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Schwerpunkt
«Post COVID tritt am häufigsten bei Adoleszenten auf»
Die Coronaviruspandemie hat durch die grosse Zahl gleichzeitig an COVID-19 erkrankter Patienten das Phänomen postviraler Syndrome stärker in den Fokus gerückt als zuvor. Wir sprachen mit PD Dr. med. Julia A. Bielicki, Infektiologin am Universitätskinderspital beider Basel UKBB, über die Bedeutung von Long bzw. Post COVID im Kindes- und Jugendalter.
PÄDIATRIE: Wie werden Long und Post COVID bei Kindern und Jugendlichen definiert? PD Dr. med. Julia A. Bielicki: Es gibt keine international anerkannte Definition für Long COVID oder Post COVID und beide Begriffe sind nicht gut voneinander abgegrenzt. Der Begriff Long COVID suggeriert, dass das Virus noch vorhanden sei und direkt Schaden anrichten würde, während Post COVID eigentlich bedeutet, dass nicht das Virus selbst die Symptome bewirkt, sondern grösstenteils noch unbekannte Interaktionen zwischen dem Virus und dem Wirt dafür verantwortlich sind. Die neueste und wahrscheinlich zurzeit beste Definition von Post COVID kommt aus England. Um Post COVID handelt es sich demnach, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher Symptome hat, die nicht anderweitig erklärbar sind und nach einer bestätigten COVID-19-Diagnose fortbestehen oder sich entwickeln. Bereits bei dem Kriterium, dass die COVID-19-Diagnose durch einen Test bestätigt sein muss, fangen die Schwierigkeiten an. Nicht alle an COVID-19 erkrankten Patienten haben auch ein entsprechendes Testergebnis zur Bestätigung der Diagnose. Des Weiteren muss mindestens ein körperliches Symptom vorhanden sein; eine depressive Verstimmung oder der sogenannte «brain fog» allein reichen für die Diagnose nicht aus. Zu den körperlichen Symptomen gehören zum Beispiel Palpitationen, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder andere gastrointestinale Symptome. Auch müssen das körperliche, geistige oder soziale Wohlbefinden des Patienten und mindestens ein Aspekt des täglichen Lebens beeinträchtigt sein. Das kann beispielsweise Rückzugsverhalten sein, das zu Problemen mit dem Schul besuch, mit dem häuslichen Umfeld oder mit sozialen Beziehungen führt, weil das Kind bei sonst üblichen Aktivitäten nicht mehr mitmachen kann. Die Symptome müssen auf jeden Fall mindestens 12 Wochen nach dem positiven Sars-CoV-2-Test vorhanden sein. Es ist sehr typisch für Post COVID, dass die Beschwerden nicht stetig zu- oder abnehmen oder gleich bleiben, sondern dass sie schwanken. Das berichten viele Patienten.
Tritt das Phänomen häufiger bei Erwachsenen als bei Kindern auf? Bielicki: Post COVID tritt im Vergleich mit anderen Altersgruppen am häufigsten bei Adoleszenten auf. Insbesondere die spätadoleszenten Mädchen oder jungen Frauen
sind davon betroffen. Bei den jüngeren Kindern ist Post COVID deutlich seltener und oft manifestiert es sich bei ihnen eher als körperliche Beschwerden. Bei den Adoleszenten treten hingegen häufig Abgeschlagenheit, Konzentrationsschwäche usw. auf, vergleichbar mit häufiger betroffenen Gruppen von Erwachsenen. Beispielsweise haben Personen mit vorbestehenden Erkrankungen häufiger Post COVID, sowohl Kinder als auch Jugendliche und Erwachsene. Es müssen keine sehr schwerwiegenden Erkrankungen sein. So tritt Post COVID zum Beispiel bei Asthmatikern häufiger als bei Nichtasthmatikern auf und bei Personen mit Migräne häufiger als bei Personen ohne Migräne. Was wir im Gegensatz zu Erwachsenen weder bei Kindern noch bei Jugendlichen sehen, ist eine Assoziation zwischen der Schwere der akuten Infektion und dem Auftreten von Post COVID.
