Transkript
Schwerpunkt
Medikamentöse ADHS-Therapie
Was ist im Kindesalter zu beachten?
Am meisten lernen wir nicht aus Büchern oder Fachartikeln, sondern von und mit unseren Patienten und deren Familien. In diesem Sinn möchte ich in diesem Beitrag meine persönliche Vorgehensweise bei der medikamentösen Therapie von Kindern mit ADHS erläutern. Die Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Therapie bei ADHS liegt bei den Eltern. Wir müssen sie dabei bestmöglich und verständlich beraten, ohne sie zur Therapie zu drängen. Der zweite Teil des Artikels ist der Dosisfindung und der langfristigen Betreuung während der medikamentösen ADHS-Therapie gewidmet.
Von René Kindli
Nach einer ausführlichen Abklärung von Kevin sitzen seine Eltern bei mir im Sprechzimmer zum Diagnosegespräch. Nach Ausführungen über die Diagnose ADHS erläutere ich die Therapieoptionen: Psychoedukation, Ergotherapie, Förderung der Stärken, Entlastung von besonders stressigen Situationen, wie zum Beispiel Hausaufgaben usw., erwähne ich schliesslich, dass es bei Bedarf noch Medikamente zur Förderung der Konzentration gebe. Wie so oft sind auch hier deutliche Widerstände vonseiten der Mutter spürbar. Wie geht man am besten damit um?
Über Medikamente ohne Druck sprechen
Eigentlich ist es bei jeder Therapie das Gleiche: Die besten Therapieresultate werden erreicht, wenn der Patient gut informiert ist und sich bewusst für die Therapie entscheidet (sog. informed consent). Deshalb ist es nicht an uns Ärzten allein, die Entscheidung zu treffen. Auch die Geschwindigkeit des Vorgehens wird vom Patienten bestimmt. Früher habe ich bei einem grossen Leidensdruck der Familie und des Kindes öfters versucht, die Eltern offensiv zu einem Therapieversuch mit Medikamenten zu drängen. Es dauerte erstaunlich lange, bis ich gespürt habe, dass dieser Kampf gegen die Widerstände hoffnungslos ist. Oft sind diese Eltern nie mehr zu mir in die Praxis gekommen. Glücklicherweise durfte ich während den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel von und mit meinen Patienten und deren Eltern lernen. Die Experten für den Patienten sind die Eltern und/oder der Patient selbst. Als Arzt bin ich nur der Coach, der Berater. Diese Haltung erspart mir grossen Druck im Umgang mit dem Patienten. Bevor ich etwas über die Medikation erzähle, bitte ich die Eltern, mir einfach kurz zuzuhören, wobei ich folgende Punkte betone: «Die Entscheidung, ob Ihr Kind ADHSMedikamente bekommt oder nicht, fällen nur Sie, nicht die Schule und schon gar nicht der Arzt, sondern nur Sie allein. Das Ziel der Medikamente ist, dass sich das Kind besser konzentrieren und seine Impulse besser kontrollieren kann. Dabei darf das Wesen des Kindes nicht verändert werden. Die meisten Eltern haben Angst davor, dass
diese Medikamente aus ihrem Kind einen Zombie machen könnten. Ja, das ist möglich, nämlich dann, wenn wir die Medikamente überdosieren. Und das ist natürlich ein absolutes No-Go.» Anschauliche Vergleiche helfen, den Eltern und dem Kind das Wesentliche der ADHS-Medikamente verständlich zu machen: «Diese Medikamente lassen sich mit einer Brille vergleichen. Ich selbst habe eine ausgeprägte Seh schwäche. Wenn ich morgens aufstehe, sehe ich sehr schlecht. Dann ziehe ich meine Brille an und funktioniere über den ganzen Tag. Abends lege ich meine Brille wieder ab und bin dann sozusagen wieder im Originalzustand. Genauso ist es auch mit diesen Medikamenten. Sie wirken einige Stunden und dann sind sie wieder weg.» Im Rahmen der Informationen über die Diagnose ADHS sollte man erwähnen, dass bei Personen mit ADHS im Frontalhirn zu wenig Botenstoffe (Neurotransmitter) vorhanden sind. Damit wird verständlich, dass genau hier die Wirkung der Medikamente einsetzt. Sie sind Ersatzbotenstoffe, welche die Reizfilter verbessern und damit das Fokussieren auf eine ganz bestimmte Sache ermöglichen.
