Transkript
Jahrestagung SGP
Primäre Kopfschmerzen
Was hilft Kindern mit Migräne oder Spannungstypkopfschmerzen?
Bei Kopfschmerzen im Kindesalter handelt es sich häufig um Spannungstypkopfschmerzen oder Migräne, aber es gibt einige Warnsignale, die man nicht übersehen darf. Die Neuropädiaterin Dr. med. Susi Strozzi, Kantonsspital Graubünden, gab einen Überblick darüber, worauf bei Kindern mit Kopfschmerzen zu achten ist und welche therapeutischen Strategien für sie infrage kommen.
Dr. med. Susi Strozzi
Foto: RBO
Wenn ein Kind rezivierende Kopfschmerzen hat und im Intervall beschwerdefrei ist, handelt es wahrscheinlich um primäre Kopfschmerzen. Wichtig ist eine gründliche Anamnese und Untersuchung: «In der Neurologie und ganz besonders in der Kopfschmerzsprechstunde muss ich mir Zeit nehmen. In einer halben Stunde kann ich diese Patienten nicht betreuen», sagte Strozzi. Es geht in der Anamnese nicht nur um die Kopfschmerzsymptome (Wann? Welche Art von Schmerz? Wie oft? Begleitsymptome? usw.), sondern auch um mögliche Kopfschmerztrigger, Alltagsgewohnheiten (Mahlzeiten, Getränkekonsum, Sport, Bildschirmzeit, Schlaf usw.), Familienleben und allfällige Belastungen in der Schule oder im Freundeskreis.
Primär oder sekundär?
Um keine sekundären Ursachen für die Kopfschmerzen zu übersehen, sei eine komplette neurologische und internistische Untersuchung notwendig, sagte die Referentin. Der Verlauf der Kopfschmerzen gibt erste Hinweise darauf, ob es sich möglicherweise um sekundäre Kopfschmerzen handelt: «Wenn die Kopfschmerzen plötzlich, von einer Sekunde zur anderen auftreten, ist eine Migräne unwahrscheinlich», sagte die Referentin. Dann müsse man an vaskuläre Ereignisse, wie beispielsweise eine Subarachnoi-
Linktipps:
Videoclips für Kinder
Das Kopfschmerz 1×1 https://www.rosenfluh.ch/qr/kopfschmerz1x1
Migräne? Hab‘ ich im Griff! https://www.rosenfluh.ch/qr/migraenekind
Therapieempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft https://www.rosenfluh.ch/qr/kopfweh2021
dalblutung, denken. Verdächtig ist es auch, wenn die Kopfschmerzen chronisch progredient sind. Kinder mit Hirntumoren, die über Kopfschmerzen klagten, weisen aber immer auch einen pathologischen Neurostatus auf. Kleine, aber wichtige Anzeichen seien hier eine Stauungspapille, Augenmotilitätsstörungen und eine leichte Gangataxie, sagte Strozzi. Eine okzipitale Lokalisation der Schmerzen galt früher als Alarmzeichen. Das gilt heute nicht mehr, wenn der Patient neurologisch unauffällig ist. Als Red Flags bei Kopfschmerzen gelten weiterhin: ● plötzliches und heftiges Einsetzen der Kopfschmerzen ● Beginn der Kopfschmerzen im Alter von < 3 Jahren ● schwallartiges Erbrechen ● Charakter der Kopfschmerzen verändert sich ● persistierender Kopfschmerz am Morgen ● körperliche Anstrengung löst den Schmerz aus oder verschlimmert ihn ● unilaterale, immer (!) auf der gleichen Seite auftreten- de Kopfschmerzen ● nächtliches Erwachen wegen der Kopfschmerzen Lebensstil ändern «Bei allen Kopfschmerzen, ob Migräne oder Spannungstypkopfschmerz, ist die nicht medikamentöse Therapie das A und O», sagte Strozzi. Wichtig ist das Führen eines Kopfschmerztagebuchs durch den Patienten bzw. die Eltern, in dem nicht nur die Kopfschmerzen und der Gebrauch von Kopfschmerzmedikamenten notiert werden, sondern auch die Alltagsaktivitäten (Schlafrhythmus, Kindergarten- oder Schulbesuch, Hausaufgaben, Sport, Bildschirmzeit, Zeit für Hobbys, Mahlzeiten usw.). Die wichtigsten Lebensstiländerungen