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Schwerpunkt
Antikonzeption bei Jugendlichen
Was ist bei der Beratung speziell zu beachten?
Jugendliche unterscheiden sich von Erwachsenen und von Kindern, das ist uns eigentlich klar, und trotzdem werden sie allzu häufig als grosse Kinder oder kleine Erwachsene behandelt. In diesem Artikel möchten wir über die Besonderheiten von Setting und Kommunikation mit Jugendlichen, die Wichtigkeit einer psychosozialen Anamnese sowie über Unterschiede bei der Wahl der Antikonzeption mit Rücksichtnahme auf den sich entwickelnden Körper sprechen.
Von Lara Gamper und Renate Hürlimann
D as Gehirn befindet sich in der Adoleszenz in einem Umbauprozess, welcher zu reduzierter Impulskontrolle und ausgeprägterem Risikoverhalten führt. Die erlebten Erfahrungen stellen einen wichtigen Teil der Entwicklung dar, bringen aber auch Risiken mit sich. Die Jugendlichen treffen wichtige Entscheide und tragen die Konsequenzen. Themen wie Sexualität und Verhütung sollen von uns deshalb direkt angesprochen werden. Selbst wenn Jugendliche heutzutage offener über Sexualität sprechen und das Thema omnipräsent zu sein scheint, gibt es immer noch viele Mythen und Unwahrheiten. Wir wissen, dass sich gerade männliche Jugendliche häufig über Pornografie aufklären und und die dargestellte Sexualität als normal erachten. Jugendliche sprechen diese Themen kaum von sich aus an. Nur ein kleiner Teil der Jugendlichen stellt sich in unserer kinder- und jugendgynäkologischen Sprechstunde zu einem Aufklärungsgespräch vor, etwas häufiger ist der Wunsch nach einem «Pillengespräch» – sodass letztlich jede ärztliche Vorstellung eine Chance darstellt, unser Interesse kundzutun, nachzufragen und uns als Ansprechpersonen verfügbar zu zeigen.
Besonderheiten der Kommunikation und der Konsultation
Im Kontakt mit Fachpersonen sprechen die wenigsten Jugendlichen Themen wie Sexualität oder Verhütung offen an. Immer noch ist es zum Teil ein schambehaftetes Thema, und es bedarf eines geschützten Rahmens. Die psychosoziale Anamnese soll den Jugendlichen diesen Raum schaffen und ein Gespräch ohne Eltern ermöglichen. Ein Grossteil der Jugendlichen spricht dann sehr offen, ist interessiert am Austausch und dankbar, dass die Themen angesprochen werden. Jugendliche sollten ab dem Alter von 11 bis 12 Jahren während eines Teils der Konsultation allein und ohne die Anwesenheit der Begleitperson gesehen werden. Am einfachsten erscheint es im Alltag, wenn dies zu Beginn der Sprechstunde als normaler Bestandteil der Konsultation angekündigt wird. Es ist hilfreich, die Sprechstunde gemeinsam zu beginnen, einerseits weil anamnestische Angaben der Eltern von Bedeutung sind, andererseits um
Jugendliche und Begleitpersonen gleichermassen über die (eingeschränkte) ärztliche Schweigepflicht aufklären zu können, damit allen Beteiligten klar ist, in welchen Fällen Eltern oder andere Personen informiert werden müssen. Grundsätzlich soll nicht gefragt werden, ob die oder der Jugendliche allein mit uns sprechen möchte, sondern dies als übliches Vorgehen und Teil der Selbstständigkeitsentwicklung zu sehen. Nach unserer Erfahrung gibt es kaum Fälle, in denen entweder die Jugendlichen oder die Eltern das Einzelgespräch nicht wünschen. Jugendliche zu einem Gespräch zu zwingen, ist sicherlich nicht hilfreich.
