Transkript
Wasser, Salz und Zucker
Was braucht es noch zur Rehydratation?
Jahrestagung SGP
Foto: RBO
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Die Einführung einer einfachen oralen Rehydratationslösung durch die WHO vor gut 60 Jahren hat die Behandlung bei akuter Gastroenteritis weltweit revolutioniert und die Kindersterblichkeit gesenkt. Trotzdem wird bis heute diskutiert, womit im Einzelfall rehydriert werden soll. Neben dem Ausmass der Dehydratation spielt für die Wahl der Rehydrationslösung das Setting, in dem die Rehydratation erfolgt, eine Rolle.
Weltweite Programme der WHO zur Behandlung der akuten Gastroenteritis im Säuglings- und Kleinkindalter mit einfach vor Ort herzustellenden oralen Rehydratationslösungen aus Wasser, Salz und Zucker führten ab der Mitte des letzten Jahrhunderts zu einem deutlichen Rückgang der Kindersterblichkeit, nicht nur in Entwicklungsländern, sondern auch in Europa. Seitdem habe sich nicht viel geändert, sagte der Praxispädiater Dr. med. Rolf Temperli, Liebefeld bei Köniz: «Es braucht sauberes Wasser, Salz und Zucker.» Abgesehen davon ist heutzutage lediglich weniger Salz und Zucker in der Lösung enthalten als früher (Kasten). Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts empfahl der österreichische Kinderarzt Prof. Ernst Moro am Universitätsklinikum München die sogenannte Berner Rüeblisuppe auf der Grundlage alter Hausrezepte (in 1 l Wasser 500 g Karotten 90 Minuten kochen, pürieren, mit Wasser auf 1 Liter auffüllen und 1 Teelöffel Salz hinzufügen). Sie ist bis heute ebenfalls ein probates Mittel bei akuter Gastroenteritis. Schweizer Richtlinien zur Rehydratation in der Praxis oder im Spital gibt es nicht. Jedes Spital habe seine eigenen und die seien obendrein kantonal unterschiedlich, sagte Temperli. Die 2014 aktualisierten internationalen Guidelines der European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) sind in Bezug auf die Rehydratation nach wie vor gültig (1–3, s. auch Seite 19 in dieser Ausgabe).
Erstkontakt in der Praxis
Üblicherweise rufen die Eltern zunächst in der Kinderarztpraxis an. Die MPA muss vorderhand entscheiden, ob es
Kasten
Orale Rehydrationslösung gemäss WHO 2006
Natriumchlorid
Glukose
Kaliumchlorid
Natriumcitrat
2,6 g/l 13,5 g/l 1,5 g/l 2,9 g/l
Quelle: Vortrag von R. Temperli, SGP-Tagung 2022
sich um einen Notfall handeln könnte oder nicht. Temperli empfahl an dieser Stelle einmal mehr das «Telefontriage-Manual für die MPA» der Kinderärzte Schweiz (KIS) als hilfreiches Werkzeug. Die Anamnese am Telefon erlaube nur den vorläufigen Ausschluss einer schweren Erkrankung. «Wenn das Kind noch spielt, trinkt und uriniert, kann man davon ausgehen, dass es kein Notfall ist», sagte Temperli. Für alle anderen Fälle sei die Entscheidung am Telefon nicht möglich: «Sie müssen das Kind sehen!» Die üblichen Tabellen zu den Anzeichen einer Dehydratation in den Lehrbüchern nützten in der Praxis allerdings nicht sehr viel, sagte der Referent. Selbstverständlich sei ein Kind schwer krank, wenn gleich mehrere der in diesen Tabellen genannten Kriterien erfüllt seien, sodass man es ins Spital einweise. In der Praxis sehe man aber eher «relativ gesunde Kinder, die ein bisschen angeschlagen sind», sagte Temperli. Neben der Anamnese und dem klinischen Erscheinungsbild wäre das Wiegen zur Beurteilung der Situation eigentlich eine gute Idee, ohne das Wissen um das aktuelle Gewicht vor der Erkrankung aber nutzlos. Darum sein Tipp: «Wenn Sie einen Säugling oder ein Kleinkind in der Praxis sehen, wägen Sie das Kind ohne Kleider. Das hilft, wenn es kurz danach wegen Brechdurchfall in die Praxis kommt.»
