Transkript
Schwerpunkt
Psychotherapie bei ADHS/ADS
Welche Strategien sind bei Kindern und Jugendlichen sinnvoll?
In diesem Artikel werden Elemente einer Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit ADHS/ADS vorgestellt. Dazu gehören unter anderem die Psychoedukation, die Definition der individuellen Therapieschwerpunkte mithilfe der Teilearbeit sowie das therapeutische Spiel. Ziel der Therapie ist nicht nur, den Kindern und Jugendlichen Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie besser mit alltäglichen Situationen zurechtkommen, sondern ihnen auch dabei zu helfen, ihre Stärken und Ressourcen zu erkennen und zu nutzen.
Von Svenja Reinhardt
Die Aufmerks amkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- bzw. Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS/ADS) ist ein komplexes Störungsbild, dessen Symptome (Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Impulsivität) unterschiedlich ausgeprägt sein können. Es zieht sowohl soziale als auch in der Folge weitere psychische Konsequenzen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen nach sich. Häufig treten komorbide Störungen auf. Bei bis zu 80 Prozent der Betroffenen werden Störungsbilder wie affektive Störungen oder Störungen des Sozialverhaltens diagnostiziert (1). Aufgrund der breiten Symptomatik und der verschiedenen betroffenen Lebensbereiche braucht es eine hohe Flexibilität und Methodenvielfalt im therapeutischen Vorgehen (siehe Tabelle 1). Der Leidensdruck ist bei den betroffenen Kindern und deren Familien oft sehr hoch und nimmt ab dem Schulalter aufgrund der erwarteten Anpassungsfähigkeit an strukturierte, hoch organisierte und komplexe soziale Situationen zu. Menschen mit ADHS/ADS können sich in diese Situationen weniger gut, weniger ruhig, selbstorganisiert und angepasst einfügen. Viele Kinder und Jugendliche haben aufgrund von mangelnden Selbstwirksamkeitsstrategien und häufigen negativen Rückmeldungen kompensatorische, selbstwertschützende Strategien entwickelt. Sie reagieren aggressiv, verweigern Aufgaben oder ziehen sich zurück. Die Beziehungen zu Lehrpersonen, Familienmitgliedern und Gleichaltrigen können dadurch belastet sein. Der Selbstwert hat zum Zeitpunkt des Therapiebeginns durch die belasteten Beziehungen sowie durch negative schulische Rückmeldungen oft schon stark gelitten und die Erfahrung, zu stören, nicht so leistungsstark oder liebenswert zu sein, wurde möglicherweise schon internalisiert. So ist ein Ziel der Therapie nicht nur, die Anpassungsfähigkeit und die Coping-Strategien der Patientinnen und Patienten mit ADHS/ADS an gesellschaftlich vorausgesetzte strukturierte Situationen zu erhöhen, sondern auch ihre besonderen Stärken bewusst zu machen, zu nutzen und in den Alltag zu integrieren: Die unerschöpfliche
Energie, der unersättliche Wissensdurst, die hohe Belastbarkeit, der hohe Sinn für soziale Gerechtigkeit, der Humor, die Kreativität u. v. m. können zu ungeahnten Ressourcen werden, welche die Kinder und Jugendlichen einsetzen können, um «zu leben wie alle Welt und doch wie kein anderer zu sein» (2).
