Transkript
Schwerpunkt
Wenn die innere Uhr nachgeht
Was steuert sie und wie kann man sie neu justieren?
In keiner anderen Lebensphase ist chronischer Schlafmangel so prävalent wie im Jugendalter. Hauptverantwortlich hierfür ist ein Zusammenspiel aus Umwelt- und biologischen Faktoren, welche die innere Uhr der Jugendlichen im Durchschnitt um zwei Stunden zurückstellen. Im Folgenden werden die neuesten Erkenntnisse zur Ursache, Diagnostik und Behandlung des verzögerten Schlafphasensyndroms beschrieben.
Von Christin Lang
F orschungsergebnisse auf der ganzen Welt dokumentieren, dass Jugendliche zu spät und zu wenig schlafen. Angesichts der Bedeutung des erholsamen Schlafs für die geistige, emotionale und körperliche Gesundheit in dieser Entwicklungsphase ist eine frühzeitige Behandlung von ausgeprägten Schlaf-WachRhythmusstörungen essenziell. Fest steht: Wenn der innere Tag-Nacht-Rhythmus nicht mehr im Einklang mit dem Tag-Nacht-Zyklus der Umwelt ist, kann dies sowohl Vorbote als auch Auslöser für eine psychische Erkrankung sein. Eltern von Jugendlichen kennen das Phänomen nur zu gut, dass der Sprössling an Schultagen nur mühsam aus dem Bett zu locken ist und am Wochenende gar bis mittags schläft. Versuche, zu einer früheren, «sozialeren» Schlafenszeit ins Bett zu gehen, resultieren häufig in langen Einschlafzeiten. Dies wiederum kann die Grundlage für eine konditionierte Einschlafstörung (Insomnie) legen. Während der Adoleszenz führt ein Zusammenspiel von biologischen und sozialen Faktoren nicht selten zu einem Schlaf-Wach-Rhythmus, der um 2 Stunden verschoben in Erscheinung tritt. Durch den unveränderten Schulbeginn lässt sich daher weltweit eine Abnahme der Schlafdauer bei 12- bis 17-Jährigen beobachten, sie beträgt rund 15 Minuten pro Jahr (1). An Schultagen kommen europäische Jugendliche gerade einmal auf 8,4 Stunden Schlaf. Das Schlafbedürfnis in dieser Altersspanne ist jedoch mit rund 9,2 Stunden nahezu unverändert im Vergleich zu älteren Kindern (2). Viele Jugendliche auf der ganzen Welt weisen einen verzögerten Schlaf-Wach-Rhythmus auf. Ab wann spricht man also von einer Störung? Von einer Schlafstörung sprechen wir, sobald sich diese erheblich auf einen wichtigen Funktionsbereich des Individuums auswirkt. Im Fall des verzögerten Schlafphasensyndroms (Delayed SleepWake-Phase Disorder, DSWPD) ist der im Jugendalter am häufigsten betroffene Funktionsbereich das Schulleben, wozu häufiges Verschlafen und Zuspätkommen zählen, übermässige Schläfrigkeit in der Schule, schlechte Schulleistungen sowie Schulverweigerung und -abbruch.
