Transkript
Gentests bei Kleinwuchs
Wann sind sie indiziert?
Schwerpunkt
Haus- und Kinderärzte können eine frühzeitige Diagnose genetisch bedingter Kleinwüchsigkeit ermöglichen, wenn sie sich nicht scheuen, einem entsprechenden Verdacht nachzugehen. In diesem Artikel wird die Relevanz genetischer Abklärungen für die Prävention und die Behandlung von Wachstumsstörungen anhand von Fallbeispielen deutlich. Die Indikationen für eine genetische Beratung sowie genetische Tests werden erläutert.
Von Kees Noordam
Das Monitoring des Wachstums von Kindern ist wichtig, denn normales Wachstum ist ein Zeichen für gute Gesundheit, während Wachstumsstörungen auf einer behandelbaren Erkrankung beruhen können. International besteht Konsens darüber, dass für das Monitoring des Wachstums bei Kindern über 2 Jahre aktuelle lokale Wachstumskurven besser geeignet sind als die Wachstumskurven der WHO. Deshalb ist die Verfügbarkeit der Eiholzer-Wachstumskurven im Schweizer Kontext hilfreich. Sie wurden 2019 veröffentlicht. Zurzeit werden weitere Daten aus dem Tessin und der Westschweiz gesammelt, um eine schweizweite Anwendbarkeit dieser Wachstumskurven zu gewährleisten. Bei Kleinwuchs sind der Abstand zum Mittelwert der Bevölkerung (<- 1,6 SD oder < 5. Perzentil), der Abstand zur Zielgrösse (>- 1,6 SD) und eine abflachende Wachstumskurve Prädiktoren für eine zugrunde liegende Wachstumsstörung. Dies werden Sie als Kinderarzt in der Praxis bei einer Vorsorgeuntersuchung feststellen oder die Eltern kommen zu Ihnen, weil sie ihr Kind im Vergleich zu Gleichaltrigen für zu klein halten. Aus soziokulturellen Gründen werden bei Weitem mehr Jungen als Mädchen mit Kleinwuchs zur Untersuchung überwiesen, was zwangsläufig bedeutet, dass Kleinwuchs bei Mädchen zu selten diagnostiziert wird. Im Allgemeinen können Wachstumsstörungen in primäre und sekundäre Wachsstumsstörungen unterteilt werden. Bei primären Wachstumsstörungen ist das Problem in den Wachstumsfugen lokalisiert, bei sekundären Wachstumsstörungen sind andere Faktoren entscheidend, wie zum Beispiel Zöliakie, Steroidgebrauch oder Wachstumshormonmangel. Die Aussichten auf Heilung sind bei einer sekundären Wachsstumsstörung wesentlich besser, weil durch die Behandlung der zugrunde liegenden systemischen Erkrankung das normale Wachstum wiederhergestellt werden kann. Deshalb ist das serologische Screening auf entsprechende Erkrankungen gängige Praxis. Die Ausbeute dieser Tests ist jedoch eher gering (deutlich unter 5%). In vielen Fällen finden wir keine Erklärung für den Kleinwuchs und meist wird das Phänomen als idiopathischer Kleinwuchs bezeichnet. Das Wachstum ist stark genetisch gesteuert. 80 Prozent der Wachstumsvariationen sind durch genetische Varia-
tionen erklärbar, wobei in der Regel mehrere Gene beteiligt sind. Häufige Varianten der am Wachstum beteiligten Gene (d. h. dass sie bei unter 5% der Bevölkerung vorkommen) erklären 50 Prozent der Variationen bei der Endgrösse. Gegenwärtig kennen wir noch nicht alle Gene, deren häufig vorkommende Varianten unterschiedliche Körpergrössen erklären; aber diese Lücke wird sich im Lauf der kommenden Jahre schliessen. Schwere Fälle von Wachstumsstörungen sind eher durch seltene Genvarianten erklärbar. Je kleiner das Kind ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kleinwüchsigkeit durch monogenetische Veränderungen oder seltene Varianten in einzelnen Genen verursacht wird. In Kohorten von Kindern mit «idiopathischem» Kleinwuchs fanden mehrere For-
schungsteams in etwa Gentests liefern bei Wachstums15 Prozent der Fälle eine störungen häufiger einen Hinweis genetische Ursache und auf die Ursache als herkömmliche zwar meist in Genen, die serologische Untersuchungen.
