Transkript
Jahrestagung KIS
Nicht so selten?
Seltene Stoffwechselkrankheiten nicht verpassen
Zurzeit sind rund 1500 Erbkrankheiten bekannt. 10 von ihnen umfasst das Neugeborenenscreening in der Schweiz, 6 davon sind Stoffwechselerkrankungen. Prof. Marianne Rohrbach informierte an ihrem Workshop an der Jahrestagung der Kinderärzte Schweiz über das Neugeborenenscreening und über Symptome, die auf eine genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung hinweisen können.
Helpline seltene Krankheiten www.rosenfluh.ch/qr/helpline
Referenzzentren Stoffwechsel www.rosenfluh.ch/qr/zentren-stoffwechsel
Referenzzentren neuromuskuläre Krankheiten www.rosenfluh.ch/qr/zentren_neuromusk
Im zentralen Zürcher Labor für das Neugeborenenscreening in der Schweiz und Liechtenstein wurden 2021 91 676 Testkarten analysiert (1). Bei 123 Neugeborenen lag 1 der 10 Krankheiten vor, die im Screening enthalten sind (1). Insgesamt entspricht das einer Inzidenz von 1:700 für die vom Screening erfassten Erkrankungen. Die Blutprobe soll am 4. Lebenstag genommen werden, zwischen 72 und 96 Stunden nach der Geburt und mit einem Abstand von 1 bis 2 Stunden nach einer laktosehaltigen Mahlzeit. Bei einem Geburtsgewicht unter 2000 g soll ein 2. Test am Ende der 2. Lebenswoche eingeschickt werden (2, 3). Wichtig: eingeschränkten Postversand am Wochenende beachten und entsprechenden Briefkasten auswählen, um die unverzügliche Analyse zu ermöglichen (Labor arbeitet auch am Samstag). Weil die Testkarten meist von Hebammen eingeschickt werden, werden diese im Fall eines positiven Befunds vom Zürcher Labor angerufen. Man wolle die Kinderärzte keineswegs übergehen, sagte Marianne Rohrbach. Man müsse die Eltern aber so rasch wie möglich erreichen, sodass keine Zeit sei, noch nach dem zuständigen Kinderarzt zu suchen. Wenn Eltern mit einem kranken Neugeborenen in die Praxis kämen, sollte der Kinderarzt aber nicht automatisch davon ausgehen, dass das Screening bereits erfolgt sei und deshalb keine entsprechende Erkrankung vorliegen könne. Bei Stoffwechselerkrankungen könne es um Stunden gehen, um Schaden von dem Kind abzuwenden, betonte die Referentin.
Im Zweifelsfall Zentren anrufen!
Bei jeglichem Verdacht auf eine seltene Erkrankung sollte man eines der neun Schweizer Zentren für seltene Krankheiten kontaktieren. Für allgemeine Fragen sind die Helplines der Zentren die richtige Adresse (4). Für ärztliche Fragen wendet man sich an die Referenzzentren (5, 6). Das Referenzzentrum für seltene Stoffwechselkrankheiten am Kinderspital Zürich sei an 7 Tagen in der Woche 24 Stunden besetzt, sagte Rohrbach.
Verdächtige Symptome
Akute Stoffwechselentgleisungen manifestieren sich häufig neonatal, können aber in jedem Alter auftreten. Neurologische Symptome sind häufig, ebenso ein inter-
mittierender Charakter der Beschwerden und ein auffälliger Geruch. Typisch für die neonatale Phase sind ein zumeist symptomfreies Intervall von 1 bis 2 Tagen, unspezifische Symptome wie Trinkschwäche, Erbrechen und Tachypnoe sowie eine Progredienz über Stunden oder Tage, Somnolenz, Koma und Krampfanfälle. Die häufigsten Fehldiagnosen sind Sepsis und Pneumonie. Eine intermittierende Symptomatik kann sich vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter manifestieren. Sie umfasst rezidivierende Episoden von Bewusstseinsstörungen mit oder ohne neurologische Defizite und/oder weitere Organmanifestationen sowie Bewegungsstörungen (Dystonie, Ataxie, Hemiparese). Die Episoden können durch katabole Situationen (Infekte, Fastenperioden, Operationen) oder Festtagsmahlzeiten getriggert werden. Zu den häufigsten Fehldiagnosen zählen hier die Enzephalitis, das Reye-Syndrom, Intoxikationen und vermeintlich psychogene Ursachen. Falls bei einem Kind im Lauf des Lebens Symptome auftreten, die für eine Stoffwechselerkrankung sprechen, können weitere Befunde aus dem Neugeborenenscreening angefordert werden. Dann werden die Daten aus der massenspektroskopischen Tandem-Analyse (MS/MS) der Neugeborenenblutprobe «entblindet». Die MS/ MS-Analyse ermöglicht die Diagnose von über 30 Krankheiten. Diese Befunde werden jedoch aufgrund ethischer Überlegungen beim routinemässigen Neugeborenenscreening vorderhand nicht ausgewiesen (z. B. unklare Behandlungsoptionen, Stigmatisierung, klinische Relevanz für das spätere Leben zum Zeitpunkt des Screenings unklar usw.). Die nachträgliche Befundung ist bis zu einem Patientenalter von zirka 20 Jahren möglich. Man müsse sich aber darüber im Klaren sein, dass es sich dabei nicht um eine Diagnose, sondern allenfalls um einen ersten Schritt handele, nach dem gegebenenfalls weitere Abklärungen erfolgen müssten, sagte Marianne Rohrbach. Renate Bonifer
Quelle: Workshop W-03 von Prof. Dr. Dr. Marianne Rohrbach und Dr. med. Ralf von der Heiden: «Stoffwechselkrankheiten – die Perspektive des Praxispädiaters» an der Jahrestagung von Kinderärzte Schweiz am 8. September 2022.
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Pädiatrie 4+5/22
Literatur: 1. Neugeborenen-Screening Schweiz: Jahresbericht 2021. https://www.neoscreening.ch/wp-content/uploads/2022/06/Screening_ JB2021_4_de.pdf (abgerufen am 3. Oktober 2022). 2. Informationen rund um das Neugeborenen-Screening. https://www.neoscreening. ch/wp-content/uploads/2022/01/Screening-Hebammeninfo2022_de_web.pdf 3. Sluka S: Neugeborenen-Screening: Von der Blutentnahme zur Diagnose. Obstetrica. 2022;3:44-47. https://www.neoscreening.ch/wp-content/uploads/2022/06/ Obstetrica_3_2022_Sluka_d.pdf 4. Helpline seltene Krankheiten: https://www.kosekschweiz.ch/versorgung/zentrenseltenekrankheiten 5. Referenzzentren seltene Stoffwechselkrankheiten: https://www.kosekschweiz.ch/ versorgung/netzwerke-bilden#2839 6. Referenzzentren seltene neuromuskuläre Krankheiten: https://www.kosekschweiz.ch/versorgung/netzwerke-bilden#2842
Jahrestagung KIS
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