Transkript
Schwerpunkt
Zahnpflege im Kindesalter
Zahnreinigung ab dem ersten Milchzahn
Die orale Gesundheit ist ein wichtiger Teil der allgemeinen Gesundheit. Die frühzeitige Zahnpflege im Kindesalter trägt entscheidend dazu bei und stellt die Weichen für das spätere Leben. Die Prävention beruht von Anfang an auf den vier Säulen Ernährung, Mundhygiene, Fluorid und regelmässigen zahnärztlichen Kontrollen.
Von Adrian Lussi und Teresa Leisebach
Sobald die Zähne in die Mundhöhle durchbrechen, sind sie dem Mundmilieu ausgesetzt: dem Speichel, der bakteriellen Plaque (heute Biofilm genannt), der Nahrung und den Getränken, dem Fluorid, zum Beispiel aus der Zahnpasta, usw. Im ungünstigen Fall kommt es zu chronischer Gingivitis, Karies sowie Erosionen und in der Folge der frühzeitigen Milchzahnzerstörung zu Zahn- und Kieferfehlstellungen. All diese Erkrankungen können mit Schmerzen einhergehen und die Lebensqualität der Kinder stark beeinträchtigen, ganz abgesehen von den finanziellen Folgen, die Zahnerkrankungen nach sich ziehen. Im Besonderen sind Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien betroffen. Kinder mit Anzeichen eines
Kasten 1:
Gesunde Zähne – einfache Regeln auf einen Blick
● Zähneputzen, sobald der erste Milchzahn durchbricht 2-mal täglich für 2 Minuten
● Zum Zähneputzen immer Fluoridzahnpasta verwenden bis 6 Jahre: Kinderzahnpasta (500 ppm Fluorid), erbsengrosse Menge ab 6 Jahre: Junior-/Erwachsenenzahnpasta (ab 1000 ppm Fluorid),
2 erbsengrosse Portionen ab 12 Jahre: Erwachsenenzahnpasta
● Die Anzahl der täglichen Mahlzeiten auf 5 beschränken 3 Hauptmahlzeiten, 2 Zwischenmahlzeiten keine Snacks und keine Süssigkeiten zwischendurch
● Wasser gegen den Durst nach Durchbruch der ersten Zähne in der Nacht kein Stillen, keine Milch-
oder Süssgetränke, Fruchtsäfte usw. keine Süssgetränke zwischendurch (Softdrinks, Fruchtsäfte, Smoothies,
gesüsster Tee)
● Regelmässige Zahnarztbesuche ab dem 2. Lebensjahr Der Zahnarzt empfiehlt wenn nötig individuell angepasste Massnahmen.
erhöhten Risikos für Zahnerkrankungen benötigen intensive zahnmedizinische Betreuung. Zusammen mit der Mütter- und Väterberatung kommt den Pädiatern bei der Triage und der Überweisung an den Zahnarzt sowie bei der Information der Eltern über die Bedeutung gesunder Zähne eine Schlüsselrolle zu (1).
Zahnentwicklung und Kariesrisiko
Im Regelfall erfordert die Gesunderhaltung der Zähne im Kindesalter wenig Aufwand (Kasten 1). In der Zeit zwischen Geburt und Adoleszenz durchläuft die Zahn- und Gebissentwicklung immer wieder Stadien mit erhöhtem Risiko für orale Erkrankungen, in erster Linie Karies und Gingivitis. Frisch durchgebrochene Zähne – sowohl im Milch- als auch im bleibenden Gebiss – sind am stärksten kariesanfällig, denn der Zahnschmelz ist noch nicht durch Zyklen der De- und Remineralisation gereift. Hinzu kommt, dass während der Durchbruchphase die Zähne nicht gut gereinigt werden können. Im Wechselgebiss sind vor allem die Molaren mit ihren tiefen Grübchen und Fissuren kariesgefährdet. Die ersten Molaren brechen mit etwa 6, die zweiten Molaren mit etwa 12 Jahren durch. Die Durchbruchzeit der dritten Molaren (Weisheitszähne) weist eine grosse Streuung auf. Sie sind häufiger von Retention mit schmerzhaften Parodontalinfekten – begünstigt durch schlechte Mundhygiene – oder Verlagerung betroffen als von Karies. Nicht selten werden Kinder und Jugendliche mit Infekten und Schwellungen der Mundschleimhaut auf Notfallstationen, in der pädiatrischen oder hausärztlichen Praxis vorstellig. Im Zweifelsfall ist es sinnvoll, die zahnärztliche Expertise beizuziehen, um eine dentale Ursache auszuschliessen. Im Alter von ungefähr 6 bis 8 Monaten brechen die ersten Milchzähne durch. Das Milchgebiss zählt 20 Zähne. Es ist im Alter von ungefähr 3 Jahren vollständig ausgebildet, wobei die Durchbruchzeiten von Kind zu Kind variieren können. Das ist völlig normal. Beim Zahndurchbruch kann die Gingiva lokal gerötet, geschwollen und
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Abbildung 1: «Early childhood caries» (ECC) kann bereits mit 2, 3 Jahren vorkommen und bedeutet später ein höheres Risiko für neue Karies.
Abbildung 2: Fortgeschrittene Karies am ersten Milchmolaren und beginnende Karies am zweiten Milchmolaren.
schmerzhaft sein. Die Kinder fühlen sich oft unwohl, der Speichelfluss ist verstärkt. Eine lokale Massage des Zahnfleisches vermag Abhilfe zu schaffen, am besten mit Beissringen aus Gummi. Sie sind leicht zu reinigen, können nicht verschluckt werden und keine Verletzung verursachen. Da die Phase der Milchzahneruption rund 2 Jahre dauert, handelt es sich um eine für die orale Gesundheit sehr vulnerable Zeitspanne. Werden mangels elterlichen Wissens und aufgrund von kindlicher Verweigerung eine adäquate Zahnpflege und Ernährung verpasst, kann dies fatale Folgen in Form der sogenannten «early childhood caries» (ECC) haben. Abbildung 1 zeigt ein typisches Beispiel von ECC aus dem kinderzahnärztlichen Alltag. Sehr junge Kinder, die bereits mit 2, 3 Jahren kariöse Läsionen aufweisen, haben auch später ein höheres Risiko für neue Karies (2–4). Abbildung 2 zeigt Milchzahnkaries im Seitenzahngebiet. Karies ist nach wie vor die häufigste Ursache für Zahnschäden und ihre Folgen. Bei kleinen Kindern bleibt sie oft unbehandelt (5, 6). Die Mundhöhle des Kindes ist bei der Geburt praktisch keimfrei. Allmählich etabliert sich eine bakterielle Mundflora (orales Mikrobiom) mit Hunderten Arten von Keimen als Folge von sozialen Kontakten, beispielsweise durch Übertragung von Keimen von den Eltern auf das Kind (z. B. durch Löffel) und durch Aufnahme von Bakterien aus der Umwelt (z. B. der Nahrung). Eine vielseitige Mundflora ist Teil des komplexen, oralen Gleichgewichts (7). Nehmen aufgrund einseitiger, zuckerreicher Nahrung, ungenügender Mundhygiene, Medikamente usw. gewisse Bakterien überhand, kann es zu Karies und Gingivitis kommen. Die Morphologie der Milchzähne unterscheidet sich von derjenigen der permanenten Zähne. Der Zahnschmelz weist eine geringere Schichtdicke auf, und die Pulpa ist ausgedehnter. Beginnende Karies schreitet rascher voran. Oft erschweren oder verunmöglichen irreparable Pulpaentzündungen und eine starke kariöse Zerstörung die Erhaltung eines Milchzahns. Die mangelhafte Kooperation jüngerer Kinder und häufig fehlende finanzielle Ressourcen der Eltern schränken den Behandlungserfolg beziehungsweise die Behandlungsmöglichkeiten massiv ein. Für einen Teil der Kinder kommt die in der Schweiz seit Jahrzehnten etablierte Schulzahnpflege mit gesundheitsfördernden Lektionen durch Prophylaxeinstruktoren und mit jährlichen Kontrolluntersuchungen zu spät. Nur an
Kasten 2:
Checkliste für die Beurteilung eines erhöhten Kariesrisikos
Je häufiger die Aussagen zustimmend beantwortet werden (✔), desto höher ist das Kariesrisiko.
● Tägliches Zähneputzen ab dem ersten Zahn Sie putzen Ihrem Kind die Zähne nicht täglich,
seit es seinen ersten Zahn bekommen hat. ✔
● Fluoridzahnpasta
Sie verwenden für Ihr Kind zum Zähneputzen
nicht fluoridierte Zahnpasta.
✔
● Problematisches nächtliches Trinken Das Kind wird in der Nacht noch gestillt, oder
es erhält die Flasche mit Getränken wie Milch/Muttermilchersatz, gezuckertem Tee, Ovomaltine, Honig, Fruchtsaft, Softdrink oder breiige Nahrung aus «Quetschbeuteln». ✔
● Lebenssituation/Überforderung Sie fühlen sich überfordert mit dem Zähne-
putzen bei Ihrem Kind, mit der gesunden Ernährung und der Pflege allgemein.
✔
● Wissen und Vorbildfunktion
(Selbstwirksamkeit)
Sie putzen Ihre eigenen Zähne nicht täglich. ✔
Sie gehen selbst nicht jährlich zur zahnärztli-
chen Kontrolle oder zur Dentalhygiene.
✔
● Klinische Befunde
An den Labialflächen der oberen Schneide-
zähne ...
... sieht man Plaque (weiss-gelblicher,
filziger, abwischbarer Belag).
✔
... sieht man nach Abwischen kreidig weisse
oder bräunliche Stellen oder richtige
Kavitäten (siehe Abbildung 3).
✔
Bereits vorhandene Initialkaries oder Karieskavitäten sind immer ein Alarmzeichen (8–11).
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Abbildung 3 : Initialkaries (kreidig weiss) und eine beginnende Karieskavität (bräunlich) an den oberen Schneidezähnen (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Hubertus van Waes, Zürich)
dieser Zeit bei den Vorsorgeuntersuchungen die orale Gesundheit der Patienten in Betracht zieht, zum Beispiel indem den Eltern folgende Fragen gestellt wird: Wurde das Kind in den letzten 12 Monaten zahnärztlich untersucht? Waren die Eltern dabei? Hat der Zahnarzt Behandlungen empfohlen? Sind die Behandlungen erfolgt? Wenn nicht, weshalb? In der Adoleszenz erreicht das Kariesrisiko mit dem Durchbruch aller bleibenden Zähne einen neuen Peak. Die Jugendlichen entziehen sich zudem der elterlichen Aufsicht und ihren Ratschlägen betreffend Zähneputzen, Ernährung und Lebensstil. Häufiges Snacken, Konsum von Softdrinks, Sportlergetränken und manchmal der Beginn von Suchmittelkonsum, allenfalls Psychopharmaka, erhöhen das Risiko von Karies und Erosionen, aber auch von anderen oralen Erkrankungen.
wenigen Orten erhalten auch Eltern von Kleinkindern die Möglichkeit für kostenlose zahnärztliche Untersuchungen. Erfahrungsgemäss werden solche Angebote von den am stärksten betroffenen Familien zu wenig genutzt.
Kariesrisiko in der Praxis beurteilen
Entsprechend wichtig sind die frühzeitige Identifizierung der Kinder mit erhöhtem Kariesrisiko, die Beratung ihrer Eltern und allenfalls eine Überweisung an den Zahnarzt durch die pädiatrische Praxis. Die Beratung sollte vor Durchbruch des ersten Zahns stattfinden. Eine Risikobeurteilung kann bereits nach Durchbruch der oberen Schneidezähne am Ende des ersten Lebensjahres oder im zweiten Lebensjahr erfolgen. Kasten 2 fasst die stärksten Indikatoren zur Beurteilung des Kariesrisikos bei Kleinkindern nach dem Durchbruch der ersten Zähne zusammen und wie man diese in der pädiatrischen Praxis mit einfachen Fragen respektive Aussagen und Befunden erheben kann. Je häufiger die Aussagen zustimmend beantwortet werden, desto höher ist das Kariesrisiko. Zur klinischen Beurteilung von Plaque an den oberen Schneidezähnen werden diese kurz und sorgfältig mit einem Gazetupfer trocken getupft. Um Karies in den Anfangsstadien sichtbar zu machen, wird die Plaque mit der Gaze abgestreift. In Abbildung 3 ist kreidig weisse Initialkaries und eine bräunlich, beginnende Karieskavität an den oberen Schneidezähnen bei einem 2-jährigen Kind zu sehen. Bereits vorhandene Karies ist der stärkste Indikator für ein hohes Kariesrisiko und ein Alarmzeichen (8–11). Die Überweisung an den Zahnarzt ist dringlich, um durch frühzeitige Intensivprophylaxe und nötigenfalls Behandlung weiteren Schäden vorzubeugen.
Schulalter und Adoleszenz
Ab dem Schulalter werden die Kinder regelmässig schulzahnärztlich untersucht. Die Untersuchung wird sehr unterschiedlich organisiert, zum Beispiel als Reihenuntersuchung mit der ganzen Schulklasse, in Schulzahnkliniken oder mit einem Gutschein und freier Zahnarztwahl. Damit ist aber eine gute zahnärztliche Versorgung längst nicht garantiert, denn Gutscheine werden nicht eingelöst und empfohlene Behandlungen nicht durchgeführt. Es betrifft in erster Linie Kinder aus benachteiligten Familien. Deshalb kann es wichtig sein, dass der Pädiater in
Zahnreinigung
Sobald der erste Milchzahn durchgebrochen ist, muss mit der Mundhygiene begonnen werden. Eine regelmässige Mundhygiene durch Eltern oder Bezugspersonen ist unverzichtbar für die Gesunderhaltung der Zähne, auch wenn dies in vielen Familien oft zu einer wahren Geduldsprobe wird. Die Eltern selbst sind ein Vorbild, indem sie ihre eigenen Zähne in Anwesenheit des Kindes reinigen. Zudem hilft es, wenn die täglichen Zahnreinigungen spielerisch geübt und zu einem Ritual werden, zum Beispiel mithilfe von Sprüchlein und Liedern. Festhalten der Kinder und Zähneputzen unter Geschrei und Gegenwehr müssen vermieden werden.
Abbildung 4: Die Zahnärztin zeigt den Eltern, wie sie dem Kleinkind die Zähne putzen können. Es liegt entspannt auf dem Schoss, hat Blickkontakt und Bewegungsfreiheit.
Ferner ist es wichtig, nach einer bestimmten Putzsystematik die Zähne zu reinigen, damit keine Zahnflächen vergessen werden. Am besten geht das Zähneputzen, wenn das Kind seinen Kopf abstützen kann und die Eltern Einblick in den Mund haben. Das kann liegend auf dem Wickeltisch, einem Kissen, am Boden oder in der elterlichen Armbeuge erfolgen. Nicht mehr ganz kleine Kinder können zwischen den zu einem Sitz geformten, überkreuzten elterlichen Unterschenkeln bequem mit dem Rücken zur Elternperson Platz nehmen und dieser den Kopf zuwenden. In Abbildung 4 zeigt die Zahnärztin den Eltern, wie sie ihrem Kind die Zähne putzen können.
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Abbildung 5: Empfehlungen der interuniversitären Studiengruppe für zahnmedizinische Prophylaxefragen (IUSP) für den Gebrauch von Fluoriden in der Schweiz
Die Kleinkinder sollen jedoch Gelegenheit haben, das Zähneputzen selbstständig zu üben. Das bereitet ihnen Spass und motiviert. Sie müssen dabei stets gehalten beziehungsweise überwacht werden. Ein Um- oder Herunterfallen mit der Zahnbürste im Mund kann zu schweren Verletzungen führen! Da ein Milchgebiss Lücken hat, ist es nicht erforderlich, zwischen den Zähnen zu putzen. Die weichen Borsten der Zahnbürsten dringen auch dort zum Teil ein, der Speichel umspült die Zähne in den Zwischenräumen, und es bleiben weniger Nahrungsreste haften. Elektrische Zahnbürsten sollten frühestens ab dem 3. Lebensjahr gebraucht werden. Das Kind sollte immer zuerst die manuelle Zahnputztechnik erlernen. Ein Kleinkind kann die Zähne nicht allein sauber putzen. Bis in das Schulalter hinein ist es wichtig, dass Eltern oder die Bezugspersonen die Zahnreinigung überwachen und nachputzen. Das Zähneputzen braucht einiges motorisches Geschick. Erst wenn ein Kind eine flüssige Handschrift hat, kann ihm das selbstständige Zähneputzen zugetraut werden.
Nach dem Essen nicht warten
Bezüglich der mechanischen Zahnreinigung sollte von der Empfehlung, nach dem Konsum säurehaltiger Substanzen mit dem Zähneputzen zu warten, Abstand genommen werden. Es entspricht zwar der Tatsache, dass durch Säure erweichter Zahnschmelz durch mechanische Kräfte leichter entfernt wird, aber nach neueren Untersuchungen ist selbst nach einer Dauer von Stunden bis Tagen keine relevante Wiedererhärtung (Remineralisation) des Zahnschmelzes erreichbar. Wartezeiten vor dem Zähneputzen sind also nicht von Nutzen, weil die Wiedererhärtung des Zahnschmelzes ein sehr, sehr langsamer Prozess ist. Zudem ist zu bedenken, dass nach wie vor Karies die Hauptursache von Zahnhartsubstanzverlust ist und deren Entstehung durch verzögerte Mundhygiene begünstigt wird, insbesondere da Speisen und Getränke zumeist beide Komponenten enthalten: Säuren und Zucker. Lediglich nach Erbrechen sollte von einer sofortigen Zahnreinigung in Form von Zähneputzen Abstand genommen und stattdessen der Mund mit Wasser oder mit einer Mundspülung gespült werden.
Welche Zahnbürste?
Die Auswahl einer geeigneten Zahnbürste ist eher zweitrangig, da die verwendete Zahnpasta und die beim Zähneputzen angewandte Kraft den grösseren Einfluss auf den Zahnhartsubstanzverlust haben. Heute wird eine weiche Zahnbürste empfohlen, um so das Zahnfleisch zu schützen. Zweifellos wichtig beim Zähneputzen sind ein geringer Anpressdruck, unabhängig ob eine manuelle Handzahnbürste oder eine elektrische Zahnbürste eingesetzt wird, und die Verwendung fluoridhaltiger, schwach abrasiver Zahnpasten. Abbildung 5 gibt eine Übersicht der Fluoridempfehlungen für die Schweiz, verfasst von der interuniversitären Studiengruppe für zahnmedizinische Prophylaxefragen. Es gibt immer wieder Eltern, die der Fluoridprophylaxe sehr kritisch gegenüberstehen; es dürfte Parallelen zu impfkritischen Eltern in der pädiatrischen Praxis geben.
Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen
Eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen oder deren medikamentöse Behandlungen können sich auf die orale Gesundheit auswirken. Beispiele sind Asthma, Diabetes, kardiovaskuläre Störungen, maligne Tumoren, Essstörungen, Zöliakie und Immundefekte, um nur einige wenige zu nennen. Folgen sind beispielsweise ein erhöhtes Karies- und Erosionsrisiko, Gingivitis und Parodontitis, Ulzerationen, Pilz- und Virusinfektionen, Zahnbildungsstörungen oder übermässige Zahnsteinbildung. Es ist wichtig, dass der Pädiater die Eltern frühzeitig bei Diagnosestellung einer chronischen Erkrankung auf die Problematik von Munderkrankungen aufmerksam macht und das Kind an den Zahnarzt überweist. Pädiater, weitere involvierte Spezialisten, Hausarzt und Zahnarzt müssen in diesen Fällen eng interdisziplinär zusammenarbeiten. Bei Kindern mit Behinderungen kann die Mundhygiene infolge motorischer, sensorischer oder kognitiver Einschränkungen stark erschwert sein. Medikamentöse Therapien, ein zu schwacher oder zu starker Muskeltonus, Dysphagien und ein langes Liegenbleiben der Nahrung im Mund erhöhen das Risiko für orale Erkrankungen und ungünstige Bedingungen, die sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken. Oft sind übermässige Zahnsteinbildung und entsprechend starke Gingivitis ein Problem, zumal damit Blutungen und Schmerzen verbunden sind. Bei schwer behinderten Kindern kann es äusserst schwierig sein, bei Anzeichen von Unwohlsein Zahnschmerzen richtig ein- oder auszuschliessen und sie zu lokalisieren. Der Nutzen zahnmedizinischer Untersuchungen und Eingriffe in Narkose oder unter Sedierung muss gut gegenüber den Risiken abgewogen werden. Auch die Kariesprophylaxe ist bei diesen Kindern oft sehr anspruchsvoll und erfordert seitens der Eltern und anderer Betreuungspersonen einen grossen Aufwand. Die Zusammenarbeit zwischen Eltern, Betreuenden und Fachleuten (z. B. Heilpädagogen, Ergotherapeuten, Logopäden, Ernährungsberatung) ist wichtig, um individuell den optimalen Weg zu finden. In erster Linie ist bei Kindern mit erschwerten Bedingungen auf eine möglichst zahngesunde, wenig kariogene Nahrung zu achten. Wenn Kinder wegen Schluck- und anderer Störungen auf verflüssigte, hochkalorische, oral verabreichte Nahrung angewiesen sind, ist ihr Karies-
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risiko besonders hoch. Hier sind regelmässig hochkonzentrierte Fluoridpräparate in der häuslichen sowie professionellen Anwendung indiziert, zum Beispiel Fluoridgelee oder Fluoridlacke in der zahnärztlichen Praxis und bei Jugendlichen die verschreibungspflichtige Zahnpasta mit 5000 ppm Fluorid für zu Hause. Für die tägliche Zahnpflege braucht es sowohl bei motorischen als auch bei kognitiven und hypersensorischen Einschränkungen oft Hilfsmittel. Wiederum ist die Abstützung des Kopfes wichtig, zum Beispiel im Rollstuhl mit Nackenstütze oder sitzend in der Sofaecke. Elektrische Zahnbürsten sind von Vorteil (breiter Griff, kleiner und weicher Bürstenkopf, dosierter Druck, einfache Handbewegung). Manche Kinder akzeptieren allerdings den unangenehmen Ton nicht, insbesondere bei Schallbürsten. Auch bei gewissen speziell designten Handzahnbürsten werden die Bewegungen vereinfacht (z. B. Superbrush®). Um ein Zubeissen während des Putzens zu verhindern, sind zum Beispiel Spatel und Beissringe aus Gummi oder Fingerlinge aus weichem Material eine Hilfe. Die Kinder müssen nach und nach an die benötigten Hilfsmittel, Gerüche und Geräusche gewöhnt werden.
Kinder- und Jugendzahnärzte
In der Schweiz gibt es keinen Fachzahnarzttitel für Kinder- und Jugendzahnmedizin. Im Fachgebiet speziell ausgebildete und erfahrene Zahnärzte erhalten von der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft (SSO) den privatrechtlichen Weiterbildungsausweis (WBA) in Kinderzahnmedizin. Für Patienten mit besonderen Bedürfnissen und speziellen Pathologien (sehr junge, chronisch kranke, behinderte, sozial benachteiligte, sehr kariesanfällige oder anderweitig vulnerable Kinder, bei dentoalveolären Traumata, Zahnbildungsstörungen usw.) ist die Überweisung an einen Zahnarzt mit Weiterbildungsausweis in Kinderzahnmedizin sinnvoll.
Fluoride schützen den Zahn
Ein wichtiger Pfeiler in der Kariesprophylaxe ist die Verwendung einer fluoridierten Zahnpasta. Da Kinder Zahnpasta gern schlucken, sollten möglichst biokompatible Kinderzahnpasten mit Fluorid verwendet werden, und sie sollten möglichst nicht gesüsst sein. Die Fluoridkonzentration ist auf der Tube aufgedruckt und wird in ppm (parts per million) angegeben. Ab Durchbruch des ersten Zahns: 2-mal täglich 2 Minuten Zähneputzen mit einer erbsengrossen Menge Zahnpasta mit 500 ppm Fluorid. Ab zirka 5 bis 6 Jahren wird eine fluoridhaltige Erwachsenenzahnpasta oder Juniorzahnpasta verwendet. Besteht ein erhöhtes Kariesrisiko, kann schon früher auf eine Erwachsenen- oder Juniorzahnpasta gewechselt werden oder es wird eine fluoridhaltige Mundspülung empfohlen. Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die Fluoridierung des Speisesalzes. Dem im Handel erhältlichen Speisesalz in der grünen Verpackung sind neben Jodid auch 250 mg Fluorid pro Kilogramm zugesetzt. Wird das Essen mit diesem Salz gekocht, ist der Fluoridgehalt im Speichel nach dem Essen erhöht und hat so eine schützende Wirkung auf die Zähne. Fluoride sind Salze, gehören zu den Spurenelementen und sind wichtige Bestandteile von Knochen und Zähnen. Natürlicherweise findet man sie in der Natur zum Beispiel im Trinkwasser, im Schwarztee und Fisch.
Wirkungsweisen von Fluorid: Eingelagertes Fluorid macht den Zahnschmelz etwas weniger säurelöslich und schützt damit vor Karies. Dieser Mechanismus ist jedoch von untergeordneter Bedeutung. Der beste Schutz bietet das im Speichel oder in der jungen Plaque gelöste Fluorid. Dieses hemmt die Demineralisation (Entkalkung) von Schmelz und Dentin und fördert die Einlagerung von Ionen (Remineralisation). Sehr geringe Mengen an gelösten Fluoriden in der Zahnumgebung hemmen die Demineralisation und fördern die Remineralisation. Die frei verfügbaren Fluoridionen in der den Zahn umgebenden Lösung spielen also eine weitaus wichtigere Rolle in der Kariesprävention als die im Schmelzkristall eingebauten Fluoride. Diese geringen Fluoridkonzentrationen werden auch nach Verzehr von mit fluoridiertem Kochsalz zubereiteten Speisen erreicht, erhöht sich doch der Fluoridgehalt im Speichel signifikant während etwa 30 Minuten. Die wichtigste Rolle der Fluoride ist also, die «Kariesbalance» zwischen Angriff und Abwehr, Verlust und Reparatur zugunsten der Intaktheit des Zahns zu verschieben. Deshalb ist entscheidend, dass die Fluoridzufuhr auf dem für die Kariesprophylaxe erforderlichen Niveau permanent erfolgt. Schon kleine Fluoridmengen im Speichel genügen für diesen Mechanismus. Es besteht kein wesentlicher Unterschied in der Wirkung zwischen den verschiedenen Fluoriden. Aus diesen Gründen ist es wichtig, die Zähne mehrmals mit fluoridhaltiger Zahnpasta zu reinigen und Speisen mit fluoridhaltigem Salz zuzubereiten. Die Dynamik des Auflösungsprozesses hängt einerseits von der Zusammensetzung der Schmelz-, Dentin- und Zementkristalle ab, andererseits spielt die bakterielle Zusammensetzung der Plaque eine wichtige Rolle. Das erklärt die verschiedenen kritischen pH-Werte, ab denen der Auflösungsprozess beginnt (Schmelz: kritischer pHWert 5,5–5,7; Dentin: kritischer pH-Wert 6,5–6,7). Es erklärt auch zum Teil die individuellen Variationen in der Kariesaktivität, denn der Kalzium-, der Phosphat- und der Fluoridgehalt im Speichel und in der Plaque sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Die Frequenz der Zuckereinnahme und fehlende Mundhygiene beeinflussen allerdings diese Faktoren und spielen eine noch wichtigere Rolle.
Tabelle:
Erosives Potenzial* verschiedener Getränke und Lebensmittel
Produkte Mineralwasser mit/ohne Kohlensäure Mineralwasser mit Zitrone Softdrinks, Red Bull, Energy Drinks, viele Sportgetränke Apfelsaft, Multivitaminsaft, Grapefruit, Kiwi, Orangensaft Orangensaft mit Kalzium Joghurts (alle), Sauermilch Ice Tea (alle) Candy-Sprays, Trink-Bärli, Brain-Licker, Haribo-Pommes Smoothies, Innocent-Möhrchen-Prinz, Karottensaft Biotta
Erosives Potenzial nein ja ja ja nein nein ja ja ja
*deutliche Erweichung (Erosion) der Zahnoberfläche nach 2 Minuten Immersion im entsprechenden Produkt
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Abbildung 6: Dentale Erosionen (bzw. erosiver Zahnhartsubstanzverlust) an Milchzähnen. Deutlich zu erkennen sind die Füllungen, die höher sind als die benachbarte Zahnhartsubstanz, weil Letztere nach dem Legen der Füllung erodierte.
Abbildung 7: Dentale Erosionen (bzw. erosiver Zahnhartsubstanzverlust) an Frontzähnen einer jungen Patientin, die an Bulimie litt. Breitflächiger Verlust von Schmelz, der zum Teil an den Schneidekanten abgebrochen ist. Man beachte die Verfärbungen an den oberen linken Schneidezähnen, hervorgerufen durch erosiven Zahnhartsubstanzverlust bis ins Dentin.
Es ist heute gut nachgewiesen, dass der Kariesrückgang in den Industrieländern während der letzten Jahrzehnte auf der Anwendung von Fluoriden beruht, hauptsächlich durch lokale Fluoridapplikation und hier primär durch Verwendung von fluoridhaltigen Zahnpasten sowie durch den Gebrauch des fluoridierten Kochsalzes. Kariöser Angriff und die Reparatur kleiner Schäden: Bei einem neutralen pH-Wert von 7 reichen relativ geringe Konzentrationen von Kalzium- und Phosphationen in der Zahnumgebung aus, um die Zahnhartsubstanz stabil zu halten. Erniedrigt sich der pH-Wert aufgrund der Säureproduktion des Biofilms (Plaque), sind höhere Konzentrationen erforderlich, um die Auflösung zu verhindern. Bei einem pH-Wert in der Plaque von ungefähr 5,5 bis 5,7 beginnt eine Untersättigung des Schmelzes, das heisst, die Kalzium- und die Phosphationenkonzentration in der Plaqueflüssigkeit reichen nicht aus, um den Schmelz in einem stabilen Gleichgewichtszustand zu halten, was zur Auflösung von Schmelz führt. Hingegen bleiben Fluoridhydroxylapatit (FHAP) und Fluoridapatit x(FAP) auch noch bei niedrigeren pH-Werten stabil; hier beginnt die Untersättigung und die daraus folgende Auflösung bei einem tieferen pH-Wert (ca. 4,7). Bei Erhöhung des pH-Werts wird sich zuerst wieder bezüglich FHAP eine Übersättigung einstellen, was bedeutet, dass
FHAP und FAP bei der Remineralisation wieder gebildet werden, sofern der Speichel gelöstes Fluorid enthält. Der gleiche Mechanismus findet im Dentin statt, aber bereits bei höheren pH-Werten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass FAHP aufgrund seiner niedrigen Löslichkeit im leicht sauren pH-Bereich schneller wieder gebildet wird als die anderen Kalzium-Phosphat-Phasen des Schmelzes, was bedeutet, dass Fluorid die Remineralisation beschleunigt und fördert. Demineralisierte Kristalle dienen bei vorhandenem Fluorid als Kern für die Anlagerung von neuem Mineral. Fluorid beschleunigt, wie schon dargelegt, diesen Vorgang, weil bei einem tieferen pH-Wert eine Remineralisation möglich ist.
Dentale Erosionen
Im Gegensatz zur Karies sind bei Erosionen keine Bakterien beteiligt. Es gibt bei Erosionen nie Kreideflecken (white spot lesions). Diese sind typisch für beginnende Karies. Die Abbildungen 6 und 7 zeigen typische Bilder von Erosionen. Hierbei schädigen Säuren aus der Nahrung oder aus dem Magen die Zähne direkt. Die Einwirkung der Säure ist eine Grundvoraussetzung für die Entstehung von Erosionen. Säurequellen sind durch die Nahrung zugeführte Säuren sowie Magensäure (Aufstossen, Erbrechen). Die häufigsten exogenen Säurequellen sind erosive Lebensmittel, Getränke oder Genussmittel. Diese dentalen Erosionen führen zunächst zu einer Reduktion der Oberflächenhärte, verbunden mit einer erhöhten Anfälligkeit für mechanische Einwirkungen. Die erweichte Oberfläche kann dann durch mechanische Einflüsse (Zahnreinigung, Wangen- und Zungenkontakt) abgetragen werden. Nicht alle sauren Produkte verursachen Erosionen. Joghurt oder Sauermilch sind zwar sauer (pH-Wert 4), verursachen aber aufgrund des hohen Kalziumgehalts keine dentalen Erosionen. Die Zahnhartsubstanz verliert in diesem Fall kein Kalzium, weil es in seiner Umgebung genügend Kalzium hat. Die Tabelle gibt eine Übersicht des erosiven Potenzials einiger Produkte, die von Kindern und Jugendlichen häufig konsumiert werden.
Korrespondenzadressen: Prof. em. Dr. Adrian Lussi Zahnmedizinische Kliniken der Universität Bern 3010 Bern E-Mail: adrian.lussi@zmk.unibe.ch
Dr. Teresa Leisebach Wisacherweg 4 8182 Hochfelden E-Mail: tlbach@hispeed.ch
Die Autoren deklarieren, dass keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
Die Abbildungen wurden von den Autoren zur Verfügung gestellt, mit besonderem Dank an Hubertus van Waes, Zürich, für die Überlassung der Abbildung 3.
Literatur unter www.paediatrie.ch
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