Soziale, biologische und Umweltfaktoren als mögliche Ursachen
Ursächlich für die späteren Zubettgehzeiten und die unzureichende Schlafdauer ist einerseits die Abnahme der elterlichen Kontrolle in dieser Altersgruppe sowie zunehmende Social-Media-Aktivitäten oder Hausaufgaben am Abend; zudem können Jugendliche der Müdigkeit nun besser standhalten als noch im Kindesalter. Andererseits verschiebt sich im Zuge biologischer Entwicklungsprozesse vorübergehend die innere Uhr während der Adoleszenz. Die innere Uhr des Menschen ist ein zirkadianer Rhythmus, der durch den Nucleus suprachiasmaticus (SCN) als zentrale Steuereinheit im Gehirn geregelt wird. Rund 2 Stunden vor der gewohnten Schlafenszeit sorgt der SCN für die Ausschüttung des Hormons Melatonin, wodurch unsere Körpertemperatur sinkt und wir müde werden. Da
Warum eine frühzeitige Diagnose und Behandlung von Bedeutung ist – Prävalenz und Risikofaktoren des verzögerten Schlafphasensyndroms
Die Prävalenz des verzögerten Schlafphasensyndroms liegt bei 7 bis 18 Prozent, und sie erreicht einen Peak im späten Jugendalter. Bei Jugendlichen mit spezifischen Störungen ist die Prävalenz sogar noch höher (62% bei bipolarer Störung). Störungen des SchlafWach-Rhythmus werden auch häufig bei Heranwachsenden mit neurologischen Entwicklungsstörungen wie ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen berichtet. Ein unerkanntes verzögertes Schlafphasensyndrom kann zur Entstehung von Einschlafstörungen beitragen. Der Versuch zu einer «sozial akzeptablen» Zeit ins Bett zu gehen, ohne dass die notwendige kognitive und physiologische Bereitschaft für den Schlaf gegeben ist, bietet Raum und Zeit für negative Gedankenkreisel und damit die Grundlage für eine konditionierte Einschlafstörung (Insomnie). Wer dauerhaft nicht im Einklang mit seiner inneren Uhr lebt, riskiert ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2. Darüber hinaus weist eine wachsende Anzahl an Studien darauf hin, dass Jugendliche mit einem späten Schlaf-WachRhythmus, unabhängig von einer Störung, signifikant häufiger zu depressiven Verstimmungen, körperlicher Inaktivität und höherem Alkoholkonsum neigen.
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Abbildung 1: Visuelles Schlaftagebuch nach Buysse 2008 (11) und Carney, Buysse et al. 2012 (5); ↑: Aufstehen, ↓: Zubettgehen, –: Schlafen; rote Pfeile: Umstände der Abweichung erfragen (A: Wurden die Kinder am Wochenende von den Eltern geweckt oder nicht? B: An einem Schultag zu spät zur Schule gekommen oder Freistunde mit längerem Schlaf?)
Abbildung 2: Bedeutung der inneren Uhr für einen geregelten Schlaf-Wach-Rhythmus. Der zirkadiane Rhythmus, aka unsere innere Uhr, folgt einem 24-Stunden-Rhythmus. Er beeinflusst, wann wir müde oder wach werden. Die blaue Linie in dieser Grafik zeigt, wie sich unser Wachheitsgrad und unsere Müdigkeit im Tagesverlauf verändern. Während der Pubertät verzögert sich die zirkadiane Körperuhr im Durchschnitt um zwei Stunden, wie die rote Grafik zeigt. Dadurch verschieben sich auch die Zeitpunkte, an denen wir uns besonders wach oder besonders müde fühlen. Der Versuch, zu einer «sozial angemessenen» Zeit schlafen zu gehen, ist also manchmal gar nicht möglich, denn die innere Uhr (rote Linie) erreicht gerade dann ihren abendlichen Höhepunkt. Zudem kann es ebenso schwierig sein, am Morgen aufzustehen und dem Unterricht in den ersten Stunden aufmerksam zu folgen, weil die innere Uhr gerade an ihrem tiefsten Punkt angekommen ist. An die Eltern gerichtet: Das wäre gerade so, als ob man von uns Erwachsenen verlangen würde, um 4 Uhr morgens aufzustehen, um an einer Schulung aufmerksam teilzunehmen (Grafik: © Wink Sleep Pty Ltd).