PD Dr. med. Julia A. Bielicki
Psychosomatische Symptome sind bei Jugendlichen
nicht selten. Was bedeutet das für die Diagnose
Long bzw. Post COVID?
Bielicki: Für Post COVID typische Symptome sind vor
allem bei Adoleszenten auch ausserhalb von Long bzw.
Post COVID beschrieben. Ich
weiss nicht, ob das allen Beteiligten immer bewusst ist, aber es gibt Kohortenstudien aus der Vergangenheit, die zeigen,
Es gibt sehr viele Infektionen, die mit postinfektiösen Syndromen verbunden sind.
dass «brain fog», Abgeschla-
genheit, Konzentrationsstörungen usw. gerade bei Ado-
leszenten auch ausserhalb der SARS-CoV-2-Pandemie
relevant häufig vorkommen.
Wenn wir diese Phänomene nun ständig im Zusammen-
hang mit COVID-19 diskutieren und so gut wie alle Be-
troffenen ja auch tatsächlich COVID-19 hatten, vergessen
wir manchmal, dass wir viele dieser Symptome gut ken-
nen und bis zu 1 von 10 Jugendlichen davon betroffen ist
– unabhängig von COVID-19.
Das macht mir Sorgen, weil ich glaube, dass wir diese
Symptome anders handhaben müssen, wenn sie nichts
mit einem postviralen Syndrom zu tun haben. Ich habe
kaum Sorge, dass wir Jugendlichen mit Post COVID nicht
gerecht werden, aber ich befürchte, dass wir denjenigen
nicht gerecht werden, deren Beschwerden kein postvira-
les Phänomen sind und die in der Masse der Post-CO-
VID-Patienten unerkannt bleiben. Das ist eine Heraus-
forderung, die nicht zu unterschätzen ist.
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Was sollte man in der Kinderarztpraxis bei einem Patienten mit Verdacht auf Long oder Post COVID abklären? Bielicki: Zu Beginn der Pandemie konnte man zunächst überprüfen, ob überhaupt eine Infektion mit Sars-CoV-2 stattgefunden hatte. Und falls das nicht der Fall war, war es zumindest kein Post COVID, sondern irgendetwas anderes. Jetzt ist es aber so, dass wir fast alle irgendwann mit Sars-CoV-2 infiziert wurden, sodass es viel schwieriger ist, die Infektion als Ursache der Beschwerden auszuschliessen.
Ich befürchte, dass wir denjenigen nicht ge recht werden, deren Beschwerden kein post virales Phänomen sind und die in der Masse der Post-COVID-Patienten unerkannt bleiben.
Wir am UKBB bieten den Kinderärztinnen und Kinderärzten die Möglichkeit an, uns diese Kinder zuzuweisen. Wir empfehlen die Zuweisung, wenn der Alltag des Kindes oder Jugendlichen beeinträchtigt ist und das von den Familien oder dem Patienten selbst als einschneidend erlebt wird. In der Infektiologie am UKBB schauen wir zunächst von der Anamnese her, ob diese zu Post COVID passen könnte: Welche Beschwerden waren bereits vor einer allfälligen Infektion vorhanden? Wir klären auch infrage kommende Differenzialdiagnosen ab und schauen gemeinsam mit den Betroffenen, von welchen Fachärzten das Kind am besten weiterbehandelt werden sollte. Falls zum Beispiel Kopfschmerzen im Vordergrund stehen, würden wir eher in Richtung Neurologie gehen, wenn es eher um Atemnot geht, würden wir das Kind an die Pneumologie weiterleiten. Grundsätzlich empfehlen wir allen Patienten mit Post COVID, entweder über ihre Kinderärzte oder über uns eine kinderpsychologische Betreuung in Anspruch zu nehmen, weil wir aus Erfahrung mit anderen postviralen Syndromen wissen, dass diese Betreuung wichtig ist.