für die Prävention von Kopfschmerzen lassen sich in dem Akronym SMART zusammenfassen: ● Schlaf: regelmässig ausreichend schlafen ● Mahlzeiten: regelmässig gesunde Mahlzeiten essen, und genügend trinken ● Aktivität: regelmässige körperliche Aktivität an der frischen Luft (Kinder sollten das Haus mindestens 1-mal am Tag verlassen) ● Relaxation: Methoden zur Stressbewältigung und Entspannung erlernen und anwenden 16 Pädiatrie 4+5/22 Jahrestagung SGP ● Trigger vermeiden: individuelle Kopfschmerztrigger erkennen und vermeiden Das Deutsche Kinderschmerzzentrum bietet Videoclips für Kinder an. Sie erklären kindgerecht die verschiedenen Kopfschmerzformen und was man gegen Migräne tun kann (s. Linktipps). Die Auswahl einer Entspannungstechnik richtet sich nach den Wünschen des jungen Patienten. Gängige Methoden sind die progressive Muskelrelaxation nach Jacobscon, autogenes Training, Atemtherapie oder Autohypnose: «Ich bin ein grosser Fan von Autohypnose und Atemtherapie», sagte Strozzi. Ebenfalls nützlich können Biofeedback oder eine kognitive Verhaltenstherapie sein. Spannungstypkopfschmerzen sind häufiger als Migräne Rund 10 bis 24 Prozent der Kinder und Jugendlichen leiden unter Spannungstypkopfschmerzen, bis zu einem Viertel von ihnen in Kombination mit Migräne. Typisch für Spannungstypkopfschmerzen sind bilaterale, dumpfdrückende, nicht pulsierende Schmerzen von leichter und mittelschwerer Intensität, die sich bei körperlicher Aktivität nicht verstärken. Sie sind nicht mit Erbrechen oder Übelkeit verbunden (allenfalls nur ein leichtes Unwohlsein). Licht- oder Lärmempfindlichkeit sind mögliche Begleitumstände, die jedoch nie gleichzeitig auftreten. Bei chronischen Spannungstypkopfschmerzen (d. h. an mehr als 15 Tagen pro Monat über 3 Monate), sollte man auch ein psychiatrisches Gutachten erstellen und an Missbrauch denken, sagte Strozzi. Migräne bei Kindern ist anders Für die Diagnose «Migräne» müssen gemäss den Richtlinien der International Headache Society (IHS) mindestens 5 Attacken vorliegen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Diese Kriterien treffen im Kindesalter jedoch nur teilweise zu. So dauert eine Migräneattacke bei Erwachsenen zwischen 4 und 72 Stunden, während bei Kindern nur eine Mindestdauer von 2 Stunden als diagnostisches Kriterium gefordert wird. Die meisten Experten sind überdies der Ansicht, dass Migräneattacken insbesondere bei Kleinkindern oft noch kürzer sind. Sie definieren die Mindestdauer einer Migräneattacke deshalb bei 30 Minuten für Kinder unter 5 Jahren und bei 1 Stunde für ältere Kinder. Der Charakter der Kopfschmerzen soll bei einer Migräne gemäss IHS mindestens 2 der folgenden 4 Kriterien erfüllen: unilateral, pulsierend, mittelschwer bis schwer, die Alltagsaktivitäten (z. B. Gehen, Treppensteigen) erschwerend oder verhindernd. Auch hier muss die Symptomatik bei Kindern mit Migräne differenziert betrachtet werden. So haben 80 Prozent der Kleinkinder mit Migräne bilaterale Kopfschmerzen. Auch bei Kindern sind Migräneschmerzen zwar häufig pulsatil, aber besonders bei Kleinkindern können grosse symptomatische Überschneidungen zwischen Migräne- und Spannungstypkopfschmerzen auftreten. Des Weiteren soll mindestens eines der beiden folgenden Symptome zutreffen: Übelkeit und/oder Erbrechen oder Licht- und Lärmempfindlichkeit. Jüngere Kinder neigen bei einer Migräneattacke eher zum Erbrechen als ältere Kinder. Aura und autonome Symptome Migräne mit Aura tritt bei rund 