Transkript
Frühjahrstagung KIS
Mein Kind ist apathisch!
Was meinen Eltern damit wirklich, und was kann dahinterstecken?
Einerseits ist Apathie bei Kindern ein Warnsignal, andererseits lehrt die Erfahrung, dass Eltern und Ärzte nicht unbedingt dasselbe meinen, wenn sie von Apathie sprechen. Was also ist zu tun, wenn Eltern in der Praxis anrufen und nach einem sofortigen Termin verlangen, weil ihr Kind apathisch sei? Dr. med. Sergio Stocker und Prof. Daniel Trachsel gaben an der Onlinefrühlingstagung der Kinderärzte Schweiz Ratschläge für die Praxis.
Für den Praxisalltag empfahl Dr. med. Sergio Stocker, Leitender Arzt Allgemeine Pädiatrie am Kinderspital Zürich mit eigener Praxis in Schaffhausen, den von den Eltern gebrauchten Begriff «Apathie» am Telefon zunächst «durch gezieltes Nachfragen zu übersetzen». Nach seiner Erfahrung bezeichnen Eltern ihr Kind als apathisch, wenn es weniger (hyper-)aktiv ist als sonst, müde und lustlos ist, weder essen noch trinken will, blass ist und hohes Fieber hat. All das kann zwar auch zu den Anzeichen einer gefährlichen Apathie gehören, muss es aber nicht. Aus ärztlicher Sicht ist kindliche Apathie etwas anderes. Sie sei ein eingeschränkter geistiger Zustand, der als Ausdruck einer akuten Hirnfunktionsstörung, das heisst einer Enzephalopathie interpretiert werden könne, sagte Stocker. Das Kind ist verlangsamt, auffällig ruhig, schlecht zu wecken, es reagiert kaum auf Ansprache, die Eltern, Spielzeug oder Essen, es lacht nicht mehr, sein Bewusstsein erscheint getrübt, und/oder es ist desorientiert. Das Wichtigste habe kurz und bündig einmal der Abteilungsleiter und Chefarzt der Notfallambulanz am Kinderspital Zürich, Dr. med. Georg Staubli, formuliert, berichtete Stocker: «Die wichtigste Frage ist, wie es dem Kind geht. Es sollte vif wirken und an seiner Umwelt interessiert sein.»
Tipps für MPA
Grundsätzlich sind Rückfragen wie «Was meinen Sie mit Apathie?» und «Können Sie mir das genauer beschreiben?» immer sinnvoll. Hilfreich für die MPA ist, nicht nur wenn es um Apathie geht, das Telefontriage-Manual der Kinderärzte Schweiz, das Stocker mehrfach während seines Referats empfahl. Bei einem Säugling sind folgende Fragen wichtig: Ist er zu seinen üblichen Zeiten wach? Trinkt er gut? Reagiert er nicht oder anders auf Ansprache als sonst? Erbricht er? Hat er Durchfall? Hat er regelmässig nasse Windeln? Hat er Fieber? Sofort einbestellen ist notwendig bei Fieber > 38 °C in den ersten 2 Lebensmonaten sowie bei Fieber > 38 °C, das mit mangelndem Trinken und vermehrtem Schlafen einhergeht. Erbrechen ohne Durchfall und Fieber sowie galliges Erbrechen sind ebenfalls
Warnsignale, die eine sofortige ärztliche Konsultation erfordern. Bei Kleinkindern sollte die MPA nachfragen, ob das Kind noch spielen mag, ob es isst und trinkt, Fieber hat, zu unüblichen Zeiten schläft und schlecht zu wecken ist. Bei grösseren Kindern: Spricht es adäquat? Scheint es verwirrt? Schläft es zu unüblichen Zeiten, und ist es schlecht zu wecken? Besteht eine Gangunsicherheit? Erfahrene MPA entwickeln mit der Zeit ein gewisses «Bauchgefühl», ob das Kind sofort in die Praxis kommen oder am besten gleich ins Spital gehen sollte. Beim kleinsten Zweifel sollten sie aber immer beim Arzt nachfragen: «Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig», sagte Stocker.