die innere Uhr bei den meisten Menschen eine Periodenlänge von etwas mehr als 24 Stunden aufweist, benötigt sie sogenannte externe Zeitgeber, um im Einklang mit dem 24-Stunden-Tag-Nacht-Rhythmus der Umwelt zu bleiben. Solche Zeitgeber sind unter anderem Licht und Dämmerung, Mahlzeiten und körperliche Aktivität. Der bedeutendste Zeitgeber für den menschlichen Organismus ist jedoch das Tageslicht. Sobald die Augen Tageslicht registrieren, wird die Melatoninbildung gehemmt. Erhält das Auge nicht ausreichend Tageslicht am Morgen oder künstliche Lichtreize am Abend, kann die Synchronisation der inneren Uhr gestört werden. Häufig kommt
es in diesem Zusammenhang zu Einschlafproblemen, zu einer kürzeren Schlafdauer und zu erhöhter Tagesmüdigkeit – ein Dilemma für viele Jugendliche, die ihr akkumuliertes Schlafdefizit am Ende der Schulwoche «nachholen» wollen. Wer bis mittags schläft, verpasst womöglich ein wertvolles Zeitfenster am Morgen, um seine innere Uhr mit ausreichend Tageslicht zu versorgen. Auch künstliches Licht am Abend signalisiert der inneren Uhr, die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin zu unterdrücken. Ob und inwiefern das kurzwellige blaue Licht von elektronischen Geräten die innere Uhr tatsächlich manipuliert, wird in der Chronobiologie jedoch nach wie vor kontrovers debattiert. Forschungsresultate deuten darauf hin, dass erst eine Bildschirmzeit von 1,5 Stunden Konsequenzen für die innere Uhr hat. Mit anderen Worten, das künstliche Licht hemmt die Melatoninsekretion nicht nur unmittelbar während der Bildschirmzeit, sondern es sorgt auch dafür, dass die Melatoninsekretion am folgenden Abend später beginnt. Allerdings scheint die genaue Dauer und Lichtintensität von genetischen Faktoren hinsichtlich der Lichtempfindlichkeit abzuhängen. Unabhängig davon reicht die Helligkeit der elektronischen Geräte meist schon aus, um den Wachheitsgrad zu steigern. Auch der Austausch mit Freunden und Bekannten in den sozialen Medien wirkt stimulierend. Der Zeitpunkt des Zubettgehens wird damit künstlich hinausgezögert. Dies erklärt unter anderem, warum lediglich 50 Prozent der Individuen mit einem diagnostizierten verzögerten Schlafphasensyndrom auch tatsächlich eine verzögerte Melatoninsekretion aufweisen. Eine aktuelle Studie deutet zudem darauf hin, dass bei Jugendlichen mit einem ausgeprägten, sehr späten Schlaf-WachRhythmus eine Kombination aus internen und externen Faktoren vorliegt (3). So liessen sich die späten Zubettgehzeiten nicht allein durch eine später einsetzende Melatoninsekretion erklären. In einem Pilotprojekt baten australische Forschende Jugendliche, ihr Smartphone eine Stunde vor dem Zubettgehen auszuschalten. Tatsächlich gingen die Jugendlichen im Schnitt 17 Minuten früher schlafen (4). Einen bahnbrechenden Therapieerfolg wird diese Methode jedoch eher nicht haben: Die Studienleiter hatten erhebliche Mühe, bereitwillige Jugendliche für dieses einwöchige Experiment zu finden. Statt ein Verbot durchzusetzen, könnte es heutzutage vielversprechender sein, Jugendliche über schlaffördernde und schlafstörende Smartphone-Aktivitäten aufzuklären. Vor Beginn einer jeden Schlaftherapie ist es wichtig, festzustellen, ob eine zirkadiane Rhythmusstörung vorliegt. Bei Jugendlichen ist sie in den meisten Fällen der Hauptfaktor für ihr Schlafproblem und sollte deshalb als erstes behandelt werden.
Vorgespräch
«Meine Tochter kann nicht schlafen. Sie ist die ganze Nacht wach und hat am Morgen Mühe, pünktlich zur Schule zu kommen», so oder so ähnlich lautet oft die erste Antwort der Eltern auf unsere Eingangsfrage am Telefon: «Was ist das Hauptproblem Ihres Kindes beim Schlafen?» Bei einer Antwort wie dieser stellen wir in der Regel weitere Fragen, auf die wir häufig die folgenden Antworten erhalten: Wie alt ist Ihre Tochter? Sie ist 16.
