Transkript
CP-Studie
Schmerzen bei Zerebralparese
Eine populationsbasierte Studie mit Kindern und Jugendlichen
In der Schweiz wurde bisher noch keine Studie zur Schmerzsituation bei Kindern mit Zerebralparese (CP) durchgeführt. Mit unserer Studie soll ein Teil dieser Lücke geschlossen werden. Darüber hinaus ist es unser Anliegen, die Aufmerksamkeit in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit CP in der ganzen Schweiz vermehrt auf die Schmerzproblematik zu richten.
Von Lena Bischoff 1, Anne Tscherter 2, Sandra Hunziker 2, Philip Broser 1 und Christoph Künzle 1
A us unserer persönlichen Erfahrung am Ostschweizer Kinderspital ist das Vorhandensein von Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese (CP) ein häufig unterschätztes Thema. Insbesondere wegen der oft eingeschränkten Kommunikation der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird der Fokus in der Sprechstunde auf andere, sichtbare Probleme gelegt. Mit dieser Studie wollten wir die Schmerzsituation bei Kindern und Jugendlichen mit CP erfassen. Ziel war es, gründliche Kenntnisse über die Häufigkeit, die Art und die Konsequenzen der Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit CP zu erlangen. Wir interessierten uns auch dafür, wie gut sich die Patienten und ihre Eltern bezüglich ihrer Schmerzen betreut fühlen. Folgende vier Fragestellungen wurden in dieser Arbeit ausgewertet: 1. Inzidenz von direkt oder indirekt durch die CP verur-
sachten Schmerzen innerhalb der letzten 12 Monate 2. Individuelle Schmerzhäufigkeit in Abhängigkeit vom
Schweregrad der Mobilitätsbeeinträchtigung (GMFCSStufe) 3. Lokalisation der Schmerzen 4. Subjektive Einschätzung der Betreuungsqualität in Bezug auf die Schmerzen.
Hintergrund der Studie
Definition: Eine neuere Definition der CP stammt von Rosenbloom et al. aus dem Jahre 2007 (1): «Die Zerebralparese (CP) beschreibt eine Gruppe von dauerhaften Störungen der Entwicklung von Bewegung und Haltung, was zur Einschränkung der Aktivität führt, die aufgrund einer nicht progressiven Störung des sich entwickelnden fetalen und/oder kindlichen Gehirns hervorgerufen wird. Die motorischen Störungen der zerebralen Lähmung sind oft von Störungen der Empfindung, der Wahrnehmung, der Kognition, der Kommunikation, des Verhaltens und von Epilepsie begleitet. Die Störung führt auch zu sekundären Erkrankungen des Bewegungsapparates.» Der Begriff CP ist also ein Oberbegriff, im Englischen auch «umbrella term» genannt, für verschiedene neurologische Störungen und Erkrankungen, die sich sehr unterschiedlich manifestieren können. Die daraus resultierenden Symptome der Patienten und ihre Beschwerden stellen eine therapeutische Herausforderung dar.
Ätiologie: Die Ursachen der CP sind vielfältig und in bis zu 80 Prozent der Fälle pränatal (2). Das Gestationsalter und somit das Stadium der Gehirnentwicklung bestimmen dabei die Art der Hirnläsion. Störungen in der frühen Schwangerschaft bis zur 24. Gestationswoche führen zu Störungen der Proliferation, der Migration und der Organisation neuronaler Zellen, was in Gehirnfehlbildungen resultiert. Spätere Störungen verursachen Läsionen. Bis zur 36. Gestationswoche sind dies primär periventrikuläre Läsionen der weissen Substanz infolge einer hypoxischen Läsion, einer Blutung oder hämorrhagischen Infarzierung. Ab der 37. Gestationswoche stehen vermehrt Läsionen der grauen Substanz durch Hypoxie und Ischämie im Vordergrund, aber auch intrauterine Infektionen können ursächlich sein. Hinzu kommen postnatale Ereignisse wie beispielsweise ein Kernikterus, ein Trauma, Ertrinkungsunfälle und entzündliche Läsionen.