Psychoedukation
Wenn ein Kind mit einer ADHS/ADS-Diagnose zum ersten Mal in die Therapie kommt, weiss es meist noch nicht genau, welche Verhaltensweisen im Alltag durch das ADHS/ADS erklärbar sind, welche Ursachen und Folgen der Symptomatik vorkommen können, wie es unterstützt werden könnte und welches seine Stärken und Ressourcen sind. Deshalb ist es wichtig, zunächst einige Zeit in eine sorgfältige Psychoedukation zu investieren. Hierfür eignet sich die gemeinsame Lektüre eines Kinderbuchs, welches die Schwierigkeiten von Kindern mit ADHS/ADS
Tabelle:
Übersicht der Behandlungsbereiche und der möglichen Methoden bei ADHS/ADS
Therapiefokus Psychoedukation/systemische Diagnostik Wahrnehmungsschulung/Steuerungshilfen Unterstützung der Regulation Förderung sozialer Kompetenz
Methode psychoedukative Methoden Teilearbeit Einführen von Erinnerungshilfen «skills» Selbstverbalisationen imaginative Entspannungsverfahren Psychodrama/Rollenspiele Selbstverbalisationen Gesellschaftsspiele Schematherapie erweiterte Teilearbeit Psychodrama soziales Kompetenztaining Gruppentherapie
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Abbildung: Teilearbeit mit einem Kind, bei dem störendes, aggressives Verhalten im Vordergrund steht
alltagsnah beschreibt und gleichzeitig schon erste Lösungsansätze aufzeigen kann (3). Da bei ADHS/ADS eine Beeinträchtigung der Neurophysiologie besteht, welche oft die Fähigkeit zur Selbststeuerung und -hemmung beeinträchtigt, kann es hilfreich sein, mittels Bildern, Modellen oder Büchern (4) dem Kind sowie seinen Eltern hirnphysiologische Hintergründe zu erklären. Ein Verständnis der neurophysiologischen Abläufe und möglicher Störungen ist ebenso wichtig wie ein erstes Aufzeigen von Möglichkeiten der Beeinflussung dieser Prozesse. Dies kann durch eine vorübergehende, in manchen Fällen unterstützende Medikation geschehen, langfristig vor allem aber auch durch ein schrittweises Erlernen der (emotionalen) Selbststeuerung sowie der begleitenden Co-Regulation durch die Eltern. Therapiebegleitend eignet sich bereits hier die situationsbezogene Einführung einzelner Übungen aus den sehr lesenswerten und kindgerechten Büchern von Dr. med. Claudia Croos-Müller (5).
Schwerpunktsetzung und Therapieplanung mittels Teilearbeit
Da Patientinnen und Patienten mit ADHS/ADS unterschiedliche Symptomschwerpunkte, Alltagsproblematiken und Bewältigungsstrategien entwickeln können, lohnt es sich zu Beginn der Therapie, neben der Erhebung von Anamnese, aktueller Situation und Symptomatik eine Verortung der belastenden Verhaltensweisen im inneren und äusseren System der Patientinnen und Patienten anzustreben. Das heisst, herauszufinden, wo ein besonderer Leidensdruck besteht, in welchem Zusammenhang innere
Konflikte vorherrschen und welche innere und äussere Lösungsversuche möglich sein könnten. Alfons Eichinger hat hierzu eine sehr differenzierte Aufstellungsarbeit mit Tierfiguren entwickelt. Er geht von vier menschlichen Grundbedürfnissen (Selbstwirksamkeit, Bindung, Selbstwert, Lust) aus, in deren Dienste Verhaltensweisen der Kinder als innere Lösungsversuche zu verstehen sind (6). Diese Lösungsversuche müssen von aussen betrachtet nicht immer in allen Lebensbereichen hilfreich sein, stellen aber für das Kind die momentan bestmögliche Abdeckung seiner inneren Grundbedürfnisse dar. ADHS/ADS-Betroffene haben häufig weniger effektive und lösungsorientierte Selbstwirksamkeitsstrategien. Deshalb erleben sie häufiger Misserfolge, bekommen negative Rückmeldungen und empfinden Hilflosigkeit. Kompensatorische Arbeitsverweigerung, störendes und aggressives Verhalten können die Folge sein. Dies führt zusätzlich zu belasteten Beziehungen in der Schule und im familiären Umfeld. Sowohl das Grundbedürfnis Selbstwirksamkeit als auch das Grundbedürfnis Bindung können nicht ausreichend abgedeckt und Selbstwertprobleme und Schulunlust die Folge sein. In der Aufstellungsarbeit wählen die Kinder zunächst meist drei Tierfiguren für äusserlich belastende und für hilfreiche Verhaltensweisen sowie für ihr steuerndes Selbst aus (Abbildung). Beispielsweise könnte ein Tier für aggressives, störendes Verhalten und ein anderes für gelingende Bindungsbeziehungen ausgewählt werden. Das steuernde Selbst zeigt an, wie das Kind zu seinem eigenen Verhalten steht, ob Teile abgelehnt oder im Gegenteil besonders stark betont werden. Oft ist das innere Team von Konflikten zwischen verschiedenen inneren Selbstanteilen geprägt. Diese gilt es in der Therapie schrittweise zu überwinden, Verhaltensweisen als positiven Lösungsversuch im inneren System zu begreifen und Ressourcen des Kindes zu nutzen. Diese Teilearbeit kann das Kind durch die Therapie begleiten und die Grundlage für die Therapieplanung sowie spezifische therapeutische Interventionen wie das Psychodrama bilden, in dem inneres Erleben handelnd dargestellt und innere Konflikte so überwunden werden können. Auch die familiären, möglicherweise die Problematik verstärkenden Reaktionen können mittels Teilearbeit veranschaulicht und systemische Lösungen gefunden werden. Zu diesem Zweck suchen die Kinder zu ihren Tierfiguren passende elterliche Figuren aus. Das familiäre System kann mit dem Schwerpunkt auf einzelne Beziehungen, auf spezifische Problemstellungen oder gesamthaft abgebildet werden. Konflikte und Ressourcen lassen sich so erkennen und bearbeiten. Die Eltern sind zumindest in den ersten Therapiesitzungen anwesend, um Prozesse zu verstehen und Lösungsansätze von vornherein mitzutragen. Sie erteilen in der Regel auch den Auftrag für die Psychotherapie.