Aufklärung über die ärztliche Schweigepflicht
Die Eltern und Jugendlichen werden aufgeklärt, dass wir der ärztlichen Schweigepflicht unterstellt sind und dass das Gespräch mit den Jugendlichen grundsätzlich vertraulich ist. Für die Jugendlichen wird dadurch einen Vertrauensraum geschaffen. Es gibt einige wenige Situationen, in denen wir zu Massnahmen juristisch verpflichtet sind. Bei Selbst- und Fremdgefährdung sind wir gezwungen, Eltern oder andere Personen zu informieren und Schritte zum Schutz der Jugendlichen einzuleiten. Es soll nicht vergessen werden, dass wir mit Minderjährigen arbeiten. Je jünger der oder die Jugendliche ist, desto mehr wird mit den Eltern gemeinsam besprochen und entschieden. Grundsätzlich versuchen wir stets, mit den Jugendlichen die nächsten Schritte zu besprechen oder sie mindestens darüber zu informieren. Wenn wir das Vertrauen der Jugendlichen verlieren, riskieren wir, dass sie sich nicht wieder melden oder nicht mehr bereit sind, ihre Sorgen zu teilen. Auch im Berichtswesen muss daran gedacht werden, dass Eltern die Berichte meist auch ohne das Einverständnis der Jugendlichen erhalten. Gleichzeitig soll aber auch darauf hingewiesen werden, wie wichtig die Rolle der Eltern und Vertrauenspersonen sowie das Zusammenleben und die Zusammenarbeit sind, gerade auch, weil wir wissen, dass Jugendliche aufgrund ihrer Hirnentwicklung eine andere Entscheidungsgrundlage haben als im erwachsenen Alter. Diese Balance zu finden, kann eine
Jugendliche sollten ab dem Alter von 11 bis 12 Jahren während eines Teils der Konsultation allein gesehen werden.
Die ärztliche Schweigepflicht besteht bei urteilsfähigen Jugendlichen.
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Leider kommen immer noch viele Mädchen mit der Vorstellung, dass eine gynäkologische Untersuchung obligat für die Verschreibung einer Kontrazeption sei.
Herausforderung darstellen, und dies muss immer wieder mit allen Beteiligten thematisiert werden. Die ärztliche Schweigepflicht besteht bei urteilsfähigen Jugendlichen. Es ist unsere Aufgabe, diese abzuschätzen. Bei Jugendlichen unter 12 Jahren ist die Urteilsfähigkeit in der Regel nicht gegeben, zwischen 12 und 16 Jahren ist sie individuell zu beurteilen, und bei Personen über 16 Jahre kann sie für die meisten Entscheide als gegeben erachtet werden (1, 2). Jedoch ist das Alter weniger entscheidend als vielmehr die individuelle Beurteilung und die Komplexität der Fragestellung. Bei urteilsfähigen Jugendlichen kann demnach eine Antikonzeption ohne Einverständnis der Eltern erfolgen. Grundsätzlich raten wir den Jugendlichen immer, das Gespräch mit den Eltern oder Vertrauenspersonen zu suchen, und bieten eine Begleitung an. Bezüglich der Ansprache handhaben wir es so, dass wir ab 16 Jahren die Jugendlichen siezen, jedoch auf Wunsch beim Vornamen bleiben, ab 18 Jahren wird grundsätzlich das Sie und der Nachname als Ansprache eingeführt. Wichtig ist es, dieses Thema bei den Jugendlichen anzusprechen. Der Einfachheit halber verwenden wir in den folgenden Beispielsätzen die Du-Form.
Gesprächsablauf
Es lohnt sich, über Sexualität und Verhütung im Rahmen einer psychosozialen Anamnese zu sprechen, sowohl bei Jugendlichen, welche nicht explizit mit dieser Fragestellung zu uns gelangen, als auch bei Jugendlichen, welche für ein «Pillengespräch» zu uns kommen, um ein umfassendes Bild zu erhalten, selbst wenn letztlich die Antikonzeption im Vordergrund steht. Wir empfehlen eine systematische Erhebung der psychosozialen Anamnese mit einem semistrukturierten Interview auf der Grundlage der Publikation von Goldenring et al. (3) mit dem Ziel, effizient und umfassend Risikofaktoren und Probleme zu erfassen. Die folgenden Punkte, in der englischen Version unter dem Akronym HEADS zusammengefasst, haben sich über die Zeit als sinnvoll erwiesen: • Home (Zuhause) • Education (Schule, Lehre usw.) • Eating behaviour (Ernährung) • Activities and peers (Aktivitäten und Freunde) • Drugs (Rauchen, Alkohol) • Sexuality (Verhütung) • Suicidality (Selbstverletzung, Selbstbild, Stimmung) • Sleep (Schlaf) • Safeguarding (Schutzfaktoren).
