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Update Typ-1-Diabetes
Individualisierter Einsatz neuer Technologien ist gefragt
Schwerpunkt
In der Diabetologie stehen mittlerweile ausgefeilte Technologien zur Ver fügung, welche die Einstellung des Blutzuckers erleichtern und die Situation für Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes erheblich verbessert haben. Was bei der Wahl der individuellen Diabetestherapie wichtig ist, wird in drei Fallbeispielen deutlich – aus der Sicht von Eltern, einer betroffenen Jugend lichen und einer Diabetologin.
Von Stefanie Wildi, Annik Hauri-Hohl, Silvia Schmid und Udo Meinhardt
Bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes geht es um weit mehr als die Einstellung des Blutzuckerspiegels. Es geht gleichermassen um Lebensqualität und darum, negative Einflüsse des Diabetes auf die körperliche und psychische Entwicklung der jungen Patienten zu minimieren. Dafür braucht es eine individuelle Therapie, welche die Kompetenz, die Autonomieentwicklung und damit auch die Krankheitsakzeptanz seitens der Betroffenen unterstützt. Wie eine solche Therapie aussehen kann, wird anhand von drei Fallbeispielen erläutert.
Aus der Sicht der Eltern
Gerade hatte der Kinderarzt bei unserem 4-jährigen Sohn Leo* kurz vor dem Kindergartenstart die Verdachtsdiagnose eines Typ-1-Diabetes gestellt – welch ein Schock! Dann fragte er uns, wie wir vorgehen möchten. Aufgrund der körperlichen Situation war eine Hospitalisation nicht nötig; deshalb durften wir wählen, ob Leo für voraussichtlich 7 bis 10 Tage hospitalisiert wurde oder ob wir lieber eine ambulante Diabetesinstruktion wünschten. Leo würde sich zu Hause viel wohler fühlen und auch für uns als Familie mit zwei Kleinkindern im Alter von 1 und 4 Jahren war es angenehmer, diesen Schock zusammen zu verdauen und die nächsten Tage und Nächte gemeinsam zu verbringen. Erste Schritte: Gleichentags konnten wir als ganze Familie zur Diabetologin in die Praxis gehen und wurden dort professionell und gleichzeitig herzlich empfangen. Sobald wir die kapilläre Blutmessung und die Insulininjektion beherrschten, durften wir nach Hause. Es tat uns allen gut, in die gewohnte Umgebung zurückzukehren. Die ersten Tage besuchten wir täglich die Diabetesärztin und telefonierten vor jeder Mahlzeit mit ihr, um die jeweilige Insulindosis zu berechnen. Leo muss täglich vor jeder Mahlzeit Essensinsulin und abends vor der Bettruhe ein Basisinsulin spritzen. Wir erhielten alle notwendigen Informationen zum Diabetes. Eine Ernährungsberaterin stand uns ebenfalls zur Seite. Leo und wir Eltern waren dankbar für den bereits am 2. Tag gelegten subkutanen Glukosesensor. Damit konnten wir Eltern die Blutzuckerwerte von Leo stets im Auge behalten, ohne ihn am Finger stechen oder nachts we-
cken zu müssen. Rasch nahm unser Know-how von Tag
zu Tag zu, da wir von Beginn an im Rahmen der ambu-
lanten Instruktion alles inklusive der Berechnung der Koh-
lenhydratmenge im Essen selbstständig mit der notwen-
digen Unterstützung in die Hände nehmen mussten.