Rehydratation in der Praxis
Bei einem nierengesunden Kind könne man wahrscheinlich nichts falsch machen, wenn man es auf irgendeine Art rehydriere, ohne vorher Laborwerte bestimmt zu haben. Das Gleiche gelte für Stuhluntersuchungen: «Die sind unnütz, denn die meisten Brechdurchfälle sind viralen Ursprungs, die bakteriell bedingten brauchen meistens keine Therapie», sagte Temperli. Wenn es sich um schwere, blutige Durchfälle handele, gehöre das Kind aber selbstverständlich ins Spital, ebenso wenn es mit Brechdurchfall aus den Tropen zurückgekehrt sei. Spezielle Diäten sind bei akuter Gastroenteritis überflüssig. Gestillte Kinder sollten weiter gestillt werden. Für alle anderen Kinder wähle jeder Kinderarzt in seiner Praxis gemäss seiner Erfahrung etwas anderes aus, sei es nun Rüeblisuppe, Hafersuppe, Cola, Most oder Rehydratationslösungen: «Wie Sie rehydrieren, ist eigentlich egal: Zucker und Salz braucht es, Medikamente braucht
Dr. med. Rolf Temperli Dr. med. Julia Höffe
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es keine», sagte Temperli. Man könne Süssgetränke zur Rehydratation verwenden, müsse diesen aber Salz hinzufügen und sie verdünnen, damit nicht zu viel Zucker enthalten sei. Das Problem in der Praxis sei nicht die Auswahl des Getränks, sondern die Verabreichung der notwendigen Menge an Flüssigkeit: «Mit den errechneten Mengen ist das Ziel sehr hoch gesteckt und – mindestens zu Beginn – oft nicht erreichbar. Das Wichtigste ist das geduldige Verabreichen von sehr kleinen Portionen in kurzen Abständen», so Temperli. Als optionale Medikamente gegen das Erbrechen nannte der Referent Ondansetron (Zofran® und Generika, bei Kindern off-label) oder Meclozin (Itinerol B6®, zugelassen ab 3 Monate).
Rehydratation im Spital
Die klinisch besten Zeichen für eine Dehydratation seien neben der Gewichtsentwicklung die Rekapillarisationszeit, der Hautturgor und die Atemfrequenz, sagte Dr. med. Julia Höffe, Universitätskinderspital beider Basel: «Eine Tachypnoe ist sicher ein Zeichen für einen kompensatorischen Mechanismus.» Wenn immer möglich, wird oral rehydriert. Bei leichter oder moderater Dehydratation bedeutet das 0,5 ml/kg alle 5 Minuten (= 0,6% des Körpergewichts pro Stunde). In der Notaufnahme im Spital ist diese Methode vor Ort allerdings nicht unbedingt praktikabel. Sie ist eher für Kinder geeignet, denen es gut genug geht, um sie nach Hause zu entlassen – vorausgesetzt, die Eltern sind in der Lage, die orale Gabe zu Hause weiterhin zuverlässig durchzuführen. Im Spital werde primär enteral über eine nasogastrische Sonde rehydriert, sagte Höffe (10 ml/kg/h für 4 Stunden [ersetzt 4% des Körpergewichts]). Primär enteral zu rehydrieren, wird in den aktuellen Leitlinien der ESPGHAN gefordert, weil es der physiologischere Weg und mit weniger Komplikationen verbunden ist als ein i.v. Zugang. Ausserdem müssen die Kinder nicht so lang im Spital bleiben, wenn man sie oral beziehungsweise enteral rehydriert: «Üblicherweise dürfen sie nach ein paar Stunden wieder nach Hause, was mit einer i.v. Rehydratation nicht immer gewährleistet ist», sagte Höffe.
Warum wird i.v. rehydriert?