1 Pädiatrische Neurorehabilitation, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen 2 Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Universität Bern, Bern
Abstract
Ziel der Studie: Wir wollten Häufigkeit, Art, Intensität, Begleiterkrankungen und Konsequenzen der Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit Zerebralparese (CP) im Kanton St. Gallen genauer erfassen. So soll künftig das Betreuungsmanagement dieser Patienten verbessert werden. Methodik: Alle im Kanton St. Gallen wohnhaften Kinder und Jugendlichen der Jahrgänge 2005 bis 2019 mit CP wurden zu einer Umfrage über Schmerzen eingeladen. Der Fragebogen basierte auf einem Fragebogen für die Schmerzsprechstunde am Ostschweizer Kinderspital. Erfasst wurden Häufigkeit, Art, Intensität, Lokalisation, Auslöser und Therapie der Schmerzen in den letzten 12 Monaten. Ausserdem wurden die Einschränkung der Teilhabe aufgrund von Schmerzen sowie die Häufigkeit von Schmerzkomorbiditäten erfragt. Resultate: 35 von 82 Kindern und Jugendlichen mit CP (42,7%) gaben an, in den letzten 12 Monaten an CP-assoziierten Schmerzen gelitten zu haben. Patienten mit Stufe 4 oder 5 im Gross Motor Function Classification System (GMFCS) hatten prozentual mehr Schmerzen, aber es gab keinen signifikanten Unterschied in der Schmerzintensität zwischen den verschiedenen GMFCS-Stufen. Am häufigsten traten Schmerzen in den Beinen auf. 87,5 Prozent der Patienten beziehungsweise ihrer Bezugspersonen fühlten sich immer oder oft von ihrem Behandlungsteam bezüglich der Schmerzen gut betreut. Schlussfolgerungen: Schmerzen sind bei Kindern und Jugendlichen mit CP häufig und müssen konsequent erfasst und behandelt werden.
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Abbildung 1: Generelle Richtlinien für jede GMFCS-Stufe (Gross Motor Function Classification System). Nach Palisano et al. (5), deutsche Übersetzung von Ulla S. Michaelis, Michaela Linder-Lucht, Sabine Stein und Ute Breuer; mit freundlicher Genehmigung von Prof. Volker Mall, Technische Universität München.
Die Lokalisation der Läsion bestimmt
die neurologische Symptomatik des
Patienten. Man unterscheidet spasti-
sche, dyskinetische und ataktische For-
men der CP. Am häufigsten ist gemäss
dem Surveillance of Cerebral Palsy
Network in Europe (SCPE), basierend
auf Daten von Himmelmann K et al.
von 1999 bis 2009, die spastische CP
(87,1%), gefolgt von der dyskineti-
schen (8,9%) und der ataktischen CP
Abbildung 2: Altersverteilung der 82 Patienten, deren Fragebögen zurückgesendet wurden
(4,1%) (3). Die Daten aus St. Gallen gemäss einer 2018 publizierten Studie von Forni et al. lauten: spastische CP
85 Prozent, dyskinetische CP 7,9 Pro-
zent und ataktische CP 7,1 Prozent (4). Es besteht eine
grosse Heterogenität in Bezug auf Ätiologie und Patho-
physiologie der verschiedenen Formen. Ein umfassendes
Verständnis der Mechanismen, die den vielen variieren-
den Merkmalen zugrunde liegen, fehlt noch. Spezifische
Strategien für das Management sowie die primäre und
sekundäre Prävention stehen ebenfalls noch aus.
Funktionelle Klassifikation (Gross Motor Function
Classification System): Um die funktionellen Fähigkei-
ten eines Patienten und damit den Schweregrad der CP zu
bestimmen, wurden verschiedene funktionelle Klassifika-
tionssysteme für die Grob- und Handmotorik, die Kommu-
nikation, die Ess- und Trinkfähigkeit und neu auch für die
Sehfunktion entwickelt. Weil die Grobmotorik aus unserer
Sicht bei Schmerzen am relevantesten ist, stellen wir hier
das Gross Motor Function Classification System (GMFCS)
vor (Abbildung 1). Das GMFCS teilt die motorische Be-
hinderung der Gehfunktion in 5 Schweregrade ein (5).