Ferien und Familienalltag: Dank der Ermutigung unse-
rer Ärztin wagten wir es, knapp zwei Wochen nach Erhalt
der Diabetesdiagnose die schon lange im Voraus geplan-
ten Ferien anzutreten. Wir konnten uns so als ganze
Familie gegenseitig rund um die Uhr unterstützen und
schon früh erste Erfahrungen mit Schwimmen, Wande-
rungen usw. machen. Der Erfahrungsschatz wuchs für
uns Eltern gleichsam rasant an. Auch im Nachhinein sind
wir froh um die ambulante Instruktion, obwohl die ersten
Tage zu Hause sehr stressig waren. Für uns überwiegt klar
der Vorteil, dass wir von Beginn an als Familie gemeinsam
das Projekt «unser Kind hat Diabetes» angehen konnten,
das heisst gemeinsam die Kohlenhydrat- und Insulin
mengen zu berechnen, abwechselnd zu spritzen und vor
allem als Familie im gewohnten Umfeld zu bleiben. Für
uns alle und insbesondere für Leo war das sicherlich ein
ganz wichtiger Punkt, um seine chronische Erkrankung
auch langfristig besser akzeptieren zu können.
Abbildung 1: Spielen in den
Kindergarten: Knappe 2 Monate nach der Diabetesdia- Ferien schon kurz nach Diag-
gnose kam eine erneute grosse Veränderung in unser nose, Sensor am linken Ober-
Leben, der Start des Kindergartens! Es war ein grosser arm
Schritt des Loslassens. Die Kindergartenlehrperson wurde
durch uns Eltern über den Diabetes unterrichtet. Da
unsere Diabeteserfahrung wegen der kurzen Zeitperiode
zwischen Diagnose und Kindergartenstart noch nicht so
riesig war, war die Unsicherheit, welche Eltern mit dem
Kindergartenstart ohnehin haben, bei uns noch deutlich
grösser. Deshalb entschieden wir uns nach Rücksprache
mit der Kindergartenlehrperson, Leo ein Smartphone in
einer Bauchtasche mitzugeben, um damit den Blutzucker
von Leo in Echtzeit verfolgen zu können. Wir Eltern waren
so stets im Bild, was den Blutzuckerverlauf unseres Soh-
nes betraf und hatten weniger Mühe, ihn in andere
Hände zu geben.
Ganz wichtig erscheint uns auch heute noch im täglichen
Umgang mit Leo, dass wir dank des Sensors und der Daten-
übermittlung via Smartphone immer wissen, was punkto
Diabetes läuft. Wenn Leo vom Kindergarten oder seinen
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Abbildung 2: Blutzuckerprofile von Leo* vor (A) und nach dem Einsatz der sensorgesteuerten Insulinpumpe (mit Closed-loop-System) (B)
menge noch nicht, doch es sei einen Versuch wert, den man jederzeit problemlos abbrechen könne, sagte sie. Sich von einer Technik abhängig zu machen, bereitete uns zunächst grosse Mühe. Die Hoffnung auf eine mit grosser Wahrscheinlichkeit bessere Blutzuckereinstellung und auf mehr Schlaf überzeugte uns, diesen nächsten Schritt zu gehen. Für Leo war das Ziel der Pumpe, dass er dank der sensorgesteuerten besseren Nachtblutzuckerwerte endlich bei seiner Gotte übernachten dürfte. Auch hier haben wir die richtige Entscheidung getroffen. Nach der Pumpenumstellung merkten wir nämlich schon bald, dass die Blutzuckerschwankungen von Leo viel geringer wurden, Unterzuckerungen kaum mehr auftraten und sich die Zeit im Zielbereich (3,9–10 mmol/l) verbessert hatte (Abbildung 2). Aktuell liegt sie teils bei 90 Prozent trotz Leos weiterhin sehr lebendigem Temperament und seiner vielen Aktivitäten (Abbildung 3). Als grosse Erleichterung für uns Eltern schlafen wir (wie auch Leo) meist durch (Abbildung 4) und haben dank dessen im Alltag mehr Energie für unsere beiden Söhne. Natürlich haben wir das Versprechen eingelöst und freuen uns, dass Leo schon mehrmals auswärts übernachten konnte.