30 Prozent der Kinder auf. Die Aura persistiert häufig während der Kopfschmerzen (Migräneaura bei Erwachsenen in der Regel nur vor dem Einsetzen der Kopfschmerzen). Meist handelt es sich um eine visuelle Aura, aber sie kann sich auch als Sprachstörung, als sensible oder selten als motorische Störung manifestieren. Eine Aura beginnt nicht plötzlich, sondern allmählich. Sie hat eine Verlauf über mindestens 5 Minuten, und spätestens nach 1 Stunde setzen die Kopfschmerzen ein. Eine Migräneaura besteht in ihrem Verlauf meist nicht nur aus einem einzigen Symptom, sondern aus mehreren: «Wenn ein Kind plötzlich einen sensiblen Ausfall hat, etwa an einem Arm, und sonst nichts, ist es unwahrscheinlich, dass es sich um eine Migräneaura handelt – dann muss ich einen Stroke ausschliessen», sagte Strozzi. Auch autonome Symptome wie tränende Augen, Bindehautreizung, periorbitale Ödeme, Ptosis, verstopfte Nase oder Rhinorrhö kommen bei Kindern mit Migräne häufiger vor als bei den Erwachsenen (ca. 10–20% der Fälle). Diese Symptome können unilateral auftreten, was mitunter zu Fehldiagnosen führt (z. B. vermeintlicher Clusterkopfschmerz). Akutmedikamente in der Migräneattacke Selbstverständlich müsse man einem Kleinkind, dessen Migräneattacke nur eine halbe Stunde dauere, nichts geben, sondern es einfach in einem dunklen, ruhigen Raum schlafen lassen, sagte Strozzi. Im Allgemeinen sei es aber wichtig, bei einer Migräneattacke früh und hoch dosiert ein Medikament zu geben. Die Referentin nannte als erste Wahl für Kinder mit Migräne Ibuprofen (10 mg/kg alle 4 – 6 Stunden), gefolgt von Paracetamol als zweite Wahl (15 mg/kg alle 4 – 6 Stunden) und den Drittwahlmedikamenten Acetylsalicylsäure (ab 12 Jahre: 5 –10 mg/kg alle 4 – 6 Stunden), Mefenaminsäure (5 – 20 mg/kg alle 8 Stunden) oder Naproxen (5 –7 mg/kg alle 8 –12 Stunden). Triptane kommen für Jugendliche ab 12 Jahre infrage. Kontraindiziert sind sie bei Patienten mit einem früheren Schlaganfall und peripheren vaskulären Erkrankungen. Es wird diskutiert, ob sie auch bei hemiplegischer Migräne kontraindiziert sind. Sie selbst gebe solchen Patienten keine Triptane, sagte Strozzi. Das einzige ab 12 Jahren zugelassene Triptan in der Schweiz ist das SumatriptanNasenspray (Imigran®). Es wird je nach Körpergewicht in der 10- oder 20-mg-Dosierung angewendet. Falls es wirke und die Kopfschmerzen zurückkehren, dürfe man nach 2 Stunden eine zweite Dosis geben, sagte Strozzi. Wenn das Sumatriptan-Nasenspray nicht ausreichend wirke, lohne sich durchaus ein Versuch mit einem anderen Triptan, nämlich mit oralem Rizatriptan, Zolmitriptan oder Almotriptan, wobei diese Medikamente für Kinder alle off-label und erst ab 18 Jahren offiziell zugelassen sind. Gegen die Übelkeit empfahl sie als erste Wahl Domperidon (Motilium® und Generika), das als Suspension (0,25 mg/kg), als Suppositorien (1 mg/kg) oder als Lingualtablette (> 35 kg Körpergewicht) verfügbar ist. Domperidon soll maximal 1-mal gegeben werden, um Nebenwirkungen wie dystone Reaktionen und Sedation zu
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vermeiden. Zweite Wahl ist Ondansendron (Zofran®) in einer Dosierung von 0,1 mg/kg bzw. 4 bis 8 mg alle 8 Stunden. Mit Ausnahme von Naproxen und Ondansetron werden die genannten Substanzen in ähnlichen Dosierungen, aber ohne Einstufung nach erster, zweiter oder dritter Wahl in den Therapieempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft für Kinder mit Migräne genannt (s. Linktipps).