Komorbiditäten: Komorbiditäten sind bei CP häufig und sie verursachen unter anderem häufig Schmerzen. Die Läsionen im Gehirn beeinflussen neben der Motorik viele andere Bereiche und können so die Alltagsfunktionen sowie die Teilhabe massiv beeinflussen. Beispiele für Komorbiditäten sind in Tabelle 1 dargestellt (6). Schweizer CP-Register: Das Schweizer CP-Register wurde 2016 gegründet, es befindet sich am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern. Es wird unter der Leitung von Prof. Dr. med. Claudia Kuehni in Zusammenarbeit mit den Leitern der Neuropädiatrie- und Rehabilitationsabteilungen aller grossen Zentren der Schweiz aufgebaut. Das Präsidium hat PD Dr. med. Sebastion Grunt inne, verantwortlich für das Projektmanagement ist PD Dr. Anne Tscherter. In einer Datenbank werden medizinische Informationen von Patienten mit CP gesammelt. Das Register dient der ätiologischen, der Präventions- und der Versorgungsforschung. Daten wie zum Beispiel Häufigkeit, Typen, Schweregrade und Ur sachen der CP, auftretende Beschwerden, eingesetzte Behandlung und Therapien sowie deren Evaluation und die Unterstützung der individuellen Ziele im Sinne einer Optimierung der Teilhabe und der Lebensqualität der Patienten mit CP werden möglichst umfassend gesammelt und zwischen den verschiedenen Zentren verglichen. Ziele sind die Prävention sowie die Verbesserung der künftigen Therapie und Betreuung und damit des Wohlergehens der Menschen mit CP. Literaturrecherche: Auf der Basis dieses Hintergrundwissens und mit dem Ziel, die Schmerzsituation bei Kindern und Jugendlichen mit CP sowie deren Auswirkungen genauer zu erfassen, führten wir eine Literaturrecherche durch. In der Schweiz wurde bisher noch keine Studie durchgeführt, welche die Schmerzsituation bei Kindern mit CP untersucht. Aus anderen Ländern existieren wenige solche Studien, so beispielsweise jene von Alriksson-Schmidt und Hägglund aus Schweden. Diese 2016 publizierte Querschnittsstudie untersuchte die Prävalenz und die Lokalisation von Schmerzen bei 2777 Kindern und Jugendlichen zwischen 1 und 14 Jahren mit CP in Abhängigkeit von der GMFCS-Stufe sowie vom Alter und Geschlecht. Verwendet wurden die Daten aus der jeweils aktuellsten Sprechstunde. Es gaben 32,4 Prozent der eingeschlossenen Patienten an, unter Schmerzen zu leiden, dabei signifikant häufiger Kinder mit GMFCS-Stufe 3 und 4 als mit GMFCS-Stufe 1 (7). In einer systematischen Übersichtsarbeit von Novak et al. aus dem Jahre 2012 ergab sich eine Schmerzhäufigkeit von 75 Prozent bei Patienten mit CP. Die 30 in die Metaanalyse eingeschlossenen Studien hatten ein sehr hohes Evidenzniveau (97% Level 1), allerdings wurden dabei auch erwachsene Patienten untersucht, und die Studien waren nicht populationsbasiert (8). Eine 2020 publizierte australische Studie aus Sydney von Ostojic und Morrow fokussierte sich neben der Schmerzhäufigkeit auf das Management der Schmerzen und deren Einfluss auf die Lebensqualität. Dazu wurden bei 280 Probanden zwischen 5 und 18 Jahren die folgenden Skalen und Fragebögen verwendet: Faces Pain Scale Revised, Patient Reporting Outcomes Measurement Information System, Pediatric Pain Interference Scale und Cerebral Palsy Quality of Life Questionnaire. 67,1 Prozent der Pro-
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banden gaben dabei an, an akuten Schmerzen zu leiden, während chronische Schmerzen bei 31,4 Prozent auftraten. Auch hier zeigte sich, dass eine höhere GMFCS-Stufe von 4 oder 5 einen Risikofaktor für das Auftreten von Schmerzen darstellt. Die Schmerzen beeinträchtigten dabei häufig den Schlaf, die Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, Spass zu haben, und die Lebensqualität (9). Es gibt verschiedene Instrumente zur Schmerzerfassung bei Patienten mit CP. In einer 2019 publizierten Studie aus Vancouver, Kanada, verglichen Schiariti und Oberlander 31 dieser Erfassungsinstrumente. Dabei stellte sich heraus, dass sich die meisten Instrumente vor allem auf die Schmerzintensität und -lokalisation fokussieren, während die funktionellen Auswirkungen auf die Teilhabe und die Lebensqualität deutlich untervertreten sind (10). Erste Ideen solcher Instrumente existieren aber. Diese müssen weiterentwickelt werden und zwingend Einzug in die standardisierte Schmerzerfassung im Praxisalltag halten.