Abbildung 3: Leo im Schwimmkurs mit der wasserdichten, sensor gesteuerten Insulinpumpe (im Bauchgurt und Sensor am rechten Oberarm eingebunden)
sportlichen Aktivitäten heimkommt, müssen wir ihn zum Beispiel nicht als erstes nach den Blutzuckerwerten fragen, sondern können ihn einfach in den Arm nehmen und mit ihm über in seinen Augen viel wichtigere Dinge plaudern. Auch fühlen wir uns viel freier, ihn auswärts spielen oder schlafen zu lassen. Dies war und ist auch heute noch eine Verbesserung vor allem betreffend des Stellenwerts des Diabetes im Familienalltag. Durch den Sensor ist die Blutzuckerüberwachung viel genauer; sie verlangt aber bei einem Kleinkind auch eine pausenlose Bereitschaft und eine zumindest geistige Präsenz von uns Eltern. Stark schwankende Blutzuckerwerte als Problem: Unser 4-Jähriger ist ein Energiebündel und entsprechend hatte er seit den ersten Tagen schwankende Blutzuckerwerte, tagsüber und auch nachts. Wir standen deswegen von Beginn an mehrmals pro Woche in Kontakt mit unserer Diabetesärztin, um die richtige Insulindosierung zu finden. Wir stiessen mit der konventionellen Insulintherapie mittels Pens an eine Grenze. Da die minimale Änderung der Insulindosis bei den Pens 0,5 IU beträgt, erreichten wir oft nicht die richtige Dosierung, vor allem, weil unser Sohn nur einen geringen Insulinbedarf hat. Oft standen wir vor dem Dilemma, ob wir die Insulindosis abrunden (was zu hohe Blutzuckerwerte zur Folge hatte) oder aufrunden sollten (meist gefolgt von Hypoglykämie mit überschiessendem Blutzuckeranstieg nach Hypokorrektur). Dazu kamen viele schwierige und uns den Schlaf raubende Nächte. Der Insulinbedarf schwankte von Nacht zu Nacht. Nicht selten stand jemand von uns mehrmals pro Nacht auf, um bei Bedarf Insulin zu verabreichen. Sensorgesteuerte Insulinpumpe als Lösung: Unsere Diabetesärztin erkannte, dass die trotz der schwierigen Umstände sehr gute Blutzuckereinstellung unseres Sohnes unserem grossen Aufwand und schlaflosen Nächten zu verdanken war, und schlug uns schon bald eine sensorgesteuerte Insulinpumpe vor. Viel Erfahrung gäbe es in diesem jungen Alter und bei dieser geringen Insulin-
Abbildung 4: Der Schlaf ist dank der sensorgesteuerten Pumpe (im Bauchgurt) sowohl für Leo als auch für seine Eltern viel erhol samer geworden als mit den Pen-Injektionen.
Hier die wichtigsten Punkte, die uns im Alltag geholfen haben und helfen: • ambulante Diabeteseinstellung • Sensor mit direkter Datenübermittlung an die Eltern:
Loslassen des Kindes besser möglich, Entlastung der Kindergartenlehrperson, Diabetes tritt in der Eltern-Kind-Beziehung mehr in den Hintergrund (Blutzucker muss von den Eltern nicht erfragt werden). • Sensorgesteuerte Insulinpumpe zur Verbesserung der Diabeteseinstellung und Entlastung von uns als Eltern: keine Kindergartenbesuche der Eltern für Insulingabe mehr nötig, nachts durchschlafen, viel weniger Blutzuckerschwankungen. • Mehr Freiheit für Leo dank der Pumpe: Er kann selbständiger leben und auswärts übernachten.