Was hält man zurzeit für den Kern des PostCOVID-Phänomens und anderer postviraler Beschwerden? Bielicki: Ich finde diese Diskussion immer schwierig. Letztlich geht es um die Frage: Gibt es das? Und Ja, das gibt es, weil wir es sehen! Die Frage «Gibt’s das?» ist eher ein Ausdruck dafür, dass wir nicht verstehen, um was es sich handelt und was dabei genau vor sich geht. Es ist wahrscheinlich eine individuelle Reaktion des Körpers auf eine Infektion. Diese Vorgänge sind tatsächlich sehr komplex. Wir kennen das bereits aus der Erfahrung mit anderen Viruserkrankungen: Es gibt einen Komplex an Symptomen und es kommen immer wieder ähnliche Muster zum Vorschein, was man dann als ein sozusagen in sich kohärentes Syndrom bezeichnen könnte.
Und was bedeutet das für die Therapie? Bielicki: Der Symptomenkomplex erlaubt keine einfachen Antworten in dem Sinn, ob ein Patient nun zu einem Lungenarzt, Neurologen, Kardiologen oder anderen Spezialisten geschickt werden sollte. Vielmehr sind die wohlbekannten Ansätze sinnvoll, die man bei Patienten mit Chronic-Fatigue-Syndrom, dem CFS, anwendet – deswegen ist uns die Anbindung an unsere Kinderpsychologen so wichtig. Für CFS-Patienten gibt es standardisierte Vorgehensweisen, wie man mit solchen Symptomen umgeht. Diese Strategie ist recht erfolgreich und wirklich hilfreich für die Patienten. Dabei überspringt man bewusst die nach wie vor ungeklärte Frage, welche exakte Pathophysiologie hinter dem Phänomen steckt. Das kann man kritisieren und wenn man eine gezielte Therapie finden könnte, wäre das wirklich wunderbar. Aber wenn es sich um etwas derart Komplexes handelt, finde ich, dass ein sehr guter Ansatz ist, sich primär zu fragen: «Was können wir tun, um diesen Patienten zu helfen?» Es ist in diesem Fall nicht mehr so wichtig, ganz genau zu wissen, was pathophysiologisch vor sich geht. Sondern es ist wichtiger, dass es ein vielversprechendes Vorgehen gibt, mit dem sich die meisten Patienten gut aufgehoben fühlen und mit der Zeit vieles oder alles wieder wie vor der Infektion tun können.
Post COVID tritt deutlich seltener bei gemipften COVID-19-Patienten auf.
Es gibt Long- bzw. Post-COVID-Sprechstunden in vielen Regionen und Institutionen. Läuft es dort ähnlich wie am UKBB? Bielicki: Ja, das läuft überall sehr ähnlich ab, auch wenn der erste Kontakt nicht, wie bei uns, unbedingt bei den Infektiologen angesiedelt ist. Infektiologen sind meiner Meinung nach nicht unbedingt dafür prädestiniert, eine Post-COVID-Sprechstunde vollumfänglich anzubieten, weil es sich vermutlich nicht um eine persistierende Infektion handelt, sondern um Konsequenzen einer früheren Infektion. Aber die Vorgehensweise ähnelt im Prinzip doch sehr derjenigen bei anderen Infektionen, bei denen ebenso eine multidisziplinäre, enge Zusammenarbeit mit Kinderärzten und Spezialisten notwendig ist, um mögliche Differenzialdiagnosen zu bestätigen oder auszuschliessen.
Wie erklärt man sich, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders anfällig für postvirale Fatigue sind? Bielicki: Es gibt dazu eine interessante Studie aus Freiburg im Breisgau. Die Kollegen haben sich Haushalte angeschaut, in denen einige Personen nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert waren, andere Haushaltmitglieder aber nicht. Letztere hatten sicher auch Kontakt mit dem Virus, wurden aber nicht infiziert. Das Interessante an dieser Studie ist, dass auch die exponierten, nicht infizierten Personen Post-COVID-Symptome beschreiben und dass dieses Phänomen in einigen Haushalten clustert. Es gibt demnach Haushalte, in denen zum einen Personen mit einem Post-COVID-Syndrom leben, und zum anderen exponierte, aber nicht infizierte Personen dieselben Symptome haben. Das hat nichts damit zu tun, dass die Symptome erfunden oder irreal seien, sondern das zeigt meiner Meinung nach, dass wahrscheinlich genetische und epigenetische Faktoren sowie die Umwelt eine Rolle dabei spielen, ob bestimmte Personen anfälliger dafür sind und andere weni-
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ger anfällig. Die Hypothese, dass Familien als Gesamtheit mehr oder weniger anfälliger sein können, wird dadurch gestützt, dass Familien ihre Gene, ihre Umwelt und weitere Faktoren teilen, wobei es nicht nur um physiologische Faktoren geht.
es zumindest schwere Verläufe zu einem gewissen Grad und bei einem grossen Anteil der Patienten verhindert, wenn sie es zum richtigen Zeitpunkt einnehmen. Insofern würde ich erwarten, dass das auch einen positiven Effekt bezüglich des Risikos für Post COVID hat.