Wann braucht es überhaupt Medikamente?
Das Entscheidende ist der Leidensdruck. Ohne Leidensdruck braucht es keine Medikamente. Zurück zu den Eltern von Kevin: Der Vater findet, dass der Junge einen grossen Leidensdruck habe und deshalb sollten wir es mit Medikamente versuchen. «Nein, ganz bestimmt nicht. Da bin ich vollkommen dagegen», kontert die Mutter. Jetzt muss ich als Arzt aufpassen, dass ich nicht für einen Elternteil Partei ergreife, sondern Druck aus der Situation nehme. Die Entscheidung für eine bestimmte Therapie wird üblicherweise nicht bereits während des Diagnosegesprächs gefällt. In der Regel vereinbare ich einen Termin vier Wochen später, damit sich meine Informationen setzen und allfällige Fragen formuliert werden können. Vier Wochen später: Zwischenzeitlich hat in der Schule ein Elterngespräch stattgefunden. Dort wurde der Mutter nochmals vor Augen geführt, wie schwierig die Situation für Kevin in der Schule sei. Er lässt sich leicht ablenken, kann seine Arbeiten nicht beginnen, hat an den Prüfun-
Das Ziel der Medikamente ist, dass sich das Kind besser konzentrieren und seine Impulse besser kontrollieren kann.
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Tabelle:
ADHS-Medikamente in der Schweiz (SL)
Wirkstoff Stimulanzien Methylphenidat (MPH) Dexmethylphenidat Dexamphetamin Lisdexamfetamin
Präparat
Concerta® Equasym® XR Medikinet® Medikinet® MR Methylphenidat Sandoz Methylphenidat-Mepha Methylphenidat-Mepha LA Ritalin® Ritalin® LA Focalin® XR Attentin® Elvanse®
Dosierungen
18, 27, 36, 54 mg 10, 20, 30 mg 5, 10, 20 mg 5, 10, 20, 30, 40 mg 18, 27, 36, 54 mg 18, 27, 36, 54 mg 10, 20, 30, 40 mg 10 mg 20, 30, 40 mg 5, 10, 15, 20 mg 5, 10, 20 mg 20, 30, 40, 50, 60, 70 mg
Retardanteil
Ja Ja – Ja Ja Ja Ja – – Ja – –
Nichtstimulanzien
Guanfacin
Intuniv®
Atomoxetin
Atomoxetin Xiromed
Atomoxetin Mepha
Strattera®
1, 2, 3, 4 mg
Ja
10, 18, 25, 40, 60, 80, 100 mg
–
10, 18, 25, 40, 60, 80, 100 mg
–
10, 18, 25, 40, 60, 80, 100 mg
–
Trinklösung 4 mg/ml
Quellen: www.spezialitätenliste.ch und www.compendium.ch, Stand: 20. Februar 2023 L: Limitatio: SB: Selbstbehalt; 1 Limitatio für 200-St.-Packung; 2 nur Second-Line-Gebrauch
L, SB
L, SB: 20% – – – L L – L1 – L L L2
L2 L2 L2 L2, SB: 20% L2
gen zu wenig Zeit, kann nicht lange genug an den Aufgaben dranbleiben. Nun ist auch die Mutter mit einem Therapieversuch einverstanden. In dieser Situation betone ich nochmals, dass die Entscheidung für die medikamentöse Behandlung nur bei den Eltern liegt und dass wir die Medikation jederzeit stoppen können, falls die Medikamente nicht helfen oder mehr Nebenwirkungen als positive Wirkungen haben.