Obwohl die nasogastrische Sonde oft die bessere Lösung sei, werde im Spitalalltag häufig i.v. rehydriert. Der Grund: Viele Ärzte, das Pflegepersonal und die Eltern würden das Legen der Sonde als traumatischer und schmerzhafter empfinden, sagte Höffe. Deshalb «machen wir das pragmatisch dann doch», auch wenn vieles gegen die i.v. Rehydratation spreche. Man müsse aber immer wieder hinterfragen, ob die nasogastrische Sonde nicht doch besser wäre, mahnte die Referentin. Der vermeintlich einfachere i.v. Zugang ist nämlich gar nicht einfach. In einer prospektiven Studie verglich man das Legen einer nasogastrischen Sonde mit dem Legen eines i.v.-Zugangs zum Zweck der Rehydratation bei 96 Kindern. Dabei kam es zu nur 2 gescheiterten Versuchen mit der Sonde, aber mindestens 27 gescheiterten Versuchen, einen i.v. Katheter zu legen (4). Klare Indikationen für eine i.v. Hydrierung sind Schock, Bewusstseinstrübung oder schwere Azidose, eine Verschlechterung der Dehydratation oder keine Besserung
trotz oraler oder enteraler Rehydratation, die Unmöglichkeit, eine nasogastrische Sonde zu legen, persistierendes Erbrechen trotz angemessener oraler oder per nasogastrischer Sonde verabreichter Flüssigkeit sowie schwere abdominelle Distension und Ileus. Im Zusammenhang mit einer i.v. Infusion sind Laborwerte wichtig, weil eine allfällige Hyper- oder Hyponatriämie Einfluss auf die Flussrate der Rehydratationsflüssigkeit hat. Ansonsten bedarf es nur in wenigen Fällen Laboruntersuchungen. Der Serum-Bikarbonat-Wert ist hilfreich, um das Ausmass der Dehydratation einzuschätzen. Die Elektrolyte müssen bei allen schwer dehydrierten Kindern bestimmt werden sowie bei mittelschwer dehydrierten Kindern, bei denen Anamnese, Untersuchung und schwere Diarrhö ein inkonsistentes klinisches Bild liefern. Bei oraler beziehungsweise enteraler Rehydratation per nasogastrischer Sonde muss die Flüssigkeit auch Glukose enthalten. Bei der i.v. Gabe ist das nicht notwendig. Glukosehaltige Infusionslösungen werden allenfalls zur Erhaltung, nicht aber notwendigerweise zur Rehydratation verwendet. Bei der i.v. Volumentherapie seien isonatriäme Flüssigkeiten gegenüber hyponatriämen zu bevorzugen: «Balancierte Lösungen sind besser als isotones Kochsalz und sicher besser als hyponatriäme Mischungen», sagte Höffe. Sie betonte, dass Volumen und Art der Flüssigkeit in jedem Fall individuell anzupassen seien.
Wie lang muss das Kind im Spital bleiben?
Bei drei Viertel der Kinder mit einer moderaten Dehydratation reichen 4 Stunden Rehydratation per nasogastrischer Sonde mit einer normalen Salz-Zucker-Lösung aus. Nur ein Viertel der Kinder muss stationär aufgenommen werden. Von Praktikern bekäme sie manchmal zu hören, man nehme sich im Spital zu wenig Zeit für die Rehydratation, berichtete Höffe und wehrte sich gegen diesen Vorwurf. Die rasche Rehydratation werde nicht durchgeführt, um Zeit zu sparen, sondern weil gute Daten dafür sprächen: «Auch wenn ein Kind gar nicht gut beieinander ist, wenn es in der Notfallaufnahme eintrifft, kann es ihm schon nach ein paar Stunden Hydrierung viel besser gehen. Nicht alle müssen über Nacht im Spital bleiben.» Auch eine i.v. Rehydratation ist in 4 anstelle von 24 Stunden durchführbar. Heute empfehlen viele Experten das schnellere Vorgehen (20 ml/kg/h für 2 bis 4 Stunden [ersetzt 4 bis 8% des Körpergewichts]). Bei der schnelleren Infusion wird die gastrointestinale und renale Perfusion rascher gesteigert. Man kann das Kind früher wieder oral füttern, und es kommt zu einer rascheren Korrektur von Elektrolyt- und Säure-Base-Abnormitäten. Das alles führe zu einer sehr guten Erholungsrate und einem kürzeren Spitalaufenthalt, erläuterte Höffe. Renate Bonifer
Triage-Manual bestellen: www.kinderaerzteschweiz.ch/MPA-Telefontriage-Manual
Quelle: Rolf Temperli: «De- und Rehydratation in der pädiatrischen Praxis», und Julia Höffe: «Es sagt sich so einfach: Keep it simple bei der Rehydratation …»; Vorträge in der Plenarsession 2 an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 2. Juni 2022.
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Literatur: 1. Guarino A et al.: European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology and
Nutrition/European Society for Pediatric Infectious Diseases evidence-based guidelines for the management of acute gastroenteritis in children in Europe: update 2014. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2014;59(1):132-152. 2. Bonifer R: Akute Gastroenteritis. Neue ESPGHAN/ESPID-Guidelines 2014. Pädiatrie. 2014;19(3):27-28. 3. Herzog D et al.: Zusammenfassung der 2014 aktualisierten Guidelines der Europäischen Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und der Europäischen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie für die Behandlung der akuten Gastroenteritis bei Kindern. Paediatrica. 2016;4. 4. Nager AL, Wang VJ. Comparison of nasogastric and intravenous methods of rehydration in pediatric patients with acute dehydration. Pediatrics. 2002;109(4):566-572.
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