Sind auch andere Infektionen mit Langzeitphänomenen verbunden? Bielicki: Es gibt sehr viele Infektionen, die mit postinfektiösen Syndromen verbunden sind. Ein typisches Beispiel, bei dem postinfektiöse Symptome häufig sind, ist das Pfeiffersche Drüsenfieber. Dasselbe gilt für die Influenza. Man sieht Ähnliches auch bei parasitären Erkrankungen oder bei vielen tropischen, vektorübertragenen Erkrankungen wie Zika, Chikungunya- und Denguefieber – alles Erkrankungen, bei dem postinfektiöse Syndrome für uns nichts Ungewöhnliches sind. Die Symptome ähneln denjenigen bei Post COVID, aber wir sahen Betroffene bei anderen Infektionen in der Regel sporadisch. In der Pandemie wurden hingegen sehr viele potenziell vulnerable Personen gleichzeitig mit Sars-CoV-2 konfrontiert, sodass postinfektiöse Syndrome mehr Personen auf einmal betrafen.
Wie sieht die Prognose bei Long oder Post COVID aus? Bielicki: Wie für andere postvirale Syndrome gilt auch hier, dass der Anteil der Patienten, die nach 12 Monaten immer noch einschränkende Beschwerden haben, im einstelligen Prozentbereich liegt. Bei den weitaus meisten kommt es 12 Monate nach der Infektion zu einer drastischen Besserung oder zu einem kompletten Verschwinden der Beschwerden.
Wenn postinfektiöse Syndrome seit Langem bekannt sind, sollte man eigentlich längst wissen, was hinter diesem Phänomen steckt ... Bielicki: Ich glaube, das ist ein Anspruch, den auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen unterschreiben würden. Die Coronaviruspandemie ist ein grosser Anstoss, sich in der Forschung mit diesem Thema intensiver auseinanderzusetzen als zuvor. Neben der Pathophysiologie geht es zum Beispiel um die Frage, ob man das Risiko für postvirale Syndrome vorhersagen könnte. Auch wenn man nicht viel darüber weiss, wie man diese gezielt behandeln kann, könnten früher beginnende Rehabilitationsmassnahmen bei Personen mit erhöhtem Risiko vielleicht etwas bringen.
Gibt es präventive Massnahmen, die das Risiko für Long COVID und ähnliche Syndrome vermindern? Bielicki: Ja, die gibt es. Zum Beispiel tritt Post COVID deutlich seltener bei geimpften COVID-19-Patienten auf. Natürlich wird jetzt der eine oder andere sagen, dass er jemanden kennt, der geimpft ist und trotzdem Post COVID hat – aber es ist tatsächlich so, dass das Risiko für Post COVID bei den Geimpften niedriger ist als bei den Ungeimpften. Für uns in der Pädiatrie ist diese Erkenntnis gleichzeitig eine Herausforderung, denn in der Schweiz wird die Impfung für unter 16-Jährige nicht empfohlen. Angesichts der Erwartung einer grossen Welle an Patienten mit postviralen Syndromen infolge von COVID-19 kann man sich schon fragen, ob das Impfen von Kindern nicht doch eine mögliche Strategie wäre, um Post COVID bei ihnen zu verhindern. Auch bei Kindern kann Post COVID sehr einschneidende Konsequenzen haben, zumindest für eine gewisse Zeit.
Welchen Einfluss hat Paxlovid auf das PostCOVID-Risiko? Bielicki: Kinder dürfen nicht mit Paxlovid behandelt werden. Bei Erwachsenen nützt Paxlovid schon etwas, weil
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