Welche Nebenwirkungen sind möglich?
Wie immer gilt es, offen und transparent zu kommunizieren, ohne dabei den Teufel an die Wand zu malen. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass alle Nebenwirkungen, die auftauchen können, nur so lange andauern, wie das Medikament wirkt; sie sind also reversibel. Zudem treten die Nebenwirkungen sofort auf. Hier bietet sich wieder der Vergleich mit der Brille an: Habe ich eine unpassende Brille auf, spüre ich das sofort und nicht erst nach zwei Monaten. Die häufigste Nebenwirkung ist der Appetitverlust während der Wirkungsdauer des Medikamentes. Oftmals ist es so, dass die Kinder über die Mittagszeit wenig essen. Am späteren Nachmittag verspüren sie grossen Hunger. Häufig wird dann nachgeholt, was tagsüber zu wenig gegessen wurde. Teilweise kann es abends sogar zu regelrechten «Fressattacken» kommen, die dann von den Betroffenen und den Eltern auch negativ erlebt werden können. Nicht selten normalisiert sich dieses Phänomen nach einigen Wochen regelmässiger Medikamenten einnahme. Eine andere Nebenwirkung, die häufig genannt wird, ist die Einschlafstörung. Dazu kommt es insbesondere dann, wenn der Zeitpunkt des Einschlafens mit dem Nachlassen der Medikamentenwirkung zusammenfällt. Hier ist es wichtig, darauf zu achten, dass die Medikamenteneinnahme nicht zu spät erfolgt. Nicht selten berichten die
Eltern, dass das Kind unter der Medikation deutlich später einschlafe, morgens aber fit und ausgeschlafen wirke. Das lässt sich folgendermassen interpretieren: Unter einer geeigneten Medikation fällt dem Kind der Alltag wesentlich leichter, sodass das Kind am Abend weniger erschöpft ist und somit später in den Schlaf findet. Die ADHS-Medikation kann nicht nur auf die Konzentration Auswirkungen haben, sondern auch auf die Gefühlslage. Es gibt Kinder, die sich mit den Medikamenten glücklicher und ausgeglichener fühlen. Es gibt aber auch diejenigen, die sagen, dass sie sich zwar besser konzentrieren könnten, sich aber schlechter fühlten. Diese Kinder empfinden, nicht mehr sie selbst, sondern emotional eingesperrt zu sein. Andere Kinder fühlen sich normal, werden aber von aussen als sehr ruhig oder als fast depressiv wahrgenommen. Das ist natürlich nicht das Ziel der Medikation. Ich betone den Eltern gegenüber immer wieder, dass die Medikamente das Kind nicht verändern, sondern dem Kind helfen sollen, sich besser zu konzentrieren und zu kontrollieren. Im Zusammenhang mit den möglichen Nebenwirkungen sollte auch der Reboundeffekt angesprochen werden. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das besonders bei den Stimulanzien vorkommt. Mit dem Nachlassen der Medikamentenwirkung kann es zu einem emotionalen Chaos im Sinne einer depressiven Verstimmung oder zu massiven aggressiven Ausbrüchen kommen. Zum Beispiel berichtete mir eine Mutter, dass ihr Kind immer um 16 Uhr unerträglich werde. Mit einer besseren Einstellung der Medikation bekommt man dieses Problem meistens gut in den Griff.