Methodik der Studie
Studiendesign: Die Studie ist eine populationsbasierte Fragebogen-Querschnittsstudie. Sie fand im Rahmen des Schweizer CP-Registers statt. Das Schweizer CP-Register wurde von der zuständigen kantonalen Ethikkommission Bern bewilligt (2017-00873). Studienpopulation: Die Studienpopulation bestand aus allen Kindern und Jugendlichen der Jahrgänge 2005 bis 2019 mit CP, die im Kanton St. Gallen wohnhaft waren. Selektion: Eingeschlossen wurden alle am Ostschweizer Kinderspital betreuten Kinder und Jugendlichen der Jahrgänge 2005 bis 2019, die im Kanton St. Gallen wohnhaft und bereits im Schweizer CP-Register erfasst waren. Dies waren insgesamt 131 Probanden. Die Familien hatten zur Teilnahme am Register schriftlich eingewilligt. Durchführung der Studie: Im Anschluss an die Selektion wurde den 131 eingeschlossenen Probanden im Oktober 2021 per Post ein Fragebogen zugestellt. Dieser enthielt neben den Personalien, der Schul- und Wohnsituation und der GMFCS-Stufe Fragen zur Schmerzsituation. Die Fragen zum Schmerz basierten auf einem Fragebogen, der in der Schmerzsprechstunde am Ostschweizer Kinderspital verwendet wird. Die Fragen wurden teilweise angepasst oder vertieft, damit die spezifische Situation der Patienten mit CP erfasst werden konnte. Die Anpassungen bestanden vor allem darin, Schmerzen auch nonverbal erfassen zu können. Es gab zwei Versionen des Fragebogens. Eine Version A für die Kinder der Jahrgänge 2010 bis 2019, die die Eltern ausfüllen sollten. Und eine Version B für die Jugendlichen der Jahrgänge 2005 bis 2009, die sie, so weit möglich, selbständig ausfüllen sollten oder die, falls nicht möglich, mit Unterstützung der Eltern ausgefüllt werden konnte. Die beiden Versionen enthielten dieselben Fragen, die Version B wurde in der Du-Form formuliert. 72 Patienten erhielten die Version A, 59 die Version B. Datenerhebung: Der Fragebogen erfasste neben den Personalien die Schul- und Wohnsituation des Patienten, die GMFCS-Stufe sowie Angaben zur ausfüllenden Person mit Datum. Diese personenspezifischen Informationen wurden getrennt vom restlichen Fragebogen aufbewahrt, um die Anonymität zu wahren. Darauf folgte die Frage, ob das Kind beziehungsweise der Jugendliche innerhalb der letzten 12 Monate Schmerzen gehabt habe, die direkt oder indirekt aufgrund der CP aufgetreten seien. Wenn
diese Frage mit Nein beantwortet wurde, war die Befragung abgeschlossen, ansonsten folgten weitere Fragen zur Schmerzcharakteristik, Therapie und Partizipation. Datenerfassung und -verarbeitung: Eingegeben wurden die Daten der Fragebogenstudie in die webbasierte Datenbank REDCap (Research Electronic Data Capture) am Institut für Sozialund Präventivmedizin der Universität Bern. REDCap ist eine sichere, webbasierte Softwareplattform, die zur Unterstützung der Datenerfassung für Forschungsstudien entwickelt wurde (11, 12). Die Daten des Schweizer CP-Registers werden ebenfalls in REDCap erfasst, aber in einer separaten Datenbank. Die statistische Auswertung und die Generierung der Grafiken erfolgten mit der frei verfügbaren Software R (13).
Abbildung 3: Verteilung GMFCS-Stufen (n = 82)
Resultate
Rücklauf: Von den 131 versendeten
Fragebögen wurden 82 zurückge-
schickt. Alle 82 Fragebögen konnten
ausgewertet werden.