In der Gesprächsführung soll auf Folgendes geachtet werden: • Das Gespräch soll mit einer offenen Frage bezüglich der
Themen der Jugendlichen oder mit einer themenbefreiten Eröffnungsfrage beginnen. • Fragenformulierung: «Viele Jugendliche in deinem Alter …», «Mir wird von Jugendlichen in deinem Alter häufig … berichtet» oder «Hast du schon Erfahrung mit … gesammelt?» • Altersentsprechende Formulierungen und Umschreibungen wählen. • Offene Fragen unter Berücksichtigung der Gender diversität stellen.
• Wertfrei und nicht konfrontierend agieren. Ein persönliches Weltbild oder eine Normierung sollen vermieden werden. Beispiel: «Mit wem wohnst du/wohnt ihr zusammen?» anstelle von «Lebt sonst noch jemanden ausser deinen Eltern bei dir?»
• Ein präventiver Ansatz kann in das Gespräch eingeflochten werden.
Es ist hilfreich, für diese Gespräche genügend Zeit einzuplanen, allerdings kann eine grobe Einschätzung schon in 15 Minuten erfolgen (4). Erfahrungsgemäss werden 45 bis 60 Minuten für ein Erstgespräch benötigt, vor allem wenn die Jugendliche erstmals in der Sprechstunde erscheint und eventuell zusätzlich von ihrer Mutter begleitet wird. Oft ist dann auf zusätzliche Fragen und Unsicherheiten einzugehen.
Sexualität und Verhütung
Die Adoleszenz zeichnet sich entwicklungspsychologisch durch eine Orientierung an den Freunden (Peers) und anderen Jugendlichen aus. Es lohnt sich, dies in die Fragen über Sexualität und Verhütung einfliessen zu lassen. Peers: Was besprecht ihr untereinander? Welche Themen werden in eurer Freundesgruppe angesprochen? Haben deine Freundinnen oder Freunde schon einmal Fragen gestellt, die du nicht beantworten konntest oder die dich interessieren? Was hast du über bestimmte Verhütungsmittel gehört? Welche Verhütungsmittel werden von deinen Freundinnen und Freunden verwendet? Gibt es Sorgen oder Ängste, welche dich oder deine Freundinnen und Freunde beschäftigen? Partnerinnen und Partner nicht vergessen: Lebst Du eine Beziehung, Freundschaft? Handelt es sich um einen Partner oder eine Partnerin? Hast du mit deiner Partnerin oder deinem Partner über Verhütung, Sexualpraktiken, sexuell übertragbare Krankheiten gesprochen? Hast du schon einen Freund oder eine Freundin, mit dem oder mit der du sexuellen Kontakt hattest? Wie sah dieser Kontakt aus? Über Eltern und Vertrauenspersonen sprechen: Wie wurdest du aufgeklärt? Wie wird in deiner Familie über Sexualität, Verhütung usw. gesprochen? Was kannst und was willst du mit Eltern oder Vertrauenspersonen besprechen? Selbsthilfe und Ansprechpersonen erfragen: Was würdest du tun, wenn du die Verhütung vergisst oder das Kondom platzt? An wen würdest du dich wenden, wenn du unsicher bist oder Angst hast? Was würdest du tun, wenn jemand dich anfasst, es zu sexuellen Handlungen kommt, die du nicht willst?