Angst vor Abhängigkeit
Eine grosse Angst der meisten Eltern ist, dass ihre Kinder von dem Medikament abhängig werden könnten. Der Wirkstoff Methylphenidat (MPH) wurde 1944 von Lean-
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dro Panizzon synthetisiert. Es gibt kaum ein anderes Medikament, zu dem so viele Studien publiziert wurden wie zu MPH. Vielfach konnte klar gezeigt werden, dass MPH bei ADHS-Betroffenen keine Sucht auslöst. Ganz anders sieht das bei Menschen ohne ADHS aus: Wenn diese beispielsweise abends um 22 Uhr einen Vortrag vorbereiten wollen und MPH einnehmen, um wach und konzentriert zu bleiben, entspricht das einem Missbrauch mit eindeutigem Suchtpotenzial.
Wie lang braucht es das Medikament?
Oft werde ich gefragt: «Wie lang muss mein Kind dieses Medikament nehmen»? Meine Standardantwort lautet: «So lang, wie es das Medikament braucht.» Bei den meisten Kindern ist das die gesamte Dauer der Schulzeit. Nach dem Übergang in die Lehre ist der Bedarf individuell unterschiedlich: Manche Jugendliche benötigen das Medikament zwar noch in der Gewerbeschule, aber nicht mehr bei der Arbeit, weil diese idealerweise spannend ist, sodass die eigene Basisaufmerksamkeit ausreicht, um gute Leistungen zu erbringen. Zudem handelt es sich bei ADHS um eine Entwicklungs verzögerung im Frontalhirn, die sich auswachsen kann. Man geht davon aus, dass bei einem Drittel der Kinder mit ADHS die Symptome bis zum Ende der Hirnreifung (etwa 28. Lebensjahr) komplett verschwinden. Bei einem Drittel schwächen sich die Symptome ab und bei dem letzten Drittel bleiben die ADHS-Symptome zeitlebens bestehen. Man soll das Medikament dann nehmen, wenn man es braucht. Dieser Satz gilt auch im Alltag. Es gibt viele Betroffene, die ihre Medikamente nur an den Schultagen und nicht am Wochenende oder in den Ferien einnehmen. Davon rate ich ab, falls das Medikament eine positive Wirkung auf die emotionale Befindlichkeit hat. Die Kinder und ihre Familien sollen sich auch in der Freizeit wohlfühlen. Wird das Medikament hingegen primär zur Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit eingesetzt, kann es am Wochenende ohne negative Folgen weggelassen werden. Auch hier bediene ich mich der Metapher Brille: Ich brauche meine Lesebrille nicht zum Tennisspielen, und sie funktioniert immer noch genauso gut, wenn ich sie zwischendurch tagelang nicht getragen habe.
Beginn der Medikation
Auf das früher oft geforderte EKG und die Laboruntersuchungen vor dem Start der ADHS-Medikation kann meist verzichtet werden. Anders als bei Antibiotika, die in mg pro kg Körpergewicht dosiert werden, ist die Dosierung der ADHS-Medikamente individuell sehr unterschiedlich. Diese Dosierung gilt es nun herauszufinden. Auch hier passt wieder der Vergleich mit der Brille: So wie der Optiker zuerst ein dünnes Glas ausprobiert und dann immer dickere Gläser einsetzt, startet man bei den Medikamenten mit einer Minimaldosierung, um dann bis zu einer optimalen Wirkung aufzudosieren. In der Schweiz sind 12 Medikamente zur Behandlung des kindlichen ADHS zugelassen (Tabelle). Ich starte immer mit 5 mg MPH (Medikinet® MR 5 mg). Dieses Präparat enthält 50 Prozent schnell wirksames MPH und 50 Prozent retardiertes MPH. Früher lautete die Empfehlung, die Eintitrierung mit einem schnell wirksamen MPH durchzu-