Bei den 49 nicht retournierten Fragebögen handelte es sich in 57,1 Prozent (n = 28) der Fälle um die Version für
Abbildung 4: Schmerzhäufigkeit in Relation zur GMFCS-Stufe
Kinder und bei 42,9 Prozent (n = 21) um
diejenige für Jugendliche. Nicht retour-
niert wurden die Fragebögen zu 21
männlichen (42,9%) und 28 weiblichen
(57,1%) Patienten. Was die GMFCS-Ver-
teilung bei den nicht zurückgesendeten
Fragebögen betrifft, hatten 36,7 Pro-
zent (n = 18) der Patienten den GMFCS
1, 20,4 Prozent (n = 10) GMFCS 2, 6,1
Prozent (n = 3) GMFCS 3, 14,3 Prozent
(n = 7) GMFCS 4 und 22,5 Prozent (n =
11) GMFCS 5.
Abbildung 5: Intensität der stärksten Schmer-
Ergebnisse der Fragebögen: Von zen in Relation zur GMFCS-Stufe
den 82 Probanden, deren Fragebögen
ausgewertet wurden, waren 59,8 Prozent (n = 49) männ-
lich und 40,2 Prozent (n = 33) weiblich. 53,7 Prozent (n =
44) gehörten den Jahrgängen 2010 bis 2019 (sie erhielten
den Fragebogen A für Kinder) an, während 46,3 Prozent
(n = 38) zwischen 2005 und 2009 geboren wurden und
somit den Fragebogen B für Jugendliche erhielten. Die
Alters- und GMFCS-Verteilung ist in den Abbildungen 2
und 3 dargestellt. 42,7 Prozent der Patienten (n = 35)
liessen sich GMFCS 1 zuordnen, 22 Prozent (n = 18)
GMFCS 2, 12,2 Prozent (n = 10) GMFCS 3, 15,9 Prozent
(n = 13) GMFCS 4 und 7,3 Prozent (n = 6) GMFCS 5.
CP-bedingte Schmerzen: Die Frage nach Schmerzen
innerhalb der letzten 12 Monate, die direkt oder indirekt
aufgrund der CP aufgetreten waren, wurde von 42,7
Prozent der Befragten (n = 35) bejaht und von 57,3 Pro-
zent (n = 47) verneint.
Schmerzhäufigkeit und Mobilitätsgrad: Die Häufig-
keit von CP-assoziierten Schmerzen innerhalb der letzten
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Abbildung 6: Schmerzhäufigkeit an den häufigsten Lokalisationen in Relation zur GMFCS-Stufe
12 Monate in Abhängigkeit vom Schweregrad der Mobilitätsbeeinträchtigung (GMFCS-Stufe) ist in Abbildung 4 dargestellt. Im Vergleich dazu zeigt Abbildung 5 für alle Probanden mit Schmerzen die Intensität ihrer stärksten Schmerzen (auf einer Skala von 0 bis 10) innerhalb der letzten 4 Wochen, ebenfalls relativ zur GMFCS-Stufe. Schmerzlokalisationen: Die häufigsten Schmerzlokalisationen waren Bein (40%, n = 14), Fuss und Knie (je 37,1%, n = 13), Bauch (28,6%, n = 10) und Hüfte (22,9%, n = 8). In Abbildung 6 wird die Häufigkeit von Schmerzen innerhalb der letzten 12 Monate an diesen 5 Lokalisationen in Abhängigkeit von der GMFCS-Stufe dargestellt. Betreuungsqualität: Wie gut fühlten sich die Patienten beziehungsweise deren Bezugspersonen von den medizinischen Fachpersonen bezüglich der Schmerzen betreut? Angaben lagen von 32 der 35 Probanden mit CP-bedingten Schmerzen vor. Davon fühlten sich 40,6 Prozent (n = 13) immer gut betreut. Der grösste Teil (46,9%, n = 15) fühlte sich häufig gut betreut, während sich 3,1 Prozent (n = 1) manchmal und 9,4 Prozent (n = 3) nur selten gut betreut fühlten. Keiner der Befragten gab an, sich nie gut betreut gefühlt zu haben. Das Augenmerk sollte dabei gemäss Aussagen der Patienten beziehungsweise ihrer Bezugspersonen vor allem auf der besseren therapeutischen Betreuung liegen, während sie mit der Diagnostik grundsätzlich zufrieden waren.
