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Soziale Aspekte in der Kinderund Jugendzahnmedizin
Aus der vor mehr als 100 Jahren gegründeten Basler Schulzahnklinik ist ein Zentrum für Kinder- und Jugendzahnmedizin geworden. Wir sprachen mit der Vorsteherin der Klinik für Allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB) über die Bedeutung der sozialen Zahnmedizin und die Frage, wann man Kinder zum Zahnarzt schicken sollte.
PÄDIATRIE: Frau Dr. Haschemi, wie viele universitäre Zentren für Zahnmedizin gibt es in der Schweiz? Dr. med. dent. Asin Ahmad Haschemi: In der Schweiz gibt es nur ein universitäres Zentrum für Zahnmedizin, das ist das UZB in Basel, aber es gibt universitäre Zahnkliniken in Zürich, Bern und Genf. Die zahnmedizinischen Schwerpunkte an den vier Standorten unterscheiden sich. In Basel gibt es neben der Forschung, der Digitalisierung und allen Disziplinen der Erwachsenenzahnmedizin die historisch gewachsenen Schwerpunkte Public Health, soziale Zahnmedizin sowie Kinderund Jugendzahnmedizin.
Welche Aufgaben erfüllt das UZB speziell für Kinder und Jugendliche? Haschemi: Da muss ich ein wenig ausholen. Letztes Jahr begingen wir das 100-Jahr-Jubiläum der Schulzahnklinik Basel. 1921 gründeten die Basler Zahnärzte eine staatlich subventionierte Zahnklinik für Kinder und Jugendliche, denn die Zahngesundheit der Basler Kinder war katastrophal. Wie in