an der Chondrogenese in den Wachstumsfugen und an Skelettdysplasien beteiligt sind sowie gelegentlich auch in Genen, die zu leichten Entwicklungsstörungen wie den sogenannten RASopathien führen (Erbkrankheiten mit Mutationen in Genen eines wichtigen zellulären Signaltransduktionskaskade wie z. B. beim Noonan-Syndrom). Das bedeutet, dass Gentests bei Wachstumsstörungen häufiger einen Hinweis auf deren Ursache liefern als die herkömmlichen serologischen Untersuchungen. Daher sollten Gentests bei der Abklärung von Kleinwuchs zusammen mit einer gründlichen klinischen Anamnese und Untersuchung, Screening-Bluttests und gegebenenfalls endokrinologischen Untersuchungen durchgeführt werden. Anhand der folgenden beiden Fallberichte wird die Bedeutung einer genetischen Abklärung für die Behandlung und Prävention von Wachstumsstörungen deutlich.
Fallbericht 1
Julian* ist ein Junge von 12 Jahren und präpubertär: Grösse 129,4 cm (–3,2 SD, <<3. P), Gewicht für diese Grösse –0,6 SD, voraussichtliche Endgrösse 174,5 cm (–0,7 SD), Grösse des Vaters 183 cm, Grösse der Mutter
*Die Namen der Kinder wurden geändert.
3/23 Pädiatrie
7
Schwerpunkt
Abbildung 1: Wachstumskurve von Julian (Knochenalter ermittelt gemäss Greulich/Pyle)
151 cm, Geburtslänge 46 cm (–2 SD), Geburtsgewicht 2,65 kg (>- 2 SD), Gestationsalter 37 Wochen. Seine Körperproportionen sind normal. Es bestehen Anzeichen von Ptosis und H ypertelorismus sowie Cubiti valgi. Das Knochenalter ist um 1,5 Jahre retardiert (Abbildung 1). Sein Gesichtsausdruck deutet auf das Noonan-Syndrom hin. Die Gesichtszüge seiner Mutter sind eindeutig typisch für das Noonan-Syndrom. Screening-Bluttests und Wachstumshormontests wurden seit 6 Jahren durchgeführt und waren ohne Befund. Aufgrund des Erscheinungsbilds des Jungen und seiner Mutter stellen wir die Verdachtsdiagnose Noonan-Syndrom. Eine zielgerichtete genetische Untersuchung auf das Noonan-Syndrom wird durchgeführt. Sie ergibt eine bekannte, heterozygote pathogene Mutation im PTPN11-Gen bei dem Jungen, seiner Schwester und seiner Mutter, was die Diagnose Noonan-Syndrom bestätigt. Die kardiologische Unter suchung ist normal. Aufgrund des Gentests ist es möglich, von der IV die Kosten für eine Wachstumshormonbehandlung zu erhalten. Im Alter von 12,5 Jahren kann Julian mit der Wachstumshormontherapie beginnen. Was wir aus diesem Fall lernen: Julian war bei seiner Geburt «small for gestational age» (SGA), was für 25 Prozent der Kinder mit Noonan-Syndrom zutrifft. Eine vermeintlich idiopathische Kleinwüchsigkeit kann durch eine autosomal dominante Erkrankung verursacht werden. Deshalb sollte man sich auch die Eltern und Fotos von anderen Verwandten mit Kleinwüchsigkeit ansehen. Nicht jeder kann ein Kind mit Noonan-Syndrom erkennen, sodass Gentests durchgeführt werden sollten.