Tabelle:
Beispiele für Komorbiditäten bei CP-Patienten und deren Häufigkeit
Komorbidität Schmerzen Intellektuelle Beeinträchtigung Hüftluxation Sprechstörung Epilepsie Verhaltensstörung Blasenkontrollprobleme Schlafstörung Blindheit Nahrungsaufnahmestörung Taubheit
Häufigkeit 75% 50% 33,3% 25% 25% 25% 25% 20% 10% 6,7% 4,0%
nach Novak 2014 (6)
Diskussion
Die Intention dieser fragebogenbasierten Querschnittsstudie war es, die Häufigkeit, die Art und die Intensität, die Begleiterkrankungen und die Konsequenzen der Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit CP genauer zu erfassen, um das Betreuungsmanagement dieser Patienten verbessern zu können. Bei der Auswertung der nicht retournierten Fragebögen fiel auf, dass deutlich mehr männliche als weibliche Probanden den Fragebogen retourniert hatten. Wir werten diese Tatsache als Zufall. Die Verteilung der Fragebögen für Kinder und Jugendliche stimmte zwischen den retournierten und nicht retournierten Fragebögen weitgehend überein, auch die GMFCS-Verteilung war ähnlich. Zu erwähnen ist aber, dass prozentual etwas mehr Patienten mit GMFCS 1 den Fragebogen retourniert haben, während es bei den GMFCS-5-Patienten weniger waren. Dies war aufgrund der tendenziell höheren Belastung der Familien schwerer betroffener Kinder und Jugendlichen zu erwarten. Oft konnten die Eltern nur schwer einschätzen, ob und in welchem Ausmass ihr Kind Schmerzen hatte. Dafür könnte ein leicht verständliches, nonverbales Schmerzerfassungsinstrument oder eine gute Aufklärung der Eltern hilfreich sein. Auch Fremdsprachlichkeit war ein Grund dafür, den Fragebogen nicht auszufüllen. Teilweise konnte dieses Hindernis durch das gemeinsame Ausfüllen des Fragebogens in der Sprechstunde umgangen werden, die Kooperation war jedoch nicht immer gegeben. 42,7 Prozent unserer Probanden litten unter Schmerzen, das ist glücklicherweise die Minderheit. Trotzdem war dieser Anteil deutlich höher als erwartet. Gerade bei schwerer beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen (GMFCS 4 und 5) bemerkten viele Eltern und Bezugspersonen, dass sie der Schmerzproblematik bis anhin zu wenig Beachtung geschenkt hätten und ihnen das Ausmass sowie die Beeinträchtigungen durch die Schmerzen nicht bewusst gewesen seien. Es gab allerdings auch Eltern, die uns mitteilten, dass sie keine Angaben zu den Schmerzen ihres Kindes machen könnten, da die Beurteilung nicht möglich sei. Die in der Literatur beschriebenen Schmerzhäufigkeiten sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von 32,4 Prozent (7) in einer anderen populationsbasierten Erhebung bis 67,1 (9) oder gar 75 Prozent (8) in Querschnittsstudien. Mit unseren Ergebnissen liegen wir also ungefähr im Durchschnitt der bekannten CP-assoziierten Schmerzprävalenz beziehungsweise etwas darunter. Die geringere Schmerzprävalenz in unserer Studie könnte, wie bereits erwähnt, auf die fehlende Wahrnehmung der Schmerzen oder auf den geringeren Anteil retournierter Fragebögen der Patienten mit GMFCS-Stufe 4 und 5 zurückzuführen sein. Der grösste Teil unserer Probanden entsprach bezüglich Gehfähigkeit und Mobilität einem GMFCS 1 (42,7%, n = 35). Dies entspricht etwa der natürlichen Verteilungstendenz, wie beispielsweise Daten von Delhusen Carnahan et al. von 2007 dokumentieren, wonach 47,9 Prozent (n = 172) der Probanden in GMFCS 1 eingestuft wurden (14). Die geringere Stichprobengrösse der GMFCS-2- und GMFCS-3-Gruppen in unserer Studie könnte aber ein Grund dafür sein, dass für Patienten mit diesen GMFCS-Graden deutlich weniger häufig Schmerzen erfasst wurden als bei den Patienten mit GMFCS 1. Ein weiterer Grund für den geringeren prozentualen Anteil an Patienten mit Schmerzen in den Schweregraden GMFCS