Migräneprophylaxe für Kinder
Eine prophylaktische medikamentöse Migränetherapie empfahl die Referentin ab einer Frequenz von mehr als 4 Migräneattacken pro Monat oder wenn das Kind sehr häufig in der Schule fehle. Jede Migräneprophylaxe müsse man mindestens zwei bis drei Monate durchführen, bevor eine Aussage möglich sei, ob sie wirke oder nicht, sagte die Referentin. Falls die Prophylaxe wirksam ist, wird sie für 6 Monate durchgeführt und dann ausgeschlichen. «Die Schwelle für eine Magnesiumtherapie halte ich sehr tief», sagte die Referentin. Das Magnesium sollte hoch dosiert gegeben werden (9 mg/kg pro Tag, verteilt auf 2 bis 3 Gaben). Oft komme es dann zu Diarrhö als Nebenwirkung, sodass die Dosis wieder etwas zu reduzieren sei. Einen Versuch wert könne Riboflavin sein (50 – 400 mg/ Tag). Die Akupunktur erwähnte die Referentin als nicht medikamentöse Option beziehungsweise Ergänzung der Migräneprophylaxe. Der Kalziumkanalblocker Flunarizin sei vor allem für Kleinkinder geeignet (5 –10 mg vor dem Schlafengehen; Cave: Sedation, Gewichtszunahme). In den Empfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft werden als mögliche Prophylaktika bei Kindern mit Migräne nur noch Magnesium, Riboflavin und Flunarizin genannt. Als zweite Wahl bezeichnete die Referentin die für Erwachsene zur Migräneprophylaxe gängigen Betablocker Propranolol oder Metoprolol (Cave: Sedation, Bradykardie, Gewichtszunahme). Topiramat und Amitriptylin setze sie bei Kindern wegen der potenziellen Nebenwirkungen so gut wie nie zur Migräneprophylaxe ein. Bis anhin nur für Erwachsene zugelassen sind monoklonale Antikörper gegen das Calcitonin gene-related peptide (CGRP) beziehungsweise seinen Rezeptor (Erenumab, Fremanezumab, Eptinezumab, Galcanezumab). Studien mit Jugendlichen gibt es noch nicht. Bekannt
sind nur einzelne Fallberichte, bei denen diese Substanzen off-label Patienten im Teenageralter gegeben wurden und ein ähnliches Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil wie bei den Erwachsenen zu beobachten war.
Clusterkopfschmerz und andere seltene Kopfschmerzformen
Clusterkopfschmerz ist bei Kleinkindern extrem selten, und er kommt bei allenfalls 0,1 Prozent der Jugendlichen vor. Die Patienten leiden unter schwersten, unilateral orbitalen, supraorbitalen und/oder temporalen Kopfschmerzen, die unbehandelt 15 bis 180 Minuten dauern. Sie sind von mindestens einem autonomen Symptom ipsilateral zu den Kopfschmerzen begleitet (Bindehautreizung und/oder tränendes Auge, verstopfte Nase und/ oder Rhinorrhö, Lidödem, Schwitzen an der Stirn und im Gesicht, Miosis und/oder Ptosis) mit oder ohne einem Gefühl von Rastlosigkeit und Agitation. Letzteres kann bei Clusterkopfschmerz auch ohne autonome Symptome vorkommen. Die Therapie bei Kindern ist dieselbe wie bei den Erwachsenen (Sauerstoff und Triptane). Die Symptomatik der paroxysmalen Hemikranie ähnelt derjenigen bei Clusterkopfschmerz, aber die Attacken sind häufiger und kürzer (> 5 Attacken pro Tag, die 2 bis 30 Minuten dauern). Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist, dass die paroxysmale Hemikranie mit Indomethacin gestoppt werden kann: «Diese Patienten darf man nicht verpassen, denn viele von ihnen reagieren sehr gut auf Indomethacin», sagte Strozzi. Das SUNHA-Syndrom (short-lasting unilateral neuralgiform headache attacks) ist durch mindestens einmal tägliche, extrem kurze Schmerzattacken charakterisiert (1– 600 Sekunden), die von mindestens einem ipsilateralen autonomen Symptom (s. oben) begleitet ist: «Das ist harmlos, und die meisten Kinder brauchen keine Therapie», sagte die Referentin.
Renate Bonifer
Quellen: Vortrag von Dr. med. Susi Strozzi: «Primäre Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen» an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 3. Juni 2022. Therapieempfehlungen der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft, Auflage 10.1. 2021; https://www.headache.ch/download/Content_attachments/FileBaseDoc/SKG_ Therapieempfehlungen_DE_19_WEB.pdf, abgerufen am 7. Juli 2022.
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