Besonderheiten der Verhütung bei Jugendlichen
Die Verhütungsmethoden für weibliche Jugendliche decken sich grundsätzlich mit denjenigen der erwachsenen Frau. Für die Verschreibung eines Kontrazeptivums sind Länge, Gewicht, Blutdruckmessung und ein Urinstatus, eventuell ein Schwangerschaftstest notwendig. Erwähnenswert ist, dass zu Beginn des Gesprächs der Jugendlichen mitgeteilt wird, dass bei fehlenden Beschwerden oder spezifischen Fragestellungen keine genitale respektive gynäkologische Untersuchung notwendig ist. Leider kommen immer noch viele Mädchen mit der Vorstellung, dass eine gynäkologi-
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sche Untersuchung obligat für die Verschreibung einer Kontrazeption sei. Viele Mütter sind zudem erstaunt, dass der zytologische Abstrich PAP erst ab dem 21. Geburtstag erforderlich ist. Eine gynäkologische Anamnese mit Frage nach dem Zeitpunkt der Menarche, dem Zyklus, einer Dys- oder Hypermenorrhö ist neben der Patientenana mnese obligat. Ein neutrales Informationsgespräch über alle möglichen Verhütungsmethoden (Demonstration) und deren Wirkungsweise mit Erwähnung von Vor- und Nachteilen steht im Zentrum. Jugendliche informieren sich bei den Peers, in den Medien und bei ihren Müttern. Sie sind oft verunsichert über die vielen zum Teil widersprüchlichen Informationen. Sie kommen mit ihren eigenen Vorstellungen und alten Mythen in die Sprechstunde und sind oft erstaunt, dass vor allem kombinierte hormonelle Kontrazeptiva positive respektive protektive Gesundheitsa spekte (Hypermenorrhö, Dysmenorrhö, Reduktion des Risikos für Ovarial- und Endometriumkarzinome, Kolonkarzinome und Endometriose) beinhalten. Jugendliche machen sich erstaunlich selten Sorgen um das Thromboserisiko, vor allem weil ihnen der pathophysiologische Ablauf und die Risiken (Übergewicht, familiäre Thrombosen, Migräne mit Aura usw.) für eine venöse Thromboembolie (VTE) nicht bekannt sind. Die Schweiz steht in Bezug auf Verhütung bei Jugendlichen gut da: Insgesamt besteht ein gutes Verhütungs verhalten bei den Jugendlichen, was sich in der sehr niedrigen Interruptionsrate widerspiegelt. Die Schwangerschaftsabbrüche bei Jugendlichen unter 19 Jahren haben sich in den letzten Jahren mit zurzeit 3,7 Interruptionen/1000 Frauen halbiert (5). Jugendliche können sich unter einer solchen Zahl nichts vorstellen. Es ist hilfreich, mit konkreten Zahlen zu argumentieren: «Im Kanton Zürich erfolgt jeden 2. bis 3. Tag ein Schwangerschaftsabbruch bei einer Jugendlichen unter 19 Jahren.» Dann ist echte Betroffenheit spürbar. Bei Mädchen mit Migrationshintergrund in der Schweiz stagniert jedoch die Abbruchrate bei 6 Interruptionen/1000 Frauen. Selbst diese Quote liegt allerdings noch weit unter denjeningen in anderen Ländern, wie ein Vergleich mit Zahlen der gleichen Altersgruppe aus den USA (56/1000), Schweden (29/1000), England (47/1000) und Spanien (23/1000) zeigt. Im Folgenden gehen wir vor allem auf die praktischen Aspekte und unsere Erfahrungen mit jüngeren Jugendlichen (< 18 Jahre) ein. Details zu den jeweiligen Präparaten entnehmen Sie den Ratgebern des Kinderspitals Zürich oder dem Compendiums. Generell gilt: Es genügt nicht, Jugendliche mit Verhütung und entsprechenden Fragen nur 1-mal pro Jahr in der Praxis oder der Poliklinik zu sehen. Nach Beginn einer Verhütung erfolgt die erste Kontrolle nach