Wahrnehmungsschulung und Einführen von Steuerungshilfen
Da bei Kindern mit ADHS/ADS Störungen der exekutiven Funktionen, wie des Arbeitsgedächtnisses, der Impulskontrolle, der Selbstregulation und der Aufmerksamkeitssteuerung vorliegen, ist es oftmals hilfreich, ein Lerncoaching sowie bestimmte Erinnerungs- und Lernhilfen in die Therapie zu integrieren. Hierzu ist eine enge Zusammenarbeit mit der Schule und den Eltern von grosser Bedeutung. Das Kind ist Teil eines sozialen Bezugssystems, das
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sein Verhalten wahrnimmt, beeinflusst und bewertet. Der Leidensdruck eines Kindes mit ADHS/ADS entsteht vor allem aus der Nichtpassung und den negativen Rückmeldungen aus diesen sozialen Bezugssystemen. Nicht nur die Anpassungsfähigkeit des Kindes sollte somit gefördert werden, sondern auch das Verständnis, die Unters tützung sowie die Reaktionen des Umfelds auf sein Verhalten. Mittels visueller Hilfen, wie zum Beispiel Bilder, mehrfarbige Armbänder oder Erinnerungsstützen durch die Lehrperson können Kinder auf den jeweiligen Fokus ihrer Aufmerksamkeit hingewiesen, Pausen, Bewegungselemente, zusätzliche Unterstützungshilfen (Kopfhörer o. ä.) eingeführt und/oder eine Rückfokussierung zum Unterrichtsgeschehen angestrebt werden. Ein mehrfarbiges Armband (z. B. grün-orange-rot) kann in der Therapie gemeinsam gebastelt und den Bedürfnissen des Kindes entsprechend gestaltet werden. Es kann dem Kind als Selbsteinschätzung dienen oder als visuelle Rückmeldungs- sowie Erinnerungsstütze genutzt werden. Dies können allerdings auch Lehrpersonen und Eltern direkt übernehmen, indem sie häufigere, wohlwollende Besuche am Pult des Kindes einplanen und direkt visuelle oder verbale Rückmeldungen geben. Sogenannte Time-Timer arbeiten ebenfalls mit einer visuellen Veranschaulichung zeitlicher Abläufe und können zum Beispiel in Lern- und Hausaufgabensituationen helfen, Arbeitseinheiten zu strukturieren und Pausen bewusst zu planen. Auch können «skills» wie Stressbälle, Stressringe, Fidget Cubes o. ä. eingeführt werden, welche die Regulation in strukturierten Situationen gezielt unterstützen können. Zusätzlich können Elemente aus dem Selbstverbalisationstraining von Lauth & Schlottke in die Therapie integriert werden (7). Die Kinder lernen hier, mithilfe von verbalem Kommentieren ihrer Tätigkeiten ihre Aufmerksamkeit zu steuern und ihr Arbeitsverhalten zu beeinflussen. Einzelne Elemente dieses Selbstverbalisationstrainings finden sich auch in den Kapitän-Nemo-Geschichten von Ulrike Petermann (8). Es handelt sich um ein imaginatives Entspannungsverfahren, das Selbstverbalisationen mit emotionalen und körperlichen Elementen verknüpft (Erleben von Abenteuern, Ansprechen von Sinnesqualitäten, ritualisiertes Wiederholen beruhigender Selbstverbalisationen). Auch Tricks gegen Vergesslichkeit oder gegen das Verlieren von Gegenständen können in den Alltag integriert werden, zum Beispiel Armbänder mit Erinnerungshilfen, Gummibänder oder Karabiner zum Festhalten von kleinen Gegenständen, Tagesplaner usw. Die Kinder und ihre Familien merken oft gut, was am besten für sie funktioniert. Die Schwierigkeit besteht darin, die «skills» und Erinnerungshilfen mittels klarer Strukturierung und Ritualisierung fest in den Alltag zu integrieren. Das Erlernen von Strategien, mit deren Hilfe das eigene Verhalten besser wahrgenommen und gesteuert werden kann, kann die Selbstwirksamkeit des Kindes deutlich erhöhen. Wenn auch das Umfeld unterstützend reagieren kann und sich das Kind angenommen und integriert fühlt, können Überforderung, Rückzug und soziale Konflikte weitgehend vermieden, der Selbstwert gestärkt und der Fokus von einer Defizit- hin zu einer Ressourcenorientierung gelenkt werden. So können innere und äussere Lösungen gefunden werden, die weniger belastend sind und welche die Grundbedürfnisse gleichmässiger abdecken.