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Um wie viel Uhr muss sie an Schultagen aufstehen, um rechtzeitig zur Schule zu kommen? Es wäre gut, wenn sie um 6.30 Uhr aufstehen würde, aber das passiert eigentlich nie. Schläft sie am Wochenende lange aus? Ja! Wenn wir sie schlafen lassen, verschläft sie oft den halben Tag. Um wie viel Uhr steht sie dann für gewöhnlich auf? Wahrscheinlich so gegen 11 oder 12 Uhr. Zusammen mit dem Alter liefern uns folgende drei Faktoren Indizien dafür, dass es sich hier um ein verzögertes Schlafphasensyndrom handelt: 1. Einschlafprobleme 2. Mühe, am Morgen wach zu werden und «in die Gänge»
zu kommen 3. Langes Ausschlafen an schulfreien Tagen Um die Verdachtsdiagnose zu bestätigen, sind weitere Erhebungen nötig.
Schlaftagebuch
Wenn uns lediglich eine Diagnostikmethode zur Wahl stände, wäre dies das Schlaftagebuch. Bitten Sie deshalb die Eltern, vor dem nächsten Besuch in der Praxis mit ihrem Kind gemeinsam ein 2-wöchiges Schlaftagebuch zu führen. Es ist die Grundlage zur Diagnose von Schlafstörungen, und es wird während der Behandlung begleitend fortgeführt. Verschiedene Arten und Variationen lassen sich hierzu kostenlos online finden und downloaden. Ein von Experten entwickeltes Schlaftagebuch zur Behandlung von Insomnien (5) hat sich auch in der Kinder- und Jugendpraxis für Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen etabliert. Für das visuelle Schlaftagebuch (Abbildung 1) verwenden die Patientinnen und Patienten Pfeile, um anzuzeigen, wann sie ins Bett gegangen und wann sie aufgestanden sind. Eine waagrechte Linie zeigt an, wann sie geschlafen haben. Studieren Sie zunächst die Aufwachzeiten im Verlauf der Woche. Da die Einschlafzeit in dieser Altersspanne von vielen Faktoren abhängen kann, liefern die Aufwachzeiten bei der Abklärung eines verzögerten Schlafphasensyndroms zumeist die aufschlussreicheren Informationen: • Gab es 1 oder 2 Tage am Wochenende, an denen die
Aufwachzeit nach 9 Uhr war? Jugendliche, die am Wochenende in der Regel nicht länger als 9 Uhr schlafen, da sie schon vorher von ihrer inneren Uhr geweckt werden, sind meistens nicht betroffen. Erkundigen Sie sich deshalb, ob die Eltern ihren Sprössling am Wochenende geweckt haben oder ihn ausschlafen liessen (Abbildung 1a). • Wie regelmässig sind die Aufstehzeiten an Schultagen? Gibt es hier Ausreisser, die auf ein Zuspätkommen zur Schule hindeuten oder wurde eine Freistunde am Morgen zum längeren Schlafen genutzt (Abbildung 1b)?
Im nächsten Schritt wenden Sie sich den Einschlafzeiten zu: • Sind die Zubettgehzeiten am Wochenende (Freitag-
und Samstagabend) später? Bei den meisten Jugendlichen ist dies der Fall, insbesondere, weil Eltern am Wochenende weniger Vorgaben betreffend der Zubettgehzeit machen. • Achten Sie darauf, ob sich die Einschlafprobleme am Wochenende verringern oder ganz verschwinden. Jugendliche mit einem verzögerten Schlafphasensyn-
Abbildung 3: Lichttherapie. Die Tageslicht/Lichttherapie (gelber Kasten) sollte jeweils am Morgen nach dem tiefsten Punkt im zirkadianen Rhythmus erfolgen, um die innere Uhr vorzustellen. Unterstützend wirkt gedimmtes Licht am Abend (grauer Kasten) (Grafik: © Wink Sleep Pty Ltd).
drom haben häufig keinerlei Mühe mit dem Einschlafen, sofern sie zu einer Zeit ins Bett gehen, die im Einklang mit ihrer inneren Uhr ist. • Wie regelmässig sind die Einschlafzeiten? Gibt es auch unter der Woche Tage, die später zu Ende gehen als andere? Falls ja, erkundigen Sie sich, ob es feste Routinen am Abend gibt oder ob hier möglicherweise einer ausserschulischen Aktivität nachgegangen wurde (z. B. Sportverein, Musik, Nebenjob).
