Transkript
Schwerpunkt
ADHS und GG 404
Versicherungsrelevante Fragen zum «POS»
Das Konzept des GG 404 ist ein versicherungsmedizinisches Konstrukt. Es geht dabei um eine juristische Abgrenzung zwischen Kindern mit verschiedenen neuropsychologisch und entwicklungsneurologisch erfassbaren Störungen bezüglich der Leistungsmöglichkeit der IV für medizinische Massnahmen. Über die medizinische Indikation zu einer bestimmten Therapie wird damit nichts ausgesagt. Es geht also um die Zuordnung des Leistungsträgers und nicht um die Beurteilung der Therapiebedürftigkeit.
Von Prisca Zulauf
Das Psychoorganische Syndrom (POS) wurde 1971 im Sinne einer helvetischen Version der Konzepte MCD (minimal cognitive dysfunction) und hirnorganisches Psychosyndrom als Geburtsgebrechen (GG) Ziffer 404 in die zweite Revision der Geburtsgebrechenverordnung (GgV) vom 20. Oktober 1971 aufgenommen. Es diente als Ersatz für die vorher implizit mit der GG Ziffer 496 (schwere perinatale Geburtsschäden) garantierten Ansprüche der Versicherten auf Leistungen auch bei psychischen Folgen perinataler Schädigungen des ZNS. Die Aufnahme in die GgV fand vor Einführung des Versicherungsobligatoriums im KVG statt, sodass Kinder mit einer Kombination von verschiedenen, ausgeprägten Störungsebenen (Verhalten, Antrieb, Erfassen, Merkfähigkeit und Konzentration) bei einer kongenitalen Verursachung auch dann behandelt werden konnten, wenn kein Versicherungsschutz durch das KVG bestand.
Bis zum vollendeten 9. Lebensjahr muss die Diagnose gestellt sein und eine spezifische Therapie begonnen haben.
Die Zunahme der Behandlungskosten medizinischer Massnahmen im Rahmen der Behandlung bei POS führte zu einer kritischeren und strengeren Überprüfung der Anerkennungsvoraussetzungen durch die IV-Stellen. Aufgrund einer fehlenden einheitlichen Anerkennungspraxis der IV-Stellen kam es zu rechtsungleichen Entscheiden. In der Folge wurde eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Kinderärzten, Kinder- und Jugendpsychiatern und Kinderneuropsychologen, gebildet. Es sollte eine vergleichbare Handhabung und Interpretation der Anerkennungskriterien für das GG 404 GgV geschaffen werden. Die Arbeit der Arbeitsgruppe fand Niederschlag im medizinischen Leitfaden zum GG 404. Der Begriff des POS wurde im medizinischen Leitfaden vom 14.04.2011 fallengelassen, da er nicht kompatibel mit den Begriffen in den Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-IV war.
Anerkennungsvoraussetzungen
Die Anerkennungsvoraussetzungen für das GG 404 sind im Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV (KSME) definiert. Die einzelnen Gebrechen sind nach dem Gebrechenscode in den Randziffern (Rz) beschrieben. Demnach können die Voraussetzungen für ein GG 404 als erfüllt gelten, wenn vor dem 9. Geburtstag mindestens Störungen des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive Funktionen), der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit ausgewiesen sind. Diese Symptome müssen kumulativ nachgewiesen, jedoch nicht unbedingt gleichzeitig vorhanden sein; sie können unter Umständen sukzessive auftreten. Wenn bis zum 9. Geburtstag nur einzelne der erwähnten Symptome ärztlich festgestellt werden, sind die Voraussetzungen für GG 404 nicht erfüllt. Es muss eine normale Intelligenz vorliegen. Dabei geht die normale Intelligenz, anders als in den wissenschaftlichen Klassifikationssystemen definiert, bis zur Grenze der leichten Intelligenzminderung (IQ ≥ 70). Bis zum vollendeten 9. Lebensjahr muss die Diagnose gestellt sein und eine spezifische Therapie begonnen haben. Als spezifische Therapien gelten Stimulanzien, Ergotherapie, wenn sie auf spezifische Symptome des GG 404 gerichtet ist, und Psychotherapie, nicht aber Psychomotoriktherapie, Logopädie und schulische Förder- und Unterstützungsmassnahmen.
