatale Diagnostik oder Kleinwuchs auf. Für alle Formen des Hypogonadismus gilt, dass die Erkrankungen neben einer kompletten Form mit fehlenden Pubertätszeichen auch in einer inkompletten Form auftreten können, bei der eine Teilfunktion des hypothalamisch-hypophysär-gonadalen Regelkreises mit einer meist inkompletten äusseren Pubertätsentwicklung vorliegt. Das bedeutet, dass die Pubertät zwar spontan begonnen wird, aber im Verlauf stehenbleibt. Das erschwert die Abgrenzung zur normalen konstitutionellen Verzögerung von Wachstum und Pubertät. Im Gegensatz zur konstitutionellen Verzögerung, bei der die Substitution von Geschlechtshormonen allein zu einem früheren Einsetzen der Pubertätsmerkmale führen soll, geht es bei der Behandlung eines Hypogonadismus langfristig um die Frage der Fertilität und der Sexual funktion. Behandlung bei Hypogonadismus: Für die Behandlung von Patienten mit Hypogonadismus steht zu Beginn auch eine Substitutionstherapie mit Östrogen/Gestagen-Derivaten oder Testosteron zur Verfügung. Die Behandlung wird mit niedrig dosierten Hormonen eingeleitet und unter Kontrolle des klinischen Befunds (Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale, Wachstum, Knochenalter) langsam zur vollen Substitutionsdosis gesteigert. Bei kompletten Formen braucht es
dann eine «lebenslange» Substitution der Geschlechtshormone. Beim Mann kommen in diesem Fall Depotpräparate (z. B. Nebido® 1000 mg/3 Monate), bei der Frau 3-Phasenpräparate (Trisequens® N) oder eine Antibabypille zum Einsatz.
Sonderform primäre Amenorrhoe
Wenn die Menarche bei einem Mädchen im Alter von über 15 Jahren beziehungsweise 3 Jahre nach Beginn der Brustentwicklung nicht erfolgt ist, liegt eine primäre Amenorrhoe vor. Der Beginn der Pubertät verlief meist normal und auch der Wachstumsspurt hat normal eingesetzt. Häufig handelt es sich in diesen Fällen um eine konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät. Die Menarche tritt aufgrund des verzögerten Knochenalters verzögert ein. Differenzialdiagnostisch muss man an Erkrankungen wie Hypothyreose, Zöliakie, Hyperprolaktinämie oder Hyperandrogenismus denken, welche zu Beginn ausgeschlossen werden sollten. An einen Hyperandrogenismus ist vor allem dann zu denken, wenn auch andere Androgenzeichen, wie frühe Adrenarche, Akne oder Hirsutismus, bestehen. Eine primäre Amenorrhoe kann auch noch Jahre nach raschen Gewichtsabnahmen bei Essstörungen oder Diäten und im Leistungssport vorkommen. Hierbei handelt es sich um eine hypothalamisch-hypophysäre Funktionsstörung, welche auch nach einer Gewichts normalisierung und Sportreduktion noch lang bestehen kann. Um sehr seltene Anlagestörungen des Uterus nicht zu verpassen, erfolgt im Verlauf meist eine Sonografie des inneren Genitals über die Bauchdecke. Bei primär unauffälligen Abklärungen gilt es zu Beginn, den Verlauf über die kommenden Monate abzuwarten, da keine Menstruation zu haben per se nicht schädlich ist. Langfristig geht es bei der Frage nach einer Behandlung vor allem um den damit häufig assoziierten Östrogenmangel und dessen negativen Einfluss auf die Knochendichte.
Sekundäre Amenorrhoe
Darunter versteht man ein Ausbleiben der Menstruation > 3 Monate nach initial erfolgter Menarche. Innerhalb der ersten Jahre nach der Menarche kommt es häufig zu anovulatorischen Zyklen und damit zu irregulären Zyklen. Häufig liegt diesem Phänomen keine Pathologie zugrunde und der Spontanverlauf kann abgewartet werden. Wie auch bei der primären Amenorrhoe können Gewichtsverläufe, Sport und andere Stressfaktoren den Zyklus negativ beeinflussen. Auch hier gilt es, im Verlauf mittels Blutentnahme Erkrankungen wie Zöliakie, Hyperprolaktinämie oder eine vermehrte Ausschüttung männlicher Geschlechtshormone bei einem polyzystischen Ovarsyndrom (PCOS) nicht zu verpassen. Kommt es im Verlauf nicht zu einem spontanen Einsetzen der Menstruation, kann diese mittels Östrogensubstitution über zirka 1 Jahr ausgelöst werden. Danach wird überprüft, ob es nach Absetzen dieser Substitution wieder zu einer spontanen Menstruation kommt.
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte in Bezug auf diesen Artikel bestehen.
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