Regulation und Co-Regulation im therapeutischen Spiel
Kinder im Allgemeinen und ganz besonders Kinder mit ADHS/ADS benötigen für ihre Regulation Unterstützung durch erwachsene Bezugspersonen. Ihre Fähigkeit, das eigene Verhalten durch Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstverstärkung zu steuern, kann gezielt im Spiel gefördert werden. Im psychodramatischen Symbolspiel nehmen die Kinder eine Rolle an, die emotionale Probleme ausdrückt und belastende Situationen besonders gut veranschaulichen kann. Diese Art des Spiels eignet sich insbesondere für Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren (9). Durch bestärkendes, spiegelndes und unterstützendes Verhalten der Therapeutinnen und Therapeuten können alternative Konfliktlösungen handelnd ausgedrückt und Veränderungen angestossen werden; sie übernehmen in ihrer Rolle auch eine beobachtende und prozessbegleitende Funktion. Sie können ein Verhalten je nach Fokus (fragend, bestärkend, bewundernd) kommentieren, in andere Rollen auslagern und entsprechend modulieren (Gefühle ausdrücken, das Tempo variieren usw.). Die Kinder nehmen sich so selbst besser wahr, ohne dass ihr Verhalten explizit benannt oder (negativ) bewertet wird. Regulative Prozesse können im Verlauf des Spiels durch Rollen von «Gehilfen», «Freunden», «erwachsenen Bezugspersonen» angeboten und aktiv eingebaut werden. Beispieslweise kann ein Kind in der Rolle eines wildenTieres schlüpfen, das normalerweise immer sofort angreift und reagiert. Im Verlauf des Spiels kann es einem tierischen Freund zum Beispiel seine Strategien zur Beobachtung und zum Angriff von potenziellen Feinden erklären und ihm diese beibringen. Durch das genaue Beobachten können Bewertungen neu stattfinden und eigenes Verhalten kann neu ausgerichtet und verstärkt werden (z. B. Abwarten und Beobachten, um Situationen einschätzen zu können). Selbstverbalisationen unterstützen die Regulation zusätzlich und können ebenfalls in das Spiel Eingang finden. Somit stehen vielfältige Möglichkeiten offen, um regulative Prozesse im therapeutischen Symbolspiel zu beobachten, zu verdeutlichen und zu verändern. Auch herkömmliche Gesellschaftsspiele (z. B. Gruselino, Dobble, Geistesblitz) eignen sich, um Reaktionen zu verzögern und Beobachtungsprozesse sowie zielorientiertes Verhalten zu fördern. Spiele, in denen Merkmale zunächst differenziert und erst dann entsprechend bewertet werden können, erfordern eine gewisse Reaktionsverzögerung. Die Therapeutinnen und Therapeuten können auch hier laut kommentierend eigene Strategien aufzeigen, damit das Kind diese Selbstverbalisationen übernehmen und sich eigener innerer Abläufe und Entscheidungsprozesse bewusst werden kann. Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen können stets in die Therapie einbezogen werden. Belastete Beziehungen werden so verbessert, Verständnis wird geschaffen und Eltern werden in ihrer wichtigen Rolle als Co-Regulatoren bestärkt.
Förderung sozialer Kompetenz und Gruppentherapie
Viele Kinder und Jugendliche mit ADHS/ADS leiden besonders unter den sozialen Problemen und negativen Rückmeldungen ihres Umfelds in der Schule und zu Hause. Deshalb kann ein möglicher Hauptfokus der The-
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rapie im Verlauf und je nach Leidensdruck auch die Arbeit an sozialen Interaktionen sein. Auch hier kann Einzelarbeit mit den Patientinnen und Patienten hilfreich sein. So können zum Beispiel mittels Bildkarten aus der Schematherapie eigene Bedürfnisse und Reaktionen ermittelt werden (10). Auch die entsprechenen Reaktionen der Anderen werden aufgezeigt und dahinterstehende Bedürfnisse bewusst gemacht. So entsteht eine Bildfolge, die Reaktionsketten, Teufels- oder Engelskreise und dahinterstehende, handlungswirksame Bedürfnisse und Emotionen aufzeigt. Dies schafft ein erstes Verständnis sowie Ansatzpunkte für die weitere Arbeit. Auch Elemente aus herkömmlichen sozialen Kompetenztrainings (11) sowie Teilearbeit und Psychodrama können die sozialen Stärken der Patientinnen und Patienten hervorheben, den Selbstwert stärken und helfen, die eigenen sozialen Ressourcen zu nutzen. Oftmals finden sich bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS/ADS eine hohe Empathiefähigkeit, Sensibilität und ein hoher Gerechtigkeitssinn. Durch die negativen Reaktionen Anderer auf die erhöhte Impulsivität und Hyperaktivität können diese aber teilweise nicht gezeigt und genutzt werden. Das Verständnis für diese Teufelskreise, eigene Stärken und deren Nutzbarkeit sowie das Einüben situationsangemessener Verhaltensweisen sind hier von grosser therapeutischer Bedeutung. Besonders wirksam sind natürlich Settings, in denen die Kinder und Jugendlichen mit Gleichaltrigen zusammentreffen, gemeinsame Erfahrungen machen und üben können. Hier reicht die Bandbreite von sozialen Kompetenzgruppen über soziale Gruppen mit bestimmtem Fokus (z. B. Theater- oder Bouldergruppen) bis hin zu Psychodramagruppen.
Ansichtssache
Die therapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS/ADS bedeutet die stets einzigartige Begegnung mit vielen verschiedenen jungen Menschen, die gemeinsame Merkmale aufweisen, welche oft zu Schwierigkeiten im Alltag und in der Interaktion mit anderen Menschen führen. Nicht zu vergessen ist allerdings auch, dass häufig ein grosser Ressourcenreichtum vorhanden ist, der
eben auch für genau diese neugierigen, kontaktfreudigen, spontanen und kreativen Kinder und Jugendlichen typisch ist. Den Fokus auch dorthin zu lenken und das Umfeld zu integrieren, hilft, eine positive Einstellung zu sich selbst und zu anderen zu gewinnen und negative Erfahrungen nicht so zu verinnerlichen, dass das eigene Selbstbild und der eigene Selbstwert leiden. Das bedeutet möglicherweise aber auch, unser eigenes (Bewertungs) System so zu hinterfragen, dass wir offener werden für die individuelle Vielfalt und damit auch für die Förderung von Stärken, die scheinbar nicht immer optimal in unsere bereits bestehenden Systeme und Strukturen passen.
Korrespondenzadresse: Svenja Reinhardt Psychotherapeutin FSP Sempacherstrasse 15 6003 Luzern E-Mail: info@psychotherapie-reinhardt.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Literatur: 1. Döpfner M: ADHS bei Schulkindern. Pädiatrie. 2010;16(2):4-10. 2. Spitzer G: Warum zappelt Philipp? Verlag Carl Ueberreuter Wien, 2010. 3. Rietzler St, Grolimund F: Lotte, träumst du schon wieder? Hogrefe Verlag Göttingen, 1. Aufl., 2020. 4. Ip B: Mein Gehirn – das Wunder erklärt. Usborne Verlag Regensburg, 1. Aufl., 2021. 5. Croos-Müller C: Kopf hoch – Das kleine Überlebensbuch. Kösel Verlag München, 2015. 6. Aichinger A: Aufstellungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, Symbolaufstellung und Teilearbeit. In Stadler Ch, Kress B: Praxishandbuch Aufstellungsarbeit. Springer Verlag Wiesbaden, 1. Aufl., 2020. 7. Lauth GW, Schlottke PF: Training mit aufmerksamkeitsgestörten Kindern. Beltz Weinheim, 7.Aufl., 2019. 8. Petermann U: Die Kapitän-Nemo-Geschichten. Hogrefe Verlag Göttingen, 21.Aufl., 2021. 9. Aichinger A: Kinderpsychodrama, Band 3. Einzel- und Familientherapie mit Kindern. VS Verlag für Sozialwissenschaften Springer Wiesbaden, 1. Aufl., 2012. 10. Graaf P: Schematherapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Julius Beltz GmbH & Co Weinheim, 2016. 11. Jugert G et al.: Fit for Life. Module und Arbeitsblätter zum Training sozialer Kompetenz für Jugendliche. Juventa Verlag GmbH Weinheim, 9. Aufl., 2011.
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