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Aus der Sicht einer Jugendlichen
Mein Name ist Vincenza* und ich bin 17 Jahre alt. Im Alter von 14 Jahren wurde bei mir ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert. Während 2 Wochen hatte ich sehr viel Durst und ging häufig zur Toilette. Schliesslich ging meine Mutter mit mir zur Hausärztin, da ich bleich war und krank aussah. Die Diagnose war ein Schock für mich und meine Familie. Niemand in unserer Familie hatte Diabetes. Diabetes war in unserer Familie völlig neu. Alle anderen Krankheiten, wie eine schlimme Erkältung oder eine Lungenentzündung, gehen wieder weg. Diese Krankheit bleibt für immer, sie ist definitiv und es gibt keine Alternative. Das überforderte mich. Warum hatte gerade ich Diabetes? Das Leben schien ungerecht. Ich haderte mit dem Schicksal. Ich lernte den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen. Meine Familie war stolz auf mich. Zwar hatte die Jugenddiabetologin betont, dass niemand Schuld habe; doch zu Beginn suchte vor allem meine Mutter nach einer Ursache. War es der Stress in der Schule? Oder die Pubertät? Die zunehmende Umweltverschmutzung? Es gab keine Erklärung. Meine Mutter wünschte, dass sie anstelle von mir Diabetes hätte, doch das konnte nicht geändert werden. Gute Blutzuckereinstellung rasch erreicht: Schon nach einigen Tagen war mein Blutzucker gut eingestellt. Ich hatte gelernt, wie anhand des aktuell gemessenen Blutzuckers und der Menge von Kohlenhydraten die Insulindosis zu berechnen und anzupassen war. Die Uhrzeit der Mahlzeiten war von Beginn an frei – ich konnte essen oder nicht essen, das war meine Entscheidung. Um mir die Berechnung des Essensinsulins zu Beginn einfacher zu machen, entschied ich mich, die Kohlenhydratmengen der jeweiligen Mahlzeiten konstant zu halten. Die Kohlenhydratmengen jeweils zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendessen waren jeden Tag gleich; selten gab es eine Ausnahme. So verabreichte ich bei guten Blutzuckerwerten häufig die gleiche Menge Insulin wie am Vortag. Zwischenmahlzeiten liess ich weg oder ass ausschliesslich kohlenhydratarme Nahrungsmittel, wie rohes Gemüse, ein Stück Alpkäse oder eine Handvoll Nüsse. Nach einigen Monaten, nachdem ich mich an die 4 bis 5 Insulininjektionen und die mindestens 5 Blutzuckermessungen pro Tag und vieles mehr gewöhnt hatte, lernte ich, die Kohlenhydratmenge genauer zu berechnen und zu schätzen. Von nun an konnte ich wann auch immer essen so viel ich Lust hatte, weil ich die Essensinsulinmenge der Kohlenhydratmenge entsprechend berechnen konnte. Lieber piksen: Meine ältere Schwester war in der Ausbildung zur MPA. Sie ermutigte mich, eine kontinuierliche Zuckermessung anzuwenden, denn schliesslich sei das viel einfacher und praktischer als der häufige Fingerpiks. Nach einer entsprechenden Instruktion in der Praxis meiner Diabetesärztin klebte der Sensor an meinem Bauch; das war mir lieber als am Oberarm, weil er dort weniger sichtbar ist. Mit meinem Handy wurden die Zuckerwerte aufgezeichnet. Irgendwie behagte mir die ganze Sache nicht so recht. Ich fühlte mich wohler in meinem Körper ohne Sensor, weil ich so nicht dauernd mit dem Diabetes konfrontiert war. Mein Körper war ohne Sensor unversehrt und rein. Nach 3 Wochen stoppte ich den Sensor-
versuch und führte meine kapillären Blutzuckermessungen mit Fingerpiks fort. Später motivierte mich meine ältere Schwester, die Insulinpumpe auszuprobieren. Mir wurden die verschiedenen Modelle mit Schlauchkatheter und ohne Schlauch vorgestellt. Ich entschied mich für die Insulinpumpe mit Schlauch und konnte diese probetragen. Nach 2 Wochen brachte ich die Insulinpumpe zurück. Sie war nichts für mich. Das Tragen der Insulinpumpe war mir zu umständlich und störte mich am Körper. Der Schlauch blieb an Türfallen hängen oder verhedderte sich in meinen Kleidern. Wie beim Sensortragen wollte ich nicht jeden Moment an den Diabetes erinnert werden. Nun absolviere ich wie meine ältere Schwester eine Lehre als MPA. Der Beruf gefällt mir. Nach wie vor messe ich den Blutzucker kapillär am Finger und verabreiche mehrmals täglich das Insulin per Pen in Bauch und Oberschenkel. Zwischenzeitlich glaube ich, dass ich Diabetes habe, weil ich stark genug bin, den Diabetes zu managen und trotzdem ein gutes Leben zu führen. Das Schicksal hielt diese Herausforderung für mich bereit, weil ich sie tragen kann. Mein Diabetes ist gut eingestellt. Ich fühle mich wohl und frei.