Abbildung 2: Wachstumskurve von Erian (Knochenalter ermittelt gemäss Greulich/Pyle)
Fallbericht 2
Erian* ist ein Junge von 14½ Jahren: Grösse 156,6 cm (–1,6 SD), Gewicht für diese Größe 0,3 SD, Armspannweite 164 cm. Geburtslänge und -gewicht waren normal. Die Grösse des Vaters beträgt 183 cm, die der Mutter 150 cm. Ab dem Alter von 1 Jahr wuchs er etwa auf der 3. Perzentile. Erian kam «früh» in die Pubertät. Sein Knochenalter beträgt 15½ Jahre, die voraussichtliche Endgrösse etwa 161 cm (–2,7 SD = <<3. P) (Abbildung 2). Wegen einer früh einsetzenden Osteochondritis ab dem 6. Lebensjahr überwies der Orthopäde das Kind im Alter von 14 Jahren an einen Genetiker. Die Exom-Sequenzierung ergab eine heterozygote Mutation im Exon 10 des ACAN-Gens. Das ACAN-Gen kodiert für Aggrecan, das für eine korrekte Funktion der Wachstumsfugen wichtig ist. Kinder mit heterozygoten Mutationen in diesem Gen weisen eine kurze Statur ohne Disproportionen auf, obwohl, wie bei Erian, die Armspannweite in den meisten Fällen die Stehhöhe übersteigt. Die Kinder können eine Osteoarthritis oder eine Osteochondritis dissecans aufweisen. Ihre Knochenreifung ist beschleunigt, und sie kommen früh in die Pubertät. Kinder mit Mutationen im ACAN-Gen können von einer Wachstumshormonbehandlung profitieren. Aufgrund des Knochenalters von 15½ Jahren ist Erian bereits zu alt, um eine Wachstumshormontherapie in Betracht zu ziehen. Wachstumshormone werden für diese Indikation in der Schweiz derzeit nicht erstattet. Dennoch ist es wichtig, eine frühzeitige Diagnose zu stellen, um eine Behandlung durchführen zu können und Komorbiditäten abzuklären.
8 Pädiatrie 3/23
Schwerpunkt
Was wir aus diesem Fall lernen: In diesem Fall einer primären Wachstumsstörung war die Geburtsgrösse normal und es bestanden keine Dysmorphien oder Körperdisproportionen. Bei dieser autosomal dominant bedingten Erkrankung ist die Mutter ebenfalls sehr klein, und sie leidet an der gleichen Erkrankung (was vorher nicht bekannt war). Typischerweise würde man bei einer derart grossen Differenz zwischen der Grösse des Vaters und des Sohns sagen, «dass das Kind nach seiner Mutter kommt». Wenn die Mutter derart klein ist, könnten sie und ihr Sohn dieselbe autosomal-dominante Erkrankung haben.
Konsequenzen für die Praxis
Welche Auswirkungen hat die Tatsache, dass genetische Ursachen für Kleinwuchs nicht selten sind, auf die tägliche Praxis? Wie sollte diese Erkenntnis den Praxisalltag verändern? Bei der Beurteilung des Wachstums eines Kindes gibt es, wie eingangs erwähnt, mehrere Punkte, die auf eine mögliche Wachstumsstörung hinweisen, nämlich Kleinwuchs (<- 2SD oder < 2,3 Perzentile), eine abflachende Wachstumskurve und Kleinwuchs in der Familie. Kleinwüchsigkeit bei Geburt: Eine Kleinwüchsigkeit bei der Geburt (<- 2 SD) kann der erste Hinweis auf eine primäre Wachstumsstörung sein. Man sollte deshalb auf (Gesichts-)Dysmorphien und angeborene Fehlbildungen achten. Diese können auf genetische Syndrome hinweisen und Anzeichen einer Knochendysplasie sein. Beispiele hierfür sind das Silver-Russel-Syndrom und das 3M-Syndrom, die mit entsprechenden Stigmata und Körperdisproportionen verbunden sind. Überweisen Sie diese Kinder zur genetischen Beratung und zur Durchführung entsprechender Gentests an Spezialisten. Da die Plazentainsuffizienz eine häufige Ursache für Kleinwuchs bei der Geburt ist, wird bei 85 bis 90 Prozent der bei Geburt kleinwüchsigen Kinder in den ersten Lebensjahren ein Aufholwachstum einsetzen. Falls dies ausbleibt, sollten Screening-Bluttests