Mögliche Ursachen der Apathie
«Die Apathie ist ein sehr unspezifisches Symptom, und wie alle unspezifischen Symptome sagt es uns nicht, woher es kommt und wohin die Reise geht. Aber es ist ein Warnsymptom des ZNS und deshalb müssen wir es ernst nehmen», sagte Prof. Daniel Trachsel, Stv. Abteilungsleiter Intensivmedizin und Pneumologie am Universitätskinderspital beider Basel. Überdies kann sich der Zustand eines apathischen Kindes jederzeit akut verschlechtern. Im Vordergrund stehen deshalb in jedem Fall die Leitsymptome gemäss A-B-C-D-E-Schema: Airway (Atemwege), Breathing (Atmung), Circulation (Herz-Kreislauf-Funktion), Disability (Apathie, Vigilanz usw.) und Exposure (Haut, Temperatur, Intoxikation). Stocker zählte häufige und weniger häufige Ursachen und ihre Erscheinungsformen im Zusammenhang mit Apathie auf. Häufig sind demnach: ● Schock (hypovoläm, kardiogen, distributiv) mit schwe-
rer Dehydratation, Erbrechen, Durchfall, Trinkunlust und vermindertem Urinvolumen ● Sepsis mit Fieber, Erbrechen, schlechtem Allgemeinzustand und Blässe ● intrakranieller Infekt mit Kopfschmerzen und Fieber, eventuell mit Nackensteifigkeit und Ataxie.
Weitere potenzielle Ursachen sind: ● Stoffwechselentgleisung (Hypoglykämie bzw. Entglei-
sung bei bekannter Stoffwechselkrankheit) ● erhöhter Hirndruck (Shunt?)
Linktipps
www.rosenfluh.ch/qr/telefontriage MPA-Telefontriage-Manual
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● Krämpfe (Epilepsie, Fieberkrämpfe, Affektkrämpfe) ● Intoxikationen, wobei in diesem Fall symptomatisch
oft nichts zusammenpasst und sozusagen aus dem Nichts ein merkwürdiges Verhalten auftritt ● Trauma (Schädel-Hirn-Trauma, Schütteltrauma) ● Bluthochdruck (vorbestehende Nierenkrankheit, Herzvitium?) ● Schlaganfall (plötzlich einschiessende Kopfschmerzen, Lähmungen).
«Infekte sind die häufigste Ursache», fasste Trachsel zusammen, aber man sollte auch an die Möglichkeit einer Intoxikation, eines Schütteltraumas, einer Invagination oder eines Volvulus denken sowie an Hyponatriämie (z. B. durch übermässigen Wasserkonsum), Hyperglykämie oder einen zerebrovaskulären Insult. Besondere Aufmerksamkeit widmete Trachsel den Intoxikationen. Hypoglykämien können nicht nur durch die Intoxikation mit Diabetesmedikamenten wie Sulfonylharnstoffen, Metformin oder Repaglinid, sondern auch durch Betablocker verursacht werden: «Eine einzige Tablette eines Sulfonylharnstoffpräparates kann bereits genügen», sagte Trachsel. Zu den in Bezug auf Intoxikationen gefährlichen Medikamente zählen: ● Betablocker ● Kalziumantagonisten ● Eisenpräparate (bei > 30 mg/kg Körpergewicht muss
das Kind ins Spital) ● trizyklische Antidepressiva. Schmerzmittel und Psychopharmaka werden in der Schweiz in grossen Mengen konsumiert. Bei einer Vergiftung im Kindesalter sei es deshalb naheliegend, zu-
nächst an solche Substanzen zu denken, sagte Trachsel. In der Datenbank von Tox Info Suisse (Notruf 145) wurden in den letzten 10 Jahren bei Kindern bis 6 Jahre unter dem Stichwort «Somnolenz und Medikamente» 466 Fälle verzeichnet. Am häufigsten waren Benzodiazepine die Ursache (125 Fälle), gefolgt von Opioiden (65 Fälle) vor Antidepressiva und Antipsychotika. Auch Vergiftungen mit Cannabis sind nicht so selten: 124 Fälle wurden im gleichen Zeitraum notiert. Eine Vergiftungsquelle, an die man eventuell nicht gleich denkt, ist das Osa® Zahngel, das unter anderem Salicylamid enthält. Es ist zur kurzfristigen Anwendung bei Zahnungsbeschwerden zugelassen. Das Problem: Das Gel ist süss und rot, und manche Kinder schlucken deshalb den gesamten Inhalt der Tube. 123 Fälle wurden in der Schweiz in weniger als 4 Jahren dokumentiert. Die Folgen waren zwar meistens nicht gravierend, aber es kam bei 8 Prozent der Kinder zu moderaten Symptomen, darunter auch Gangunsicherheit und Somnolenz. Sehr gefährlich ist das Frostschutzmittel Monoethylenglykol, das sich unter anderem in Coolpacks befinden kann. Es ist süsslich und bunt, sodass es für Kleinkinder wie Fruchtsaft aussieht: «Schon ein halber Esslöffel reicht für toxische Symptome, und 1 Esslöffel kann tödlich sein!», warnte Trachsel.
Renate Bonifer
Quellen: Referate von Dr. med. Sergio Stocker: «Mein Kind ist total apathisch – können Sie mir heute Morgen einen Termin geben?» und Dr. med. Daniel Trachsel: «Differenzialdiagnosen der Apathie im Kindesalter» an der Onlinefrühlingstagung von Kinderärzte Schweiz am 17. März 2022.
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