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2 und 3 könnte auch die Fähigkeit der GMFCS-1-Patienten sein, ihre Schmerzen klar zu äussern. Diese Fähigkeit nimmt bei Patienten mit höheren GMFCS-Stufen in der Regel ab. Das häufigere Auftreten von Schmerzen bei GMFCS-4- und GMFCS-5-Patienten war aufgrund der schwereren Beeinträchtigung mit komplexeren Komorbiditäten zu erwarten. Während Patienten mit geringeren GMFCS-Stufen eher unter Schmerzen am Bewegungsapparat litten, nahm die Diversität der Schmerzlokalisationen mit steigender GMFCS-Stufe zu. Dies war zu erwarten und lässt sich mit der Zunahme der Komorbiditäten in höheren GMFCSStufen erklären. Insbesondere abdominale Beschwerden waren eine häufige Schmerzursache bei Patienten mit GMFCS 4 und 5. In einer 2021 publizierten Studie von Leader et al. betrug die Häufigkeit von gastrointestinalen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen mit CP 81,7 Prozent. Ausserdem wurde eine Korrelation zwischen gastrointestinalen Symptomen und Schlafstörungen sowie internalisierenden und externalisierenden Symptomen gefunden (15). Erwähnenswert ist, dass auch nicht gehfähige Patienten mit GMFCS 4 Fussschmerzen angaben, beispielsweise durch die Gewichtsübernahme beim Transfer, beim Stehen im Stehbrett oder durch das Tragen von Orthesen. Ursachen für Hüft-, Knie-, Fuss- und Beinschmerzen sind grundsätzlich in der Überbelastung bei gehfähigen Patienten sowie bei allen Patienten in Gelenksluxationen und -kontrakturen zu finden. Die Therapie bei Letzteren mittels posturalen Managements ist ebenfalls ein häufiger Auslöser von Schmerzen (vgl. dazu die 2018 publizierte Studie von Gmelig Meyling et al. [16]). Sehr erfreulich war für uns, dass sich der Grossteil der Patienten beziehungsweise der Betreuungspersonen (87,5%, n = 28) bezüglich der Schmerzen immer oder häufig gut betreut fühlte. Dennoch fühlten sich 12,5 Prozent (n = 4) nur manchmal oder selten gut betreut, ein Umstand, der sicher verbesserungsbedürftig ist.
Limitationen
Alle eingeschlossenen Probanden wurden am Ostschweizer Kinderspital St. Gallen behandelt. Da es sich hier um ein Zentrumsspital handelt, werden tendenziell komplexere Patienten betreut. Ausserdem wurden nur solche Patienten eingeschlossen, bei denen eine CP bereits diagnostiziert war. Verständnisprobleme könnten ebenfalls eine Limitation gewesen sein, wie auch die Anforderung einer aktiven Retournierung des Fragebogens. Eventuell waren die Fragen nicht spezifisch genug, um eine adäquate Antwort mit ausreichender Sensitivität und Spezifität zu ermöglichen. Da nur ein Teil des Gesamtfragebogens ausgewertet wurde, könnte ein Selektionsbias bestehen. Ausserdem war die Anzahl der eingeschlossenen Patienten überschaubar. Für eine repräsentativere Studie müsste die Studienpopulation vergrössert sowie zwischen verschiedenen Zentren verglichen werden, möglichst international.
Schlussfolgerungen
Unsere Studie zeigt, dass Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen mit CP im Kanton St. Gallen unabhängig vom Schweregrad der Beeinträchtigung häufig auftreten. Ähnliche Werte wurden in der Literatur in einer anderen
populationsbasierten Erhebung in Schweden gefunden
(7). Trotzdem zeigten sich abhängig von der GMFCS-Stufe
gewisse Unterschiede in Bezug auf die Lokalisation der
Schmerzen.
Es ist unser Anliegen, die Aufmerksamkeit in der Betreu-
ung von Kindern und Jugendlichen mit CP in der ganzen
Schweiz vermehrt auf die Schmerzproblematik zu richten.
So soll künftig das Betreuungsmanagement dieser Patien-
ten verbessert werden, um Schmerzen zu vermeiden, die
Teilhabe zu erhöhen und die Lebensqualität zu verbes-
sern. Dieses Ziel werden wir weiter verfolgen.
Korrespondenzadresse:
Lena Bischoff
Pädiatrische Neurorehabilitation
Ostschweizer Kinderspital St. Gallen
Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen
E-Mail: lena.bischoff@kispisg.ch
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern nur die männliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermassen für alle Geschlechter.
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