führen. Unterdessen erlauben die Leitlinien auch die Aufdosierung mit Retardpräparaten. Das hat sich sehr gut bewährt. Bei den meisten Menschen wirkt Medikinet® MR etwa 5 bis 7 Stunden. Da der Stoffwechsel der Patienten sehr unterschiedlich schnell arbeitet, gibt es Personen, bei denen die Wirkung schon nach 3 bis 4 Stunden abflacht. Ich erstelle für die Eltern eine Liste mit Vorschlägen für die Medikation für die nächsten 2 Wochen. Nach 2 Tagen Medikinet® MR 5 mg steigere ich für 2 Tage auf 10 mg und dann alle 2 Tage um weitere 5 mg. Nach 5 bis 6 Tagen sollen die Eltern eine erste Rückmeldung per E-Mail geben. Nach 2 Wochen erfolgt eine Konsultation zusammen mit dem Kind. Bei Fragen sollen sich die Eltern vorgängig per E-Mail bei mir melden. In dieser Situation ist es wichtig, dass Fragen oder Unsicherheiten sofort geklärt werden können. Häufig lese ich im ersten E-Mail nach 5 Tagen, dass überhaupt keine Wirkung spürbar sei. Beim MPH gibt es keine Maximaldosierung, ab der Nebenwirkungen auftreten. Auch wenn man immer wieder liest, dass 1 mg/kg Körpergewicht eine optimale MPH-Dosierung sei, richte ich mich nur nach den positiven und negativen Wirkungen der jeweiligen Dosis. Solange sich das Kind wohlfühlt, die Eltern keine psychischen Veränderungen im Sinne einer Ruhigstellung bei ihm beobachten und Puls und Blutdruck normal sind, kann die Dosis gesteigert werden. So gibt es durchaus Primarschüler, bei denen sich erst mit 50 bis 60 mg/Tag MPH eine gute Wirkung zeigt. Zwei Wochen nach Beginn der Medikation sehe ich das Kind mit seinen Eltern in der Sprechstunde. Ich wende mich zuerst an das Kind und frage, was es von den Tabletten spürt. Gerade im Primarschulalter geben die Kinder oft an, nichts von der Medikation zu spüren. Ich frage gezielt nach Nebenwirkungen. Wenn auch diese verneint werden, sind die Eltern mit ihren Beobachtungen an der Reihe. Häufig bekomme ich folgende Rückmeldung: Die Hausaufgaben werden viel schneller erledigt, insgesamt haben wir viel weniger mühsame Diskussionen. Das Kind sei ausgeglichener und habe weniger Wutausbrüche. Dann frage ich das Kind, ob es diese Beobachtungen auch gemacht hat. Oft bestätigen die Kinder die Aussagen der Eltern. Ein Kind hat mir einmal geantwortet: «Wenn ich die Tabletten nehme, ist die Mama viel lieber und schimpft viel weniger.» Je jünger das Kind ist, desto weniger präzise sind die Angaben. Andererseits gibt es auch Erstklässler, die schon sehr differenziert über die Wirkung der Medikation Auskunft geben können. Falls das Kind nichts spürt, sind mir vor allem die indirekten Zeichen sehr wichtig. Wie verhält sich das Kind bei der Medikamenteneinnahme? Gibt es grosse Widerstände? Wenn ein Kind sich weigert, die Medikamente zu nehmen, hat das einen Grund – und wieder passt der Vergleich mit der Brille: Kaum ein Kind freut sich darauf, eine Brille zu bekommen. Nach kurzer Zeit spüren die Kinder aber, dass ihnen die Brille hilft und setzen sie jeden Morgen freiwillig auf. Weigert sich ein Kind, die Medikamente einzunehmen, gilt es, den Grund dafür herauszufinden: Liegt es an der Galenik, dem Geschmack oder der empfundenen Wirkung? Bekommt man widersprüchliche Angaben, lohnt es sich, die Haltung zu den Medikamenten auch in der erweiterten Familie (Grosseltern, Paten usw.) abzufragen. Nicht selten stehen die Kinder in einem Loyalitätskonflikt, wenn beispielsweise die Eltern den Einsatz der Medikamente befürworten und die Grosseltern strikt dagegen sind.
