Transkript
Editorial
K inder- und jugendpsychiatrische Dienste, Psychologen und Pädiater werden seit Jahren mit Anfragen nach ADHS-Abklärungen überrannt. Da die Diagnose eines ADHS jedoch anspruchsvoll und entsprechend zeitaufwendig ist, müssen die Betroffenen mit langen Wartefristen rechnen. Dass die Diagnose ADHS schwierig zu stellen ist, hat mehrere Gründe: Zum einen wird das Verhalten eines Kindes im Kontext eigener Erfahrungen interpretiert und ist deshalb subjektiv geprägt; da zudem kein verlässlicher Biomarker bekannt ist, bleibt ADHS eine klinische Diagnose, die zwangsläufig einen gewissen Interpretationsspielraum aufweist. Zum anderen sind die gängigen Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-5) kategorial ausgerichtet, wohingegen man in der klinischen Zusammenarbeit mit den Betroffenen praktisch immer eine dimensionale Ausprägung vorfindet (1). Oftmals ist es auch für eine Fachperson schwierig einzuschätzen, inwieweit das auffällige Verhalten eines Kindes nicht auf ADHS, sondern auf eine physiologische Unreife zurückzuführen ist. So belegen zum Beispiel Studien, dass die jüngeren Kinder in einer Klasse häufiger mit Stimulanzien behandelt werden als ihre älteren Mitschülerinnen und Mitschüler (2). Ein Themenheft über ADHS kann nicht all diesen Problematiken gerecht werden. Eine Auswahl ist zwingend nötig, deshalb legt die vorliegende Ausgabe den Fokus auf die Behandlungsebene. In meiner entwicklungspädiatrischen Praxis hat sich bei der Behandlung von ADHS das 3-Säulen-Konzept als nützlich erwiesen (siehe Abbildung): Die erste Säule beinhaltet pädagogische, die zweite Säule therapeutische und die dritte Säule medikamentöse Massnahmen. Dieses Konzept verfolgt das Ziel, den Leidensdruck (dargestellt als Dach) aufseiten des Kindes zu verringern. Sein Selbstwertgefühl wird durch Erfolgserlebnisse gesteigert. Das Erlebnis der eigenen Selbstwirksamkeit ist dabei der Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung. Auch die Artikel dieses Themenhefts basieren auf dem 3-Säulen-Modell. Die ersten beiden Beiträge
widmen sich der pädagogischen Säule: Im Fokus steht einerseits die Psychoedukation der von ADHS betroffenen Kinder; andererseits wird aufgezeigt, wie wichtig es ist, dass die Umwelt sensibel auf die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder reagiert. Rosa Bischof, Marianne Surber und Roger Vogt gewähren uns hierzu einen Einblick in das Elterncoaching. Gianna Mina stellt in ihrem Beitrag übersichtlich dar, welche Aspekte beim Lehrercoaching zum Umgang mit von ADHS betroffenen Schülerinnen und Schülern zentral sind. Bei der therapeutischen Säule setzt Svenja Reinhardt den Fokus auf die Psychotherapie. Sie beschreibt, wie die Selbstkompetenz der Betroffenen gestärkt werden kann und wie sie dadurch lernen, ihre Stärken als Ressource zu mobilisieren. Ergänzt wird die 2. Säule mit einem Interview. Die beiden Ergotherapeutinnen Katrin Abplanalp und Cornelia Eggenberger berichten über ihre Erfahrungen mit von ADHS betroffenen Kindern und Jugend-
lichen. Es ist mir klar, dass die 2. Säule viele verschiedene Optionen eröffnet. Ich wollte den Fokus aber bewusst auf die etablierten Massnahmen richten (3). Mit der 3. Säule wenden wir uns den ADHS-Medikamenten zu, welche auch heute noch die Gemüter erhitzen. René Kindli gelingt es in seinem Artikel darzustellen, wie wichtig die Begleitung von Kind und Eltern bei der medikamentösen Behandlung ist. Erst diese Begleitung ermöglicht eine Vertrauensbasis zwischen allen Beteiligten. Abgerundet wird das 3-Säulen-Konzept mit einer Zusammenfassung von Prisca Zulauf zum Thema ADHS und GG 404, meinem eigenen Artikel über den Gebrauch von Metaphern in der Beratung von Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie mit dem Beitrag von Lisbeth Furrer über die Angebote der nationalen ADHS-Organisation elpos.
Peter Hunkeler
Literatur: 1. Jenni OG: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Warum nicht ADHS-Spektrum? Monatsschr Kinderheilkd. 2016; 164:271-277. 2. Morrow RL et al.: Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/ hyperactivity disorder in children. CMAJ. 2012;184(7):755-762. 3. S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Stand: 2.5.2017; https:// register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045.
Dr. med. Peter Hunkeler Stiftung Arkadis, Olten peter.hunkeler@arkadis.ch
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