Definition des GG 404
Die Definition eines GG 404 ist nicht einfach kompatibel mit einer oder mehreren ICD-10- oder DSM-IV- beziehungsweise DSM-V-Diagnosen (wie beispielsweise einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung gemäss ICD-10 F90.0). Sie ist auch nicht Voraussetzung für spätere Unterstützungsmöglichkeiten durch die IV bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung (ebA). Um eine Problematik als GG 404 einzuordnen, bedarf es also Konzentrationsstörungen, welche bei Kindern ohne Intelligenzminderung mit spezifischen Teilleistungs störungen verbunden sind. Daneben müssen Störungen
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des Verhaltens im Sinne einer krankhaften Beeinträchtigung der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit belegt werden. Die Problematik muss überwiegend angeboren und nicht erworben sein. Zudem kann sie nur als Geburtsgebrechen anerkannt werden, wenn sie vor Vollendung des 9. Lebensjahres diagnostiziert und das Kind auch tatsächlich entsprechend behandelt wurde. Eine fehlende Diagnose und eine fehlende Behandlung vor Vollendung des 9. Altersjahres schaffen die unwiderlegbare Rechtsvermutung, dass es sich nicht um eine angeborene Symptomatik handelt.
Was ist eine Teilleistungsstörung?
Teilleistungsstörungen sind definiert als Leistungsdefizite in begrenzten Funktionsbereichen, die aufgrund der allgemeinen Intelligenz des Betroffenen nicht erklärt werden können. Ausgehend von einer Diskrepanzannahme wird zur Bestimmung eine bedeutende Differenz zwischen dem allgemeinen Leistungsniveau und der spezifischen Teilleistungsstörung gefordert. Eine echte beziehungsweise relevante und behandlungsbedürftige Teilleistungsstörung kann diagnostiziert werden, wenn bei der entsprechenden Leistung (beim GG 404 im Erfassen und in der Merkfähigkeit) die Diskrepanz zum objektivierten IQ-Wert mindestens eine Standard abweichung beträgt. Eine Standardabweichung entspricht 15 IQ-Punkten. In der Literatur finden sich häufig strengere Kriterien bezüglich des Vorliegens von Teilleistungsstörungen (mindestens 1,5 oder 2 Standardabweichungen). Es reicht also nicht, wenn die Leistungen in den einzelnen Testverfahren unterdurchschnittlich sind.
Diagnostische Testverfahren
Aufgrund des Nachweises der verschiedenen Ebenen und des Ausschlusses einer reaktiven Verursachung ist die Diagnostik eines GG 404 anspruchsvoll. Gemäss medizinischem Leitfaden zum GG 404 (KSME Anhang 4), welcher richtungsweisend ist zur Anerkennung eines GG 404, wird zum Nachweis von Teilleistungsstörungen eine klar definierte und detaillierte Abklärung mit standardisierten Untersuchungsverfahren gefordert. Die spezifischen Teilleistungsstörungen müssen mittels Testverfahren objektiviert werden und können nicht im Rahmen von Verhaltensbeobachtungen erhoben und klinisch beschrieben werden.
Unter Störungen der Merkfähigkeit werden beim GG 404 Störungen des Kurzzeitgedächtnisses verstanden, das heisst, die Fähigkeit, sich bei einmaliger Präsentation von Informationen etwas kurzfristig zu merken. Die Merk fähigkeit kann zum Beispiel mit den Untertests Zahlen nachsprechen oder Bilderfolgen aus der WISC-V (Wechsler Intelligence Scale for Children) oder den Untertests Zahlen nachsprechen, Wortreihe und Handbewegungen aus der KABC-II (Kaufman Assessment Battery for Children – II) geprüft werden. Unter Wahrnehmung/Erfassen wird der komplexe Prozess der sensorischen Reizaufnahme und ihrer Verarbeitung, der Integration unterschiedlicher sensorischer Reize und der Informationscodierung verstanden. Das auditive Erfassen kann beispielsweise mit dem Mottier-Test geprüft werden. Beim visuellen Erfassen muss beim GG 404 zwischen exekutiv-motorischen Fähigkeiten und der motorikreduzierten Wahrnehmung unterschieden werden. Das visuelle Erfassen kann zum Beispiel mit dem Untertest Beery VMI Visual Perception oder mit den Untertests zur motorikreduzierten Wahrnehmung des Frostigs-Entwicklungstest zur visuellen Wahrnehmung (FEW-3) geprüft werden. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass mit dem gleichen Verfahren nicht Störungen der Merkfähigkeit und Störungen des Erfassens gleichzeitig belegt werden können. Welche weiteren Testverfahren zum Nachweis der spezifischen Teilleistungsstörungen eingesetzt werden können, ist im medizinischen Leitfaden zum GG 404 (KSME Anhang 4) dargestellt.
Korrespondenzadresse: Dr. phil. Prisca Zulauf Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP Fachpsychologin für Psychotherapie FSP Zertifizierte neuropsychologische Gutachterin SIM Klösterligasse 2 4800 Zofingen E-Mail: prisca.zulauf@hin.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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