spätestens 3 Monaten. Bei Unsicherheiten und Nachfragen (Telefon, Mail) setzen wir eine tiefe Schwelle an. Ziel ist, dass möglichst keine ungewollte Schwangerschaft eintritt. sollten besprochen werden. Bei der Frage, welche sexuell übertragenen Krankheiten (STD) sie kennen, antworten Jugendliche fast immer mit «Aids», selten erwähnen sie zusätzlich den «Tripper». Die häufigsten STD wie HPV, Chlamydien und Gonokokken sowie deren Konsequenzen sind jedoch nicht oder mangelhaft bekannt. Somit ergibt sich die Gelegenheit, diese Gesundheitsaspekte einzuflechten und insbesondere die HPV-Impfung zu empfehlen, falls sie noch nicht erfolgt ist. Die Durchimpfungsrate stagniert seit Jahren, vor allem Mütter sind der HPV-Impfung gegenüber immer noch kritisch eingestellt. Hier können mit der Urteilsfähigkeit und der Selbstbestimmung der Jugendlichen argumentiert werden. Das Chlamydien- und Gonokokkenscreening mit dem Vaginalabstrich, eventuell selbst vorgenommen (self brush), empfehlen wir grosszügig, insbesondere bei Partnerwechsel. Die Einwilligung dazu ist hoch. Jugendliche sind erstaunt, dass diese STD verantwortlich für ektope Schwangerschaften und Fertilitätsprobleme sind. «Pitfalls» der Kondome müssen explizit besprochen respektive am Modell demonstriert werden, ebenfalls die Empfehlung eines «dental dam» bei oralem Sex. Gemeinsames Schauen eines Youtube-Videos zum «Basteln» eines «dental dam» aus einem Kondom ist hilfreich, lockert die Beratung auf, bricht schambesetzte Themen und leitet über zum Thema der Sexualpraktiken, zu Risikoverhalten, Pornografie und Selbstbestimmung (Was will ich nicht? Was macht Spass?). Oft kommen dann auch Fragen zum Orgasmus. Pille danach Erstaunlich ist, dass viele Jugendliche zu wenig über die Notfallkontrazeption, deren Wirkungsweise und Teenagerschwangerschaften wissen. Die Sexualaufklärung in der Schule berücksichtigt diese Aspekte nicht oder nur marginal, die juristischen Aspekte werden nicht erwähnt. Viele Jugendliche meinen, dass die Pille danach erst ab 16 Jahren erhältlich sei. Der Gang zur Apotheke braucht Überwindung und die Unterstützung des Partners, und die Pille danach ist finanziell mit hohen Kosten verbunden. Das obligate Beratungsgespräch mit Abgabe von beispielsweise Ellaone® kostet ca. 60 Franken. Neben der Apotheken geben Beratungsstellen für sexuelle Gesundheit und Arztpraxen ebenfalls die Pille danach ab, meist zu einem günstigeren Preis. Wir empfehlen zudem einen Schwangerschaftstest zum Ausschluss einer früher eingetretenen Schwangerschaft. Die Pille danach sollte möglichst innerhalb von 24 Stunden nach dem ungeschützen Verkehr eingenommen werden. Ellaone® schiebt den Eisprung um 5 Tage hinaus. Deshalb muss nach der Einnahme weiterhin mit dem bisherigen Verhütungsmittel und vor allem zusätzlich mit Kondom verhütet werden. Bei Jugendlichen unter 16 Jahren muss die Urteilsfähigkeit vom Apothekenpersonal bzw. von Arzt oder Ärztin schriftlich festgehalten werden. Gute Infos dazu sind auf www.lilli.ch zu finden. Kondom und «dental dam» Jugendliche verhüten beim ersten Geschlechtsverkehr meist mit Kondom, ein Grossteil zusätzlich mit einem Hormonpräparat. Mit der Zeit wird dann auf die Zusatzverhütung mit dem Kondom verzichtet. Oraler und analer Sex gehört zum Repertoire der sexuellen Aktivität und Die Pille liegt nicht mehr im Trend Noch vor 10 Jahren waren kombinierte Ethinylestrad iolGestagen-Präparate, Mikropille oder Verhütungspflaster und -ring die meistgenutzten Verhütungsmethoden. Vor allem die Pilleneinnahme ist in den letzten Jahren deutlich gesunken, auch bei jüngeren Frauen. Jugendliche glau- Die Pille respektive Hormonpräparate liegen nicht mehr im Trend. 