Ich fühlte mich wohler in meinem Körper ohne Sensor, weil ich so nicht dauernd mit dem Diabetes konfrontiert war.
Für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ergeben sich aus dem Bericht von Vincenza folgende wichtige Punkte: • Eine den individuellen Bedürfnissen angepasste Diabe-
testherapie ist wichtig (der bevorzugte Gebrauch von Sensor, Pumpe, Pen usw. kann vom Alter abhängig sein). • Eine gute Diabeteseinstellung mit Pen und ohne Sensor ist möglich. • Ein unversehrtes Körperbild ist für Jugendliche wichtig. • Ein Jugendlicher will genauso sein wie seine Peergroup und nicht wegen Diabetes auffallen. • Die Krankheitsakzeptanz braucht Zeit. • Diabetes stellt für Eltern eine grosse emotionale Belastung dar (in diesem Fall wollte die Mutter lieber selber den Diabetes haben), unabhängig vom Alter des Kindes bei Diagnosestellung oder der Therapie.
Aus der Sicht der Diabetologin
Gian* ist ein 12 Jahre alter Knabe mit Typ-1-Diabetes, einer Autismusspektrumstörung und einer schwierigen psychosozialen Situation, den ich seit der Diagnosestellung im Alter von 5 Jahren betreue. Gian lebt unter der Woche in einem Internat, weil die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern mit den Verhaltensauffälligkeiten und der Diabetesbehandlung (funktionelle Insulintherapie mit Novorapid und Levemir) deutlich überfordert war; in dieser Zeit lagen das HbA1c bei 8,3% (Ziel < 7%) und die Zeit im Zielbereich (3,9– 10 mmol/l) bei 40 Prozent (Ziel > 70%). Anfangs funktionierte das Zusammenleben im Internat sehr gut. Gian fühlte sich wohl, die Bezugsperson kam mit zu den Diabeteskontrollen und wir standen regelmässig im Austausch. Gian wurde in dieser Zeit mit einer Insulinpumpe mit Vorhypoabschaltung behandelt. Die Blutzucker
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Abbildung 5: Blutzuckerprofile von Gian* mit sensorgesteuerter Pumpe mit Hypoabschaltung (A) und mit einem Closed-loop-System (B)
kontrolle war trotzdem aufgrund ausgeprägter Hypound Hyperglykämien sehr schwierig, das HbA1c lag bei 7,7 Prozent und die Zeit im Zielbereich bei 50 Prozent (Abbildung 5A). Aggressives Verhalten verstärkte die Blutzuckerschwankungen. Schwierig war es vor allem bei Hypoglykämien, wenn Gian sich weigerte, schnellwirksame Kohlenhydrate zu trinken oder zu essen. Von einem Tag auf den anderen wurde Gian im Alter von 8 Jahren vom Internat verwiesen. Er sei nicht mehr tragbar gewesen, unter anderem wegen Eskalationen mit anderen Kindern. Der Knabe wurde vorübergehend bei seiner Tante im Ausland untergebracht, da es für die Mutter sonst keine Betreuungsmöglichkeit gab. Mit Hilfe der Vormundschafts- und