Während ein Schlaftagebuch bei der Behandlung von normal entwickelten Jugendlichen sehr gut funktioniert, ist dies bei Jugendlichen mit einer Autismus-SpektrumStörung (ASS) schwieriger. Grundsätzlich fällt es Menschen mit ASS schwerer, die vergangene Zeit einzuschätzen. Dennoch leiden viele von ihnen unter erheblichen Schlafproblemen, insbesondere in Bezug auf den SchlafWach-Rhythmus (6).
Fragebögen
Tagesschläfrigkeit ist bei Jugendlichen mit verzögertem Schlafphasensyndrom ein häufiges Begleitsymptom. Es beschreibt die unmittelbare Neigung, in monotonen, sitzenden Situationen einzuschlafen (z. B. beim Lesen, im Unterricht, bei den Hausaufgaben oder während einer Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln). Entsprechende Fragebögen zur Tagesschläfrigkeit (z. B. Epworth Sleepiness Scale for Children and Adolescents [ESS-CHAD], Pediatric Daytime Sleepiness Scale [PDSS] [7]) liegen derzeit zwar noch nicht in einer validierten, deutschsprachigen Version vor, sie können aber im ambulanten Setting gute Hinweise über das Ausmass vor, während und nach der Therapie geben. Der PDSS bezieht im Speziellen auch die typischen Probleme des morgendlichen Erwachens ein. Vergessen Sie nicht, dass das morgendliche Aufstehen an Schultagen für diese Patientinnen und Patienten oft eine qualvolle Angelegenheit ist und mit 45 Prozent sogar als das Schlafproblem Nr. 1 angegeben wird (gefolgt von Problemen mit dem Einschlafen auf Platz 2 [33%]). Die Jugendlichen sollten das ausgefüllte Schlaftagebuch zu jeder Therapie-
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Komorbidität Insomnie?
Zusätzlich zur zirkadianen Rhythmusstörung ist das Lernen ein weiterer Faktor bei der Entstehung von Schlafproblemen. Aufgrund des sozialen Drucks gehen viele Jugendliche unter der Woche auch dann ins Bett, wenn ihre innere Uhr noch nicht zum Schlafen bereit ist. Ihr Unterbewusstsein hat so mit der Zeit gelernt: «Im Bett sein, heisst wach sein» – ein Nährboden für eine klassische Insomnie. In der Praxis hat sich daher wiederholt gezeigt, dass einer Einschlafstörung im Jugendalter ein verzögertes Schlafphasensyndrom zugrunde liegt. Wir empfehlen deshalb, das verzögerte Schlafphasensyndrom zuerst zu behandeln, da sich im Zuge einer Neujustierung der inneren Uhr meistens auch die Einschlafproblematik verbessert.
Abbildung 4: Junge Patientin mit einer Lichtbrille (Foto: C. Lang, mit freundlicher Genehmigung der Patientin)
sitzung mitbringen, da es eine ungemein wichtige Quelle für Informationen über die aktuellen Schlafgewohnheiten und die Wirkung der vorgeschlagenen Therapie ist.