6/22 Pädiatrie 11 Schwerpunkt Viele Jugendliche wissen zu wenig über die Notfallkontrazeption und deren Wirkungsweise. 12 ben, dass Hormone ungesund seien, Stimmungsschwankungen, Depression und Gewichtszunahme bewirkten, infertil machten und zu Unlust führten, und einige trauen sich trotz elektronischer Hilfsmittel (App) die regelmässige tägliche Einnahme einer Pille nicht zu. Als Alternative bieten wir das Pflaster oder den Ring an. Viele können sich nur schwer vorstellen, dass das Pflaster bzw. der Ring dieselbe Wirkungsweise wie eine orale Einnahme haben: «Medikamente wirken doch nur, wenn man sie schluckt!» Zudem ist das Pflaster (für Peers und die Familie) sichtbar, was viele Jugendliche nicht möchten. Beim Ring ekeln sich einige davor, in die Vagina zu greifen, was für die Ringentnahme nach 21 Tagen notwendig ist. Das Einführen kann mit einem Applikator erfolgen. Pflaster und Ring sind pro Monat bis zu 3-mal teurer als eine günstige kombinierte Mikropille (8 Franken pro Monat). Die Kosten pro Jahr betragen somit für Pflaster/Ring ca. 250 Franken. Diese Kosten gehen meist zulasten der Mädchen. Wir empfehlen, die Kosten für die Verhütung (inlusive Kondom!) partnerschaftlich zu teilen. Berichten vor allem Mütter oder Freundinnen über negative Aspekte wie «Ich habe keine einzige Pille vertragen!», dann ist die Jugendliche zu Beginn negativ beeinflusst und achtet auf jedes mögliche Symptom. Positive Argumente wie verbessertes Hautbild, Rückgang der Dys- und der Hypermenorrhö, Regulierung des Zyklus und des Langzyklus zusammen mit der Verhütung können die Jugendlichen überzeugen, ein kombiniertes Präparat zu versuchen. Bei Jugendlichen empfiehlt sich primär eine Mikropille mit 30 µg Ethinylestradiol wegen der Knochendichte, die in diesem Alter östrogenabhängig im Aufbau ist. Ausserdem gewährt eine «30er-Pille» eine gute Zykluskontrolle mit wenig Zwischenblutungen. Bei allen kombinierten Präparaten ist eine genaue Ana mnese betreffend des Thromboserisikos und der Interaktionen mit anderen Medikamenten nötig: Migräne mit Aura, Adipositas, arterielle Hypertonie, angeborener Herzfehler, Antieptileptika und Antidepressiva seien hier als wichtigste genannt. Gestagenpräparate Die Nur-Gestagen-Pille (Desogestrel) wird ohne Unterbrechung täglich eingenommen. Sie führt zu einer sekundären Amenorrhö. Nachteile der Nur-Gestagen-Pille sind häufige Durchbruchsblutungen und gelegentlich die Verschlechterung einer Akne. Jugendliche möchten regelmässige Entzugsblutungen, was ihnen die Sicherheit gibt, nicht schwanger zu sein. Ein Schwangerschaftstest alle 2 Monate kann hilfreich sein. Bei häufigen Schmierblutungen soll die Pille morgens und abends eingenommen werden, bis die Blutung stoppt. Die gleiche Wirkungsweise hat das Implantat mit Eto nogestrel (Hormonstäbli), das während 3 Jahren subkutan an der Innenseite des Oberarms verbleibt. Bei einem Gewicht über 80 kg wird die Wirkdauer auf 2 Jahre reduziert. Die antikonzeptive Sicherheit ist sehr hoch. Nachteil sind oft lange und nicht vorhersehbare Zwischenblutungen, was