Schulbehörden konnte nach etwas über einem Jahr und mehreren erfolglosen Versuchen an anderen Schulen ein Platz in einem Schulinternat in Zürich gefunden werden. Nach Einzelunterricht und psychotherapeutischer Unterstützung war eine langsame Eingliederung in den Gruppenunterricht erfolgreich. Die Betreuungspersonen wurden von der Mutter und mir bezüglich Diabetes intensiv instruiert. Das Team zeigte einen unglaublichen Einsatz und viel Geduld, Gian die notwendige Unterstützung zu geben, um schwierige Situationen meistern zu können. Gian fühlte sich endlich wohl und konnte ein Beziehungs- und Vertrauensverhältnis aufbauen. Umstellung auf ein Closed-loop-System: Die Blut zuckereinstellung blieb schwierig. Weiterhin führten emotionale Ausbrüche immer wieder zu Blutzuckerschwankungen und diese wiederum zum emotionalen Ungleichgewicht – ein Teufelskreis. In dieser Zeit lagen das HbA1c bei 7,9 Prozent und die Zeit im Zielbereich bei 44 Prozent. Die Blutzuckerdaten wurden mir zur Dosisanpassung wöchentlich übermittelt und die Blutzuckerverläufe mit der Mutter und der Bezugsperson in der Sprechstunde diskutiert. Zusätzlich erfolgten Standortgespräche im Internat mit allen involvierten Personen. Vor 2 Jahren entschieden wir uns, Gian auf eine sensorgesteuerte Insulinpumpentherapie mit Closed-loop-System
umzustellen mit dem Ziel, die Blutzuckerschwankungen zu reduzieren und die Diabeteskontrolle zu verbessern und auch zu erleichtern. Wir erhofften uns mit der besseren Kontrolle der ausgeprägten Blutzuckerschwankungen, auch das Verhalten von Gian positiv zu beeinflussen. Die Pumpenschulung erfolgte mit Gian, seiner Mutter und den beiden engsten Betreuungspersonen des Internats. Schon am ersten Tag war eine Verbesserung der Blutzuckereinstellung sichtbar (Abbildung 5B), im Verlauf besonders in der Nacht. Seither ist die Blutzuckerkontrolle deutlich stabiler, das HbA1c liegt bei 7 Prozent, die Zeit im Zielbereich bei 68 Prozent. Gian ist bezüglich Diabetesmanagement selbständig und hat seine Blutzuckereinstellung gut im Griff. Schwierige Situationen gibt es immer wieder. Diese sind aber deutlich seltener und werden auch unabhängig vom Blutzucker beobachtet. Wichtige Punkte: • Die enge Zusammenarbeit mit Betreuungsteam ist sehr
wichtig und entscheidend für den Verlauf, ebenso regelmässig Kommunikation und Absprachen. • Es braucht ein stabiles Umfeld und Betreuungsteam. • Neue Technologien können das Diabetesmanagement deutlich verbessern. • In jedem Alter, auch bereits deutlich vor der Adoleszenz, ist es sehr wichtig, die Autonomieentwicklung bestmöglich zu fördern.
Was lernen wir aus diesen Fallberichten?