Erstgespräch
Im Erstgespräch gilt es nun, unter Berücksichtigung des 2-wöchigen Schlaftagebuchs (und eventuell des PDSS) abzuklären, ob eine verzögerte innere Uhr die Hauptursache für einen verzögerten Schlaf-Wach-Rhythmus ist. Das liesse sich natürlich auch über das Melatonin bestimmen, genauer gesagt, über den Zeitpunkt, an dem es am Abend ausgeschüttet wird. Wenngleich die Speichelprobe eine nicht invasive Methode darstellt, so ist sie doch zeit- und kostenintensiv (in der Regel werden bis zu 12 Proben über 6 Stunden erfasst). Einige Fragen können uns jedoch dabei helfen, ohne Labortests Indizien für eine verzögerte innere Uhr zu sammeln: • «Fühlst du dich am Nachmittag, so gegen 16 Uhr, matt
und schwunglos?» Bei dieser Frage geht es darum, ob das natürliche Mittagstief gegen 14 Uhr verzögert eintritt. Einige Jugendliche haben jedoch nie ein Mittagstief, andere fühlen sich den ganzen Tag matt. • Im zirkadianen Rhythmus folgt auf das Leistungstief am frühen Nachmittag ein erneuter Aufschwung, Körpertemperatur und Blutdruck erreichen gegen 18 bis 20 Uhr ihren Höhepunkt. Die nächste Frage zielt darauf ab, ob dieses Leistungshoch am Abend verzögert eintritt: «Hast du am Abend nach dem Nachtessen noch einmal so einen richtigen Energieschub?» Manche Jugendliche sind jedoch so übermüdet, dass sie keinen Höhepunkt im Tagesverlauf feststellen können. • «Fühlst du dich meist erst am späten Vormittag so richtig wach und munter?» Durch die frühmorgendliche Cortisolausschüttung wird der menschliche Stoffwechsel aktiviert und die natürliche Weckreaktion eingeleitet. Die meisten Menschen erleben ihr erstes Leistungshoch am frühen Vormittag. Patientinnen und Patienten mit einer verzögerten inneren Uhr erleben diese Hochphase entsprechend später, zum Beispiel erst gegen 11 Uhr. Doch auch hier ist es wichtig, zu berücksichtigen, dass manche Jugendliche derart unter Schlafmangel leiden, dass sie sich zu keiner Tageszeit wach und munter fühlen.
Schlafedukation gehört immer dazu
Wichtiger Bestandteil einer jeden Schlaftherapie ist die Schlafedukation. Viele Menschen sind schnell für das Thema Schlaf zu begeistern. Nutzen Sie das, um grundlegendes Wissen über den Schlaf und den zirkadianen Rhythmus (die biologische Uhr) zu vermitteln, und um darüber aufzuklären, warum die aktuellen schlafbezogenen Verhaltensweisen nicht gut funktionieren. Dennoch sollte die erste Therapieeinheit nicht mit Informationen überladen werden. Bedenken Sie, dass Sie es mit müden Jugendlichen zu tun haben. Aber nur wenn ihnen einleuchtet, warum Lichttherapie am Morgen dabei helfen soll, abends beizeiten einschlafen zu können, werden sie sich an die oft als mühsam empfundene Prozedur nach dem Aufstehen halten (8).
Lichttherapie
Um eine verzögerte innere Uhr zu korrigieren, müssen die Augen der Patientinnen und Patienten zur richtigen Zeit mit ausreichend Tageslicht konfrontiert werden. Der richtige Zeitpunkt verändert sich von Tag zu Tag. Helles Licht am Morgen signalisiert seit Millionen von Jahren der inneren Uhr des Menschen, dass es Zeit ist, in den Tag zu starten. Dementsprechend signalisiert helles Licht am Abend unserer inneren Uhr, dass jetzt noch keine Schlafenszeit sei, und sie justiert nach. Entsprechende Studien belegen, dass der Effekt am stärksten ist, je näher wir uns dem zirkadianen Tiefpunkt nähern. Mit Blick auf die Abbildung 2 wird schnell deutlich, welche Konsequenzen eine Lichttherapie um 6.30 Uhr für einen Jugendlichen mit verzögertem Schlafphasensyndrom hätte. Tag 1 der Lichttherapie: Die erste und wichtigste Regel bei der Lichttherapie lautet deshalb: Am Tag 1 ausschlafen lassen! Wenn die Jugendlichen bis 10.30 Uhr schlafen, beginnt die Lichttherapie