durchgeführt werden. Sind diese ohne Befund, könnte das Kind eine genetische Grunderkrankung haben und sollte daher klinisch untersucht werden. Bei unklarer genetischer Ursache wird eine Überweisung empfohlen. Wenn eine genetische Ursache unwahrscheinlich ist, wird das Kind als kleinwüchsig eingestuft, wenn es als SGA geboren wurde. Diese Kinder profitieren von einer Wachstumshormontherapie, die im Alter von 4 Jahren beginnt und bis zum Erreichen der endgültigen Körpergrösse fortgesetzt wird. Deshalb ist es sehr wichtig, das Wachstum von Kindern zu verfolgen, die bei der Geburt klein waren. Zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr: Eine abflachende Wachstumskurve kann zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr normal und ein Ergebnis der «Zielsuche» sein. Selbstverständlich sollte das Kind aber in einer Perzentile um die projizierte Zielgrösse wachsen, keine Anzeichen für ein Syndrom (Dysmorphien) aufweisen und normale Körperproportionen haben. Pubertät: Eine abflachende Wachstumskurve um das Pubertätsalter kann Anzeichen einer verzögerten Pubertät sein und es muss nicht auf einer zugrunde liegenden Krankheit beruhen. In diesen Fällen sollte die Wachstumsgeschwindigkeit der präpubertären Situation entsprechen (> 4 cm/Jahr). Ist das nicht der Fall, sollte man bei einer abflachenden Wachstumskurve (mehr als 0,3 SD pro
Jahr) zunächst darauf drängen, organische (z. B. Zöliakie) oder hormonelle (z. B. Hypothyreose) Ursachen für den Kleinwuchs auszuschliessen. Sie haben unmittelbare Folgen für das Wachstum und die Gesundheit. Primäre Wachstumsstörung: In den meisten Fällen weisen Kinder mit einer durch organische oder hormonelle Erkrankungen verursachten abflachenden Wachstumskurve eine Retardierung des Knochenalters auf. Wenn das Knochenalter nicht verzögert ist, ist eine primäre Wachstumsstörung wahrscheinlicher. Achten Sie dann auf Stigmata und Körperdisproportionen und überweisen Sie das Kind an einen pädiatrischen Endokrinologen oder Genetiker.
Neben der klinischen und serologischen Untersuchung, einschliesslich Hormontests, sollten genetische Tests Teil der Abklärung bei Kleinwuchs sein.
Konstitutionelle Wachstumsverzögerung: Bei einem niedrigen Spiegel des Wachstumsfaktors IGF1 (Insulin-like growth hormone) sollten, nachdem andere Krankheiten ausgeschlossen wurden, Wachstumshormonstimulationstests durchgeführt werden. Wird ein Wachstumshormonmangel ausgeschlossen, besteht bei einem Kind mit einer ausgeprägten Knochenalterretardierung in den meisten Fällen eine konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät. Das Kind, in der Regel ein Junge, kommt später in die Pubertät, wächst länger als seine Altersgenossen und erreicht eine für seine Familie normale Grösse. Wenn klar wird, dass das Kind keine normale Grösse erreichen wird, sollte die Diagnose überdacht werden. Zum Beispiel sind Kinder mit Noonan-Syndrom kleinwüchsig, weisen ein deutlich verzögertes Knochenalter auf und die Gesichtsdysmorphien können schwach ausgeprägt sein. Deshalb kann bei diesen Kindern die Fehldiagnose einer konstitutionellen Wachstums- und Pubertätsverzögerung gestellt werden, vor allem wenn ein Elternteil bei dieser autosomal dominanten Erbkrankheit ebenfalls klein ist, ähnliche Gesichtszüge hat und auch bei ihm früher eine vermeintlich konstitutionelle Wachstumsverzögerung festgestellt wurde.
Es kann sehr wichtig sein, die lang ersehnte Antwort auf die Frage zu erhalten, warum das Kind anders ist als andere Kinder, und eine klare Prognose zu stellen.