Ambulante Ersteinstellung: Weltweit wird seit vielen Jahren die Ersteinstellung des Typ-1-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen ambulant durchgeführt. Untersuchungen zeigen, dass die ambulante Ersteinstellung, falls der somatische Zustand des Kindes diese erlaubt, aus medizinischer Sicht keinerlei Nachteile, aus psychosozialer Sicht in den meisten Situationen jedoch massive Vorteile mit sich bringt. Auch sind die Instruktion und Diabeteseinstellung im realen Alltag wesentlich effizienter und die oft auch rückblickend schmerzhafte Spitalerfahrung kann mit einer ambulanten Ersteinstellung umgangen werden. Es ist nach unserer Erfahrung wichtig, dass nach dem ersten Schrecken der Diabetesdiagnose, dem Gefühl der Überforderung und den hieraus resultierenden Zukunftsängsten möglichst schnell der Alltag mit dem Diabetes wieder kompetent, kontrolliert und selbstständig stattfinden kann. Diese positive Erfahrung unterstützt in jedem Fall die für den weiteren Verlauf so wichtige Krankheitsakzeptanz sowohl bei den Eltern als auch bei den Betroffenen. Kinder und Jugendliche mit neu entdecktem Typ-1-Diabetes können ambulant eingestellt werden, wenn sie nicht erbrechen, kreislaufstabil sind und mit dem Arzt eine gemeinsame Sprache sprechen können. Die Familie muss bereit sein, in der ersten Woche etwa 3 bis 4 Konsultationen in der diabetologischen Praxis wahrzunehmen und mehrmals täglich mit dem verantwortlichen Diabetologen zu telefonieren. Bei der ambulanten Ersteinstellung wird auf die individuellen Gegebenheiten und Bedürfnisse der Betroffenen Rücksicht genommen. Dabei sind eine funktionelle Insulintherapie (FIT) mit Insulinpens, konventionellen Blutzuckermessungen und Papiertagebuch bis hin zur sensorgesteuerten Insulinpumpe mit elektronischem Tagebuch
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möglich. Der Einsatz der modernen Insuline und Technologien verbessert in vielen Fällen die Diabeteskontrolle; ein konventionelles 2- bis 3-Spritzen-Schema ist nur noch in seltenen Ausnahmefällen vorteilhaft. Die ambulante Ersteinstellung des Typ-1-Diabetes ist im Vergleich zur Hospitalisation um ein Mehrfaches kostengünstiger. Umgang mit einer lebenslangen Erkrankung: Mit der chronischen Diagnose, die oft als Schicksalsschlag wahrgenommen wird, beginnt auch heute noch trotz aller medizinischen Fortschritte ein lebenslanger Weg, bei dem in jeder Phase der Krankheit und in jedem Alter die stabile und authentische Arzt-Patienten-Beziehung für eine erfolgreiche Therapie, die Gesundheit und die schulische sowie berufliche Integration entscheidend wichtig ist. Dies ist nur möglich, wenn die ärztliche Bezugsperson über längere Zeit stabil und erreichbar ist. Es ist selbstverständlich, dass nicht nur die fachliche, sondern auch die kommunikative Kompetenz sowie die Bereitschaft, in einem Netzwerk (Eltern, Schule, Beruf, Ernährungsberatung, Diabetesfachberatung, Psychologie) zu arbeiten, Voraussetzungen für die professionelle und bestmögliche Unterstützung der Betroffenen sind. Es ist unsere Pflicht, dies bestmöglich zu gewährleisten. Der Diabetes wird in jeder Lebensphase anders wahrgenommen und jede Lebensphase stellt neue, zum Teil unerwartete Herausforderungen. Deswegen ist auch die Blutzuckerkontrolle jeden Tag anders. Die Wege und Hilfsmittel, mit denen eine optimale Diabeteskontrolle angestrebt werden, müssen kontinuierlich angepasst werden. Dabei ist es uns wichtig, immer alle zur Verfügung stehenden pharmakologischen und medizintechnischen Möglichkeiten mit den Betroffenen beziehungsweise den Eltern diskutieren und anbieten zu können. Um dies zu erreichen, sind der Austausch unter Kolleginnen und Kollegen, die Weiter- und Fortbildung, aber auch der Dialog mit der Industrie und Patientinnenorganisationen wichtig und hilfreich. Die Arbeit ist auch für uns