für sie um um 10.30 Uhr. Ab Tag 2: Der Zeitpunkt für die Lichttherapie beginnt ab Tag 2 jeden Morgen 30 Minuten früher. Mit anderen Worten: Hat am Tag 1 die Lichttherapie um 10.30 Uhr begonnen, so beginnt sie an Tag 2 um 10.00 Uhr, an Tag 3 um 9.30 Uhr und so weiter, bis eine Uhrzeit von 6.00 Uhr erreicht wird. Unter Umständen muss für die Schule ein entsprechendes Attest ausgestellt werden. Grössere Zeitintervalle als 30 Minuten haben sich nicht bewährt. So zeigen Studien mit 30-, 45- und 60-Minuten-Intervallen, dass nur das 30-Minuten-Intervall einen wirksamen Effekt hatte. Adaptierung der Einschlafzeit: Nach Tag 2 sollten die Jugendlichen motiviert werden, ihre Zubettgehzeiten ent-
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sprechend anzupassen. Ideal sind auch hier 30-Minuten-Schritte, um zu verhindern, dass die Jugendlichen weder zu früh, also sehr wach, noch zu spät zu Bett gehen und so in ein Schlafdefizit rutschen. Stabilisierungsphase: Sobald 6 Uhr erreicht worden ist, sollte ab nun für 2 Wochen die gewünschte Aufwachzeit für Schultage eingehalten werden (z. B. 6.30 Uhr). Das bedeutet zunächst leider auch, kein Ausschlafen am Wochenende. Anschliessend kann die Aufwachzeit an schulfreien Tagen sukzessiv in 30-Minuten-Schritten verlängert werden. Die Diskrepanz zur Aufstehzeit an Schultagen sollte jedoch auch langfristig 2 Stunden nicht überschreiten. Dauer und Intensität: 60 Minuten Lichttherapie sind ideal, wobei 30 Minuten das Minimum darstellen. Längere Zeiten (z. B. 2 Stunden) sind möglich. Lichtquelle: Natürliches Tageslicht ist allen künstlichen Lichtquellen vorzuziehen. Es erreicht an bewölkten Tagen rund 20 000 Lux, an sonnigen Tagen sogar bis zu 100 000 Lux. Bislang boten künstliche Lichttherapiegeräte mit Weisslicht 2500 bis 5000 Lux. Neuere Geräte erreichen nun bis zu 10 000 Lux. Aus diesem Grund sind Smartphone, Tablet oder Computer nicht zur Lichttherapie geeignet. Neben der klassischen Lichtbox auf dem Tisch, vor der man zum Beispiel frühstücken oder lesen kann, bieten einige Hersteller auch Lichtbrillen an (z. B. Re-Timer), sodass Jugendliche nicht an eine sitzende Tätigkeit in Innenräumen gebunden sind (Abbildung 4). Solche Lichtbrillen verwenden oft blaue oder grüne LED, da ihr kurzwelliges Licht niedriger dosiert werden kann (z. B. 300–500 Lux), um einen vergleichbaren Effekt zu erzielen. Nebenwirkungen: In einigen Fällen können künstliche Lichttherapiequellen zu Kopfschmerzen führen. Hier gilt es, sich an die optimale Lichtintensität und -dauer heranzutasten. Bei einigen Patientinnen und Patienten mit Migräne kann Licht ein Trigger sein. Für sie sollten alternative Behandlungsmethoden, wie beispielsweise die abendliche Gabe von Melatonin, in Erwägung gezogen werden.
Melatoningabe
Im Gegensatz zum Tageslicht signalisiert Melatonin der inneren Uhr, dass es nun Schlafenszeit sei. Am ersten Abend sollte Melatonin 3 Stunden vor der durchschnittlichen Einschlafzeit eingenommen werden. Anschliessend erfolgt die Melatonineinnahme jeden Tag 30 Minuten früher, bis 19 Uhr erreicht wird. Zur Stabilisierung wird die Einnahme um 19 Uhr für eine weitere Woche beibehalten, und sie kann bei konstanter Zubettgehzeit sukzessiv abgesetzt werden. Dosierung: Neuere Studien belegen, dass eine Dosis von 1 bis 3 mg Melatonin zur Adjustierung der inneren Uhr eine ausreichende Signalwirkung hat. Wichtig ist, ein Melatoninpräparat mit kurzfristiger Wirkung anzuwenden und kein Retardpräparat. Bei letzterem erfolgt die Melatoninfreigabe kontinuierlich über die Nacht hinweg. Im schlimmsten Fall wäre die Signalwirkung dann zur «falschen Zeit» induziert, und sie hätte einen gegenteiligen Effekt auf die innere Uhr.