Hormonmangel: Wird bei der Untersuchung eines Kindes mit einer abflachenden Wachstumskurve ein Wachstumshormonmangel diagnostiziert, besteht in den meisten Fällen keine genetische Ursache, insbesondere wenn die klinische Untersuchung ohne Befund ist. Genetische Tests sollten in Fällen von multiplem Hypophysenhormonmangel durchgeführt werden, vor allem, wenn dieser mit hypophysären oder körperlichen Fehlbildungen kombiniert ist, oder der Wachstumshormonmangel sehr schwerwiegend ist oder wenn der Wachstumshormonmangel über Generationen hinweg besteht. Wenn der IGF1-Wert sehr niedrig ist und der Wachstumshormontest normal ausfällt, kann ein Problem im IGF1-
3/23 Pädiatrie
9
Schwerpunkt
Normale Werte für die Sitzhöhe finden Sie im Wachstumsatlas von Eiholzer. Wenn ein Elternteil sehr klein ist und das nicht auf die ethnische Zugehörigkeit zurückgeführt werden kann, sollten Sie diesen Elternteil im Hinblick auf Stigmata und Disproportionen untersuchen. Die meisten genetisch bedingten Wachstumsstörungen werden autosomal dominant vererbt. Ein Sitzindex von > 0,55 ist bei einem Erwachsenen nicht normal. Spezifische Befunde sind zum Beispiel die Madelung-Deformität bei Turner-Syndrom und SHOX-Mangel, die Mikrozephalie und die geringe Geburtsgrösse bei IGF1- oder IGF1-Rezeptor-Mutationen sowie die Makrozephalie und Hyperlordose bei Hypochondroplasie. Genetischer Defekt trotz Wachstum gemäss Zielgrösse: Ein Kind kann entsprechend der Zielgrösse wachsen, aber dennoch ist eine genetische Ursache für den Kleinwuchs möglich, wenn das Kind und ein Elternteil sehr klein sind (<- 3 SD oder < 0,1 Perzentile). Wie bereits erwähnt, sollten Sie bei den Eltern auf entsprechende Merkmale und Disproportionen achten. Die Körperproportionen könne aber auch normal sein, wie der Fall von Erian mit der ACAN-Mutation zeigt, und genetische Ursachen für Kleinwuchs mit einer auf die Wachstumsfugen beschränkten Wirkung führen nicht zu Stigmata. Nicht jeder ist mit den unzähligen Syndromen vertraut, und es ist schwierig, Stigmata im Gesicht zu erkennen. Deshalb werden in diesen Fällen eine Überweisung zur genetischen Beratung und eine zusätzliche genetische Untersuchung empfohlen (Abbildung 3). Abbildung 3: Screening-Algorithmus für die Kinderarztpraxis für Kinder mit Kleinwuchs beziehungweise für im Vergleich zur Familie kleinwüchsige Kinder Gen oder im Signalweg des Wachstumshormons vorliegen, was zu einer Wachstumshormonresistenz führt. Spezielle Tests wie ein IGF1-Generationstest können diese Resistenz nachweisen. Gentests können Mutationen im IGF1-Gen, im Gen für den Wachstumshormonrezeptor oder in einem der am Wachstumshormonsignalweg beteiligten Gene aufzeigen. Zu klein, aber Wachstumskurve nicht abgeflacht: Wenn Kinder entlang derselben Perzentile wachsen und die Wachstumskurve nicht abflacht, hängt die Notwendigkeit weiterer genetischer Tests von der absoluten Körpergrösse (<- 3 SD oder < 0,1 Perzentile) und dem Abstand zur Zielgrösse (mehr als 2 SD) ab, auch wenn die Körpergrösse des Kindes noch im normalen Bereich liegt – vor allem, wenn das Knochenalter nicht erheblich retardiert ist. Bei Mädchen sollte ein Turner-Syndrom auch ohne eindeutige Anzeichen ausgeschlossen werden, wenn der Abstand zur Zielgrösse mehr als 2 SD beträgt. Kleinwuchs kann das einzige klinische Anzeichen für dieses Syndrom sein. Überprüfen Sie die Körperproportionen immer wieder, weil Disproportionen im Lauf der Jahre deutlicher werden können. Beispiele dafür sind Mädchen mit Turner-Syndrom sowie Kinder mit SHOX-Mangel oder Hypochondroplasie. In den meisten Fällen werden Sie die Disproportionen mit blossem Auge erkennen. Messen Sie die Sitzhöhe. Genetische Testverfahren Bei einem eindeutigen Verdacht auf ein Turner-Syndrom reicht das Karyogramm aus. In Fällen, in denen der Verdacht auf einen geringgradigen Mosaizismus besteht, ist die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH) besser geeignet. Mit einem Chromosomen-Mikroarray lassen sich Sequenzvarianten und Kopienzahlvarianten nachweisen. Besteht