als Diabetologinnen und Diabetologen jeden Tag anders und lehrreich. Diabetes als Spiegel des psychosozialen Gleichgewichts: Der Typ-1-Diabetes ist für die Betroffenen, deren Familien und für das gesamte Betreuungsumfeld eine konstante, sehr grosse Herausforderung, die insbesondere die Betroffenen und deren Eltern immer wieder an Grenzen bringt. Alle gehen damit sehr unterschiedlich um und es gibt keine Patentlösung! Leider erleben wir Situationen, in denen wir erkennen müssen, dass der Diabetes zu schwierig einzustellen ist; dann braucht es von allen Beteiligten viel Geduld. Oft werden dann auch eine zusätzliche Unterstützung durch die Spitex, eine psychologische Begleitung oder auch der Einbezug der Vormundschaftsbehörde nötig. Auch werden Herausforderungen des Alltags, die nichts mit dem Diabetes zu tun haben, erst zu einem «öffentlich» sichtbaren Problem, weil das Kind einen Diabetes hat – ohne Diabetes würde sich die Jugendliche vielleicht «durchschlängeln», ohne zum Problemfall zu werden. Der Diabetes wird zum Abbild oder Spiegel des psychosozialen Gleichgewichts. Diabetes ist nicht nur eine lebenslange Erkrankung mit all den potenziell schweren gesundheitlichen Komplikationen, die es zu verhindern gilt, sondern auch eine Entblössung sich und seinem Umfeld gegenüber: Im und mit
dem Diabetes wird alles sichtbar und seit der Einführung des kontinuierlichen Glukose-Monitorings (Sensortechnologie) nicht nur bei der Blutzuckermessung (vorausgesetzt, der Blutzucker wird gemessen) oder alle drei Monate bei der HbA1c-Messung in der Diabetessprechstunde, sondern bei Tag und Nacht! Nutzen neuer Technologien: Trotzdem sind die neuen Technologien, insbesondere die Sensortechnologie, die Insulinpumpen und die sensorgesteuerten Insulinpumpensysteme, aber auch die neuen Insuline mit einer ultraschnellen und kurzen (Bolusinsulin) oder sehr flachen und langanhaltenden (Basalinsulin) Wirkung von grösstem Nutzen für die Blutzuckerkontrolle im Alltag und die Gesundheit der Betroffenen! In aller Regel führt die Anwendung eines Sensors und einer Insulinpumpe, wenn sie korrekt indiziert sind und von der betroffenen Person akzeptiert werden, zu einer Verbesserung der Diabeteskontrolle und der Lebensqualität. Die Vielzahl der therapeutischen Möglichkeiten ermöglicht zweifelsfrei ein individualisierteres Diabetesmanagement und eine Verbesserung der durchschnittlichen Diabeteskontrolle. Ziele der Diabetestherapie: Unser gemeinsames Ziel ist nicht «nur» die Verhinderung akuter Diabeteskomplikationen (Hypoglykämie, Hyperglykämie, ketotische Entgleisung) sowie der befürchteten Langzeitkomplikationen des Diabetes (Augen, Nieren, kleine und grosse Gefässe, Durchblutungsstörungen, Infarkte, Neuropathie), indem das HbA1c unter 7 Prozent und die Zeit im Zielbereich (3,9–10 mmol/l) über 70 Prozent liegt. Unser Ziel ist es auch, dass der Diabetes und die Blutzuckerschwankungen die psychoemotionale und körperliche Leistungsfähigkeit im Alltag und damit die Lebensqualität und die Entwicklung im Allgemeinen möglichst wenig negativ beeinflussen. Das gelingt nur, wenn wir zu jedem Zeitpunkt die bestmögliche, individualisierte Therapie und Therapiekontrolle anbieten und die Kompetenz, die Autonomieentwicklung und damit die Krankheitsakzeptanz der Betroffenen unterstützen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Stefanie Wildi Fachpraxis Endokrinologie, Diabetes und Sportmedizin Adlerstrasse 1 8600 Dübendorf E-Mail: stefanie.wildi@klein-gross.ch
Alle Autoren haben gleichermassen zu diesem Artikel beigetragen.
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte in Bezug auf diesen Artikel bestehen.
*Alle in diesem Artikel verwendeten Patientennamen wurden geändert. Die Fotos (Abb. 1, 3, 4) wurden von den Eltern zur Verfügung gestellt.
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