Körperliche Aktivität
Wenngleich Tageslicht der stärkste Zeitgeber des menschlichen Organismus ist, gibt es weitere potenzielle Zeitgeber. Ähnlich wie Licht signalisiert körperliche Aktivität
unserer inneren Uhr, dass es Tag ist. In einem aktuellen
Experiment einer schweizerisch-australischen Forschungs-
gruppe konnte die innere Uhr von Jugendlichen mit einem
späten Schlaf-Wach-Rhythmus durch eine morgendliche
Bewegungseinheit auf dem Laufband vorgestellt werden.
Während dieser Zeit mussten die Jugendlichen ohne
Tageslicht auskommen, um den Effekt von Bewegung auf
die innere Uhr nicht durch Licht zu beeinflussen. Wir ver-
wendeten dabei ein ähnliches Protokoll wie bei der Licht-
therapie, nur dass die Probanden anstelle von Licht einen
zügigen 45-minütigen Spaziergang auf dem Laufband
absolvierten. Nach 5 Tagen hatte sich ihre innere Uhr um
durchschnittlich 27 Minuten vorgestellt, während sich die
innere Uhr in der Kontrollgruppe um durchschnittlich 34
Minuten verzögert hatte (9). Regelmässige körperliche
Bewegung hat also nicht nur einen positiven Einfluss auf
unsere Schlafqualität, sondern – richtig eingesetzt – auch
eine stabilisierende Wirkung auf die innere Uhr. Aus dem
gleichen Grund sollten Jugendliche mit einem verzögerten
Schlaf-Phasen-Syndrom in den letzten 1 bis 2 Stunden vor
dem Zubettgehen (nach 20 Uhr) keine hoch intensiven
Bewegungseinheiten mehr absolvieren. Eine morgendli-
che Bewegungseinheit lässt sich aber nicht immer in den
Alltag integrieren. Neben dem Morgen scheint auch der
späte Nachmittag ein günstiges Zeitfenster zu sein, um
durch sportliche Bewegung die innere Uhr etwas vorzu-
stellen (10).
Korrespondenzadresse: Dr. Christin Lang Fachbereich Sportwissenschaft Abt. Sport und psychosoziale Gesundheit Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit (DSBG) Universität Basel, Grosse Allee 6 4052 Basel E-Mail: christin.lang@unibas.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Gradisar M et al.: Recent worldwide sleep patterns and problems during adolescence: A review and meta-analysis of age, region, and sleep. Sleep Med. 2011;12(2):110-118. 2. Short MA et al.: Estimating adolescent sleep need using dose-response modeling. Sleep. 2018;41(4):10.1093/sleep/zsy011. 3. Lang C et al.: Understanding Sleep-Wake Behavior in Late Chronotype Adolescents: The Role of Circadian Phase, Sleep Timing, and Sleep Propensity. Front Psychiatry. 2022;13:785079. 4. Bartel K, Scheeren R, Gradisar M: Altering Adolescents' Pre-Bedtime Phone Use to Achieve Better Sleep Health. Health Commun. 2019;34(4):456-462. 5. Carney CE et al.: The consensus sleep diary: Standardizing prospective sleep self-monitoring. Sleep. 2012;35(2):287-302. 6. Baker E et al.: An investigation of sleep patterns in adolescents with high-functioning autism spectrum disorder compared with typically developing adolescents. Dev Neurorehabil. 2013;16(3):155-165. 7. Drake C et al.: The pediatric daytime sleepiness scale (PDSS): sleep habits and school outcomes in middle-school children. Sleep. 2003;26(4):455-458. 8. Harvey AG, Buysse DJ: Treating Sleep Problems. A Transdiagnostic Approach. The Guildford Press; 2017. www.guildford.com. 9. Lang C et al.: Low-intensity scheduled morning exercise for adolescents with a late chronotype: a novel treatment to advance circadian phase? Sleep Adv. 2022;3(1):zpac021. https://doi.org/10.1093/sleepadvances/zpac021. 10. Youngstedt SD, Elliott JA, Kripke DF: Human circadian phase – response curves for exercise. J Physiol. 2019;597(8):2253-2268. 11. Buysse DJ: Chronic Insomnia. Am J Psychiatry. 2008;165(6):678-686.
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