aufgrund der klinischen Anzeichen ein bestimmter Verdacht, sollten gezielte Gensequenzierungen oder Genpanels (z. B. RASopathien bei Verdacht auf Noonan-Syndrom, «Short-stature»-Panel bei idiopathischem Kleinwuchs) durchgeführt werden. Führt dies nicht zu einer Diagnose, wird eine umfassendere Screening-Analyse, das heisst eine Analyse des kompletten Exoms (Protein-codierende DNA, ca. 1–2% des gesamten Genoms) oder des kompletten Genoms mithilfe der Next-Generation-Sequencing-Technologie durchgeführt. Während die Interpretation von Analysen des gesamten Genoms noch problematisch ist, gilt die Exom-Sequenzierung bereits heute als Teil der genetischen Routinediagnostik. Die diagnostische Ausbeute kann durch die gleichzeitige Untersuchung der Eltern (Trio-Exom-Sequenzierung) gesteigert werden, wodurch gleichzeitig Befundungsprobleme aufgrund individueller genetischer Variationen unklarer Relevanz verringert werden. Warum Gentests sinnvoll sind Die Tatsache, dass Gentests teuer sind und deren Kostenerstattung in der Schweiz umständlich ist, kann zu einer gewisse Zurückhaltung führen, diese Tests anzuordnen oder eine genetische Überweisung zu veranlassen. Ein weiteres häufiges Argument gegen genetische Abklärungen ist, dass die Ergebnisse keine Veränderungen für das 10 Pädiatrie 3/23 Kind und die Familie mit sich bringen würden. Es kann jedoch sehr wichtig sein, etwas über die (familiäre) Erkrankung zu erfahren, eine lang ersehnte Antwort auf die Frage zu erhalten, warum das Kind anders ist als andere Kinder, und eine klare Prognose stellen zu können. Wenn eine genetische Erklärung für die Kleinwüchsigkeit gefunden wird, müssen das Kind und seine Familienmitglieder nicht mehr wiederholt auf andere Erkrankungen (z. B. hormonelle) getestet werden. Die genetische Diagnose ermöglicht überdies das Monitoring von assoziierten Erkrankungen und Komorbiditäten (z. B. wird bei Noonan-Syndrom-Patienten eine Überweisung zum Kardiologen empfohlen, weil Herzfehlbildungen bei ihnen besonders häufig vorkommen). Für eine wachsende Zahl an Erkrankungen werden Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. So hatten wir vor 5 Jahren nicht damit gerechnet, dass es eine Behandlung für Achondroplasie geben würde. Mit der Entdeckung von Vosoritid (Voxzogo®, in den USA und der EU, aber nicht in der Schweiz zugelassen), einem Analogon des natriuretischen Peptids vom Typ C, das auf die Wachstumsfuge einwirkt, kann die endgültige Körpergrösse bei diesen Kindern erheblich gesteigert werden. Diese Analoga haben ein vielversprechendes Potenzial bei Erkrankungen, bei denen ein Defekt in der Wachstumsfuge die Ursache für den Kleinwuchs ist. Bei Erkrankungen wie der PAPPAS2-Genmutationen, welche die IGF1-Bioverfügbarkeit verringern, kann eine erfolglose Therapie vermieden werden. In diesen Fällen hat die Wachstumshormontherapie keine klinische Wirkung; stattdessen sollte eine IGF1-Therapie durchgeführt werden. Es ist zu erwarten, dass in den kommenden Jahren bei immer mehr Kindern Erklärungen für ihre Kleinwüchsigkeit gefunden und die therapeutischen Möglichkeiten zunehmen werden. Schlussfolgerung Neben der klinischen und serologischen Untersuchung, einschliesslich Hormontests, sollten genetische Tests Teil der Abklärung bei Kleinwuchs sein. Haus- und Kinderärzte sind dafür prädestiniert, eine frühzeitige Diagnose und Therapie zu ermöglichen, wenn sie sich nicht scheuen, einem frühzeitigen Verdacht auf genetische Ursachen von Kleinwüchsigkeit nachzugehen und die Kinder an die entsprechenden Spezialisten zu überweisen. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Dr. med. Kees Noordam PEZZ, Pädiatrisch-Endokrinologisches Zentrum Zürich Möhrlistrasse 69 8006 Zürich E-Mail: kees.noordam@pezz.ch Danksagung: Mein Dank gilt Herrn Dr. med. Yvan Herenger, Facharzt für Medizinische Genetik (Genetica AG, Zürich) für das Lesen des Manuskripts und seine wertvolle Vorschläge. Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte in Bezug auf diesen Artikel bestehen. Schwerpunkt 3/23 Pädiatrie 11