Transkript
Guidelines & Praxis
Gastroenteritis im Kindesalter
Stellenwert von Rehydratationsprodukten und Probiotika
Akute Gastroenteritis im Kindesalter ist häufig, und genauso häufig stellen sich in der Praxis die immer wieder gleichen Fragen: Sind für die Flüssigkeitszufuhr spezielle orale Rehydratationslösungen wirklich notwendig? Und welchen Nutzen haben Probiotika tatsächlich?
In den Guidelines verschiedener Fachgesellschaften ist man sich darüber einig, dass die Rehydratation die wichtigste Massnahme bei akuter Gastroenteritis ist. Für die orale Rehydratation wird eine hypo-osmolare Lösung empfohlen (1, 2). Daran hat sich bis heute nichts geändert (3). Schweizweite Richtlinien zur Rehydratation bei akuter Gastroenteritis gibt es nicht.
Braucht es spezielle Produkte zur oralen Rehydratation?
Produkte zur oralen Rehydratation enthalten im Wesentlichen Salz und Zucker (empfohlen werden 60 mmol/l Natrium und 74–111 mmol/l Glukose [2]) sowie Kalium, Chlorid und meist Citrat als Puffersubstanz (2). Weil Süssgetränke wie Cola oder Apfelsaft zu wenig Natrium enthalten und nicht standardisierbar sind, werden sie für die orale Rehydratation in einer 2019 publizierten S2k-Leitlinie aus Deutschland und Österreich nicht empfohlen (2). Allerdings werden solche Getränke wegen ihres besseren Geschmacks von den Kindern häufig besser angenommen. Praxispädiater wie Dr. med. Rolf Temperli, Liebefeld bei Köniz, raten zu einem pragmatischen Vorgehen. Man könne Süssgetränke zur Rehydratation verwenden, müsse diesen aber Salz hinzufügen und sie verdünnen, damit nicht zu viel Zucker enthalten sei, sagte er an der diesjährigen Tagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) in Luzern (siehe Seite 7 in dieser Ausgabe [4]). Das Problem in der Praxis sei nicht die Auswahl des Getränks, sondern die Verabreichung der notwendigen Menge an Flüssigkeit, so Temperli: «Das Wichtigste ist das geduldige Verabreichen von sehr kleinen Portionen in kurzen Abständen.» Auch für die SGP sind spezielle Elektrolytlösungen zur oralen Rehydratation bei akuter Gastroenteritis kein Muss: «Geben Sie Ihrem Kind verdünnten Apfelsaft, Muttermilch oder andere Getränke, die es kennt – durch Einlöffeln oder schluckweise trinken lassen. Zusätzlich können Sie Ihrem Kind rezeptfrei erhältliche Elektrolytlösungen verabreichen», so lautet der Rat für die Eltern auf der Website der Gesellschaft (5).
Fraglicher Nutzen der Probiotika
Erstmals 2014 hatte die European Society for Paediatric Gastroenterology Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) einige exakt definierte Probiotika in die Empfehlungen zur Behandlung bei akuter Gastroenteritis aufgenommen (1,
6). Bereits damals beklagte man die mangelnde Qualität von Probiotikastudien, sodass zu weiteren Präparaten weder ein positives noch ein negatives Statement möglich war. In der 2019 publizierten S2k-Leitlinie, die von der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e.V. (GPGE) und weiteren pädiatrischen Fachgesellschaften aus Deutschland und Österreich erstellt wurde, heisst es, dass der Einsatz bestimmter Probiotika in Ergänzung zur Rehydration erwogen werden könne, wobei man sich den Empfehlungen der ESPGHAN zu den im Einzelnen definierten Probiotika anschloss (2). Im August 2020 erschien ein Update der ESPGHANGuideline zur akuten Gastroenteritis, die einige neue positive und negative Empfehlungen zu verschiedenen Probiotika enthält (3). Aufgrund der nach wie vor mangelnden Studienqualität und eines niedrigen bis sehr niedrigen Evidenzniveaus gibt die ESPGHAN-Arbeitsgruppe allerdings nur schwache Empfehlungen für den Gebrauch einiger Probiotika: «Trotz der grossen Anzahl entsprechender Studien konnten wir für keinen der Probiotikastämme zwei randomisierte, kontrollierte Studien von hoher Qualität finden, die einen Nutzen für die Behandlung bei akuter Gastroenteritis belegen konnten», schreiben Dr. Hania Szajewska und ihre Co-Autoren. Demnach kommen allenfalls folgende Probiotika bei akuter Gastroenteritis infrage (in absteigender Reihenfolge gemäss Anzahl der verfügbaren Studien): ● Saccharomyces boulardii, 250 bis 750 mg/Tag, für
5 bis 7 Tage (Evidenzniveau: niedrig bis sehr niedrig) ● Lactobacillus rhamnosus GG, 1010 CFU/Tag, typischer-
weise für 5 bis 7 Tage (Evidenzniveau: sehr niedrig) ● L. reuteri DSM 17938, pro Tag 1-mal 108 bis 2-mal
108 bis 4-mal 108 CFU für 5 Tage (Evidenzniveau: niedrig bis sehr niedrig) ● L. rhamnosus 19070-2 und L. reuteri DSM 12246, 2-mal 1010 CFU jedes Stamms für 5 Tage (Evidenzniveau: sehr niedrig).
Sicherer ist sich die ESPGHAN-Arbeitsgruppe in ihrem Urteil bei der starken Empfehlung gegen die Probiotika L. helveticus R0052 und L. rhamnosus R0011. Sie sollen nicht eingesetzt werden (Evidenzniveau: moderat). Eine schwache negative Empfehlung wird gegen die Bacillus-clausii-Linien O/C, SIN, N/R und T ausgesprochen (Evidenzniveau: sehr niedrig) (3).
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Kein Nutzen der Probiotika gemäss Cochrane-Analyse
Während die ESPGHAN zumindest einigen Probiotika trotz allem einen gewisssen Stellenwert bei der Behandlung von Patienten mit akuter Gastroenteritis einräumt, kommen die Autoren einer im Dezember 2020 publizierten Cochrane-Analyse zu einem anderen Ergebnis: «Unsere Ergebnisse unterstützen den Gebrauch von Probiotika zur Behandlung einer akuten infektiösen Diarrhö nicht», schreiben der Pädiater Prof. Stephen Allen und seine Co-Autoren (7). Das gilt insbesondere auch für Kinder, denn die weitaus meisten Probanden in den 82 ausgewerteten Studien waren unter 18 Jahre alt. Das Biasrisiko war in vielen Studien hoch oder unklar und die statistische Heterogenität von Studien zum gleichen Probiotikum stark ausgeprägt. Auch hätten sich deutliche Anzeichen dafür gefunden, dass ein Publikationsbias in Bezug auf Probiotikastudien vorliege, so die Autoren der
Cochrane-Analyse. Das bedeutet, dass offenbar vorwiegend Studien mit positivem Resultat publiziert werden, während Studien, in denen sich Probiotika als nicht wirksam erweisen, eher in der Schublade verschwinden. Während der Nutzen einer Probiotikagabe in den oben genannten Guidelines als Verkürzung der gesamten Diarrhödauer um zirka 1 Tag definiert wird, wählte das Cochrane-Team einen anderen Endpunkt, nämlich das Risiko, dass die Diarrhö um weitere ≥ 48 Stunden andauert. In den wenigen Studien, die als gut genug für die Analyse einstuft wurden, zeigte sich kein Unterschied zwischen den Kindern mit oder ohne Probiotikagabe. Das Fazit (7): «Probiotika machen vermutlich nur einen kleinen oder keinen Unterschied bei der Anzahl an der Patienten, deren Diarrhö 48 Stunden oder länger beträgt, und wir sind nicht sicher, ob Probiotika die Diarrhödauer verkürzen können.»
Renate Bonifer
KOMMENTAR
Probiotika bei Diarrhö nur in bestimmten Fällen erwägen
PD Dr. med. Raoul I. Furlano
Abteilungsleiter, Leitender Arzt Pädiatrische Gastroenterologie & Ernährung Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Obwohl ältere Metaanalysen den Einsatz von bestimmten Probiotika bei akuter Gastroenteritis empfahlen, um die Dauer der Durchfallepisode zu verkürzen, zeigen neueste Reviews, dass es keinerlei Evidenz für einen Nutzen von Probiotika bei akuter Gastroenteritis gibt. Somit sind keine generellen Empfehlungen für eine systematische Anwendung von Probiotika bei akuter Gastroenteritis möglich. Ich selbst setze Probiotika deshalb sehr restriktiv in der täglichen Praxis ein. Meist sind es die Eltern, welche eine solche Therapie wünschen. Man sollte dabei auch immer die Kosten im Gesundheitswesen im Hinterkopf haben.
Anders sieht es in folgenden Fällen aus:
● Bei einer Antibiotika-assoziierten Diarrhö kann die Anwendung spezifischer Probiotikastämme erfolgen, wenn gewisse Risikofaktoren, wie zum Beispiel das Alter des Kindes, oder das verabreichte Antibiotikum dafür sprechen oder wenn Komorbiditäten vorliegen. Schwierig ist die Auswahl des Probiotikums, denn verschiedene Guidelines empfehlen verschiedene Stämme.
● Bei der Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhö kann der Einsatz von Probiotika erwogen werden. Auch in diesem Fall empfehlen verschiedene Guidelines verschiedene Stämme. S. boulardii CNCM I-745 wird jedoch in diesem Zusammenhang von allen Guidelines als Probiotikum empfohlen.
● Bei der nosokomialen Diarrhö, also einer Durchfallerkrankung, die im Spital erworben wird, wird der Einsatz von L. rhamnosus GG ATCC53103 als Prophylaxe empfohlen, da einige Daten einen Nutzen vermuten lassen. Die wissenschaftliche Evidenz ist jedoch gering.
Wenn es um Probiotika geht, hat eine häufig gebrauchte Floskel für einmal tatsächlich ihre Berechtigung: Wir brauchen bessere und mehr klinische Studien. Sie müssen aber so geplant werden, dass sie uns tatsächlich valide Daten liefern, welche Aussagen darüber erlauben, welche Probiotikastämme in welcher Menge und bei wem eingesetzt werden sollen.
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Literatur: 1. Guarino A et al.; European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition/European Society for Pediatric Infectious Diseases evidence-based guidelines for the management of acute gastroenteritis in children in Europe: update 2014. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2014;59(1):132-152. 2. Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e.V. (GPGE): S2k-Leitlinie «akute infektiöse Gastroenteritis im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter». Stand: 31.03.2019 , gültig bis 31.05.2023. https://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/068-003.html; abgerufen am 22. August 2022. 3. Szajewska H, Guarino A, Hojsak I, et al.: Use of Probiotics for the Management of Acute Gastroenteritis in Children: An Update. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2020;71(2):261-269. 4. Bonifer R: Wasser, Salz und Zucker: Was braucht es noch zur Rehydratation? Pädiatrie. 2022;27(4+5):7-8. 5. https://www.paediatrieschweiz.ch/choosingwisely/#magen-darm-grippe; abgerufen am 23. August 2022. 6. Szajewska H et al.: Use of Probiotics for Management of Acute Gastroenteritis: A Position Paper by the ESPGHAN Working Group for Probiotics and Prebiotics. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2014;58(4):531-539. 7. Collinson S et al.: Probiotics for treating acute infectious diarrhoea. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 12. Art. No.: CD003048.
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