bei Jugendlichen nicht so selten zu einer früheren Entnahme führt. Die 3-Monats-Spritze mit 100 mg Medroxyprogesteron acetat (Sayana®) wird subkutan appliziert. Sie führt zu einer stark ovarsupprimierenden Wirkung und rasch zu einer sekundären Amenorrhö. Bei übergewichtigen Ju gendlichen ist mit einer deutlichen Gewichtszunahme zu rechnen. Die Anwendungsempfehlung ist wegen der starken Ovarsuppression und der Östrogenmangelsituation auf maximal 2 Jahre beschränkt. Die Stagnation der Knochendichte wird nach 2 Jahren aufgeholt. Die genannten Gestagenpräparate sind indiziert bei Kontraindikation für Östrogene, die Depotpräparate bei Jugendlichen mit schlechter Compliance, kognitiven Einschränkungen oder Impulsstörungen und entsprechendem Risikoverhalten. Hormonspirale Seit einigen Jahren gibt es Hormonspiralen (Levono gestrel), welche auch bei kleinen bzw. kurzen Uteri angewendet werden können. Die Einlage erfolgt nach Ausmessen der Uteruslänge mit Vaginalultraschall, in der Regel bei Jugendlichen, die sexuell aktiv sind. Dies ist eine günstige und sichere Verhütung. Die Liegedauer beträgt je nach Produkt 3 bis 5 Jahre, die Kosten betragen rund 400 Franken. Viele Jugendliche entscheiden sich zunehmend aufgrund von Pillenmüdigkeit für eine Spirale. Junge Erstanwenderinnen sind immer noch selten. Kupferspirale Die einzige nicht hormonelle Verhütung neben Kondom und natürlichen Verhütungsmethoden (Temperatur, Zykluscomputer) ist die Kupferspirale. Ihre Liegedauer beträgt bis zu 5 Jahre. Bei Dys- oder Hypermenorrhö ist die Kupferspirale nicht empfehlenswert, da beides durch sie verstärkt wird. Kupferspiralen sind deutlich günstiger als Hormonspiralen. Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, kognitiven und körperlichen Einschränkungen Zirka 15 Prozent aller Kinder leiden an einer Beeinträchtigung oder chronischen Erkrankungen. Sie erreichen das Erwachsenenalter und sind keine assexuellen Wesen. Das Thema «Sexuelle Gesundheit, Leben der Sexualität» tritt für die Familie und auch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte wegen der gesundheitlichen Problematik in den Hintergrund. Diese Jugendlichen haben zudem (Abhängigkeit, fehlende Verbalisierung, verminderter Selbstwert usw.) ein grösseres Risiko betreffend Verletzung der sexuellen Integrität. Sie benötigen einfühlsame und kompetente Gynäkologinnen und Gynäkologen. Die interdisziplinäre Vernetzung ist wichtig, um die adäquate und sichere Verhütung zu finden. Korrespondenzadresse: Dr. med. Lara Gamper Oberärztin Adoleszentenmedizin, Allgemeine Pädiatrie, Kinder- und Jugendgynäkologie Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: lara.gamper@kispi.uzh.ch Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen. Pädiatrie 6/22 Literatur: 1. Honsell H (Hrsg.): Handbuch des Arztrechts. Schulthess Polygraphischer Verlag Zü- rich, 1994:159. 2. Kuhn MW, Poledna T (Hrsg.): Arztrecht in der Praxis. Schulthess Polygraphischer Verlag Zürich, 2007. 3. Goldenring JM, Cohen E: Getting into adolescent heads. Contemporary Pediatrics. 1988:75-90. 4. Doukrou M, Segal TY: Fifteen-minute consultation: Communicating with young people-how to use HEEADSSS, a psychosocial interview for adolescents. Arch Dis Child Educ Pract Ed. 2018;103(1):15-19. 5. www.bfs.admin.ch, Schwangerschaftsabbrüche 2021, abgerufen am 17. November 2022. Schwerpunkt 6/22 Pädiatrie 13