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ADHS-Verlauf Checkliste www.rosenfluh.ch/qr/adhs-checkliste
Korrespondenzadresse: Dr. med. René Kindli Kinder- und Jugendmedizin Weiherring 10 9493 Mauren LIE E-Mail: rkindli@hin.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Sollen die Lehrpersonen bei der Medikamenteneinstellung miteinbezogen werden und wenn ja, ab welchem Zeitpunkt? Wenn immer möglich, sollten die Beobachtungen der Lehrpersonen miteinbezogen werden. Im Idealfall wird die Lehrperson von Anfang mit ins Boot genommen. Das funktioniert aber nicht, wenn die Lehrperson kategorisch gegen ADHS-Medikamente eingestellt ist. Glücklicherweise ist dies nur selten der Fall. Öfters informieren die Eltern die Lehrperson primär nicht, und fragen nach 2 Wochen nach, wie es so laufe in der Schule. Häufig melden sich die Lehrpersonen aber bereits vorher bei den Eltern, weil sich das Kind bezüglich Aufmerksamkeit, Geschwindigkeit und häufig auch bezüglich des Schriftbildes auffällig verbessert hat – eine objektive Beurteilung des positiven Medikamenteneffekts.
MPH-Therapie optimieren
Laut Studien haben die Medikamente etwa bei 80 Prozent der Kinder mit ADHS eine positive Wirkung. Teilweise findet man bereits in der ersten Konsultation die richtige Dosierung mit dem richtigen Medikament. Leider ist das die Ausnahme. Häufig sieht man positive, aber auch negative Wirkungen. Nun gilt es, die Einstellung so zu optimieren, um eine möglichst gute Wirkung bei möglichst wenig Nebenwirkungen zu erreichen. Der Wechsel auf ein anderes MPH-Präparat, beispielsweise Methylphenidat Mepha in der gleichen Dosierung, ist eine Möglichkeit, falls mit dem vorhergehenden P räparat eine gute Wirkung erzielt wurde. Trotz eingehender Forschung in den letzten Jahren gibt es nach wie vor keine zuverlässigen Biomarker, mit denen die perfekte Medikation für ein bestimmtes Kind vorhergesagt werden kann. Somit funktioniert die Einstellung der Medikation nach dem Prinzip Versuch und Irrtum. Es gilt hier sehr gut auf die Kinder und die Eltern zu hören und immer wieder nachzufragen. Beispielsweise ist es entscheidend, wann gewisse Nebenwirkungen auftreten: Bekommt ein Kind regelmässig 1 bis 2 Stunden nach der Einnahme der M edikation Bauchschmerzen, so spricht dies für eine Überdosierung. Bekommt ein Kind jeweils nachmittags um 15 Uhr Kopfschmerzen, so spricht das für eine Reaktion auf das Nachlassen der Wirkung. In diesem Fall sollte auf ein Medikament gewechselt werden, das eine längere Wirkungsdauer hat oder bei dem die Wirkung weniger steil abfällt. Manchmal braucht es mehrere Versuche, bis man das richtige Medikament gefunden hat.
Andere Substanzen als MPH
Wie schon erwähnt, wird die Medikation im Normalfall mit MPH gestartet. Findet sich kein geeignetes MPH-Präparat, gibt es heute glücklicherweise Alternativen. Von den Stimulanzien sind hier die Amphetamine zu nennen. Der wichtigste Vertreter ist das Lysdexamphetamin (LDX) mit einer Wirkungsdauer von 12 bis 13 Stunden. LDX gilt als Second-Line-Präparat und wird somit von der Krankenkasse nur dann bezahlt, wenn ein gescheiterter Therapieversuch mit MPH vorgängig erfolgt ist. Die Wirkungsweise und auch die Nebenwirkungen entsprechen in etwa denen von MPH. Komplett anders ist der Wirkungsmechanismus bei den anderen beiden Stoffklassen, Nichtstimulanzien Guanfacin (GNA) und Atomoxetin (ATM). Hier muss ein Spiegel aufgebaut werden, bis die volle Wirksamkeit erreicht ist. Dafür haben GNA und ATM eine über 24 Stunden an-
haltende, gleichmässige Wirkung. Bei GNA dauert es eine Woche bis eine Wirkung spürbar wird. Der volle Effekt tritt nach zirka 2 Wochen auf. Beim ATM dauert es etwas länger (ca. 3 Wochen); der volle Effekt tritt nach etwa 6 Wochen ein. Die Effektstärke liegt bei beiden Präparaten deutlich unter derjenigen der Stimulanzien. Der grosse Vorteil dieser Medikamente besteht in ihrer gleichmässigen Wirkung über 24 Stunden. Zudem haben sie keinen Einfluss auf den Appetit. Nachteile sind neben der schwächeren Wirkung die tägliche Einnahme, auch am Wochenende und in den Ferien. GNA führt vor allem zu Beginn oft zu einer ausgeprägten Müdigkeit. Deshalb empfehle ich die Einnahme abends vor dem Schlafengehen. Für 2 bis 3 Tage kann GNA auch zu Tagesmüdigkeit führen. Aus diesem Grund starte ich die Therapie üblicherweise am Freitagabend, so dass diese Nebenwirkung bis zum Montag überwunden sein sollte. GNA hat eine gute Wirkung bezüglich der inneren Unruhe, und es führt oft auch zu einer verbesserten Impulskontrolle. Falls die Wirkung auf die Konzentration zu schwach ist, kann es mit MPH kombiniert werden. Zu beachten ist, dass GNA in der Schweiz nur bis zum 18. Lebensjahr von der Krankenkasse vergütet wird. Mit guter Begründung gegenüber dem Vertrauensarzt lässt sich aber meist eine entsprechende Kostengutsprache erwirken. Bei ATM dauert es zirka 6 Wochen, bis die volle Wirksamkeit erreicht ist. Den meisten Eltern fällt es schwer, so lange zuzuwarten. Die hauptsächliche Nebenwirkung von ATM ist Bauchweh, kurz nach der Einnahme. Deshalb wird eine abendliche Einnahme empfohlen, damit die Bauchschmerzen sozusagen überschlafen werden.
Kontrollintervalle
Wenn wir das passende Medikament gefunden haben, kontrolliere ich das Kind nach 1 Monat erneut. Falls immer noch alles passt, sehe ich das Kind alle 6 Monate zur Kontrolle von Gewicht, Länge, Blutdruck und Puls. Primär gilt es zu kontrollieren, ob das Medikament weiterhin eine gute Wirkung bei möglichst minimalen Nebenwirkungen hat. Dem Kind gegenüber begründe ich die Kontrollen wieder mit dem Brillenvergleich: Ein Brillenträger muss auch in regelmässigen Abständen kontrollieren, ob die Brille noch passt. Zudem möchte ich erfassen, wie das Kind momentan im Leben steht bezüglich Schule, Familie und Freizeit. Hierfür habe ich eine Checkliste (s. Link) angelegt, die ich jeweils mehr oder weniger vollständig mit dem Kind abarbeite.
Schlussbemerkungen
Genauso wie es mir bei den Elterngesprächen darum geht, Ängste abzubauen (Diagnose, Medikation), ist es mir hoffentlich gelungen, diese Ängste auch bei Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, abzubauen. Wie bei allen Therapien fällt uns Ärzten der Einsatz umso leichter, je mehr Erfahrung wir haben. Das Wichtigste aber ist, dass wir beginnen, diese Erfahrungen bewusst zu sammeln. Am meisten lernen wir nicht aus Büchern oder Fachartikeln, sondern von und mit unseren Patienten und deren Familien. Wir müssen gut hinschauen und noch besser hinhören. Und genau dieses Ernstnehmen des Patienten führt zu einer guten Compliance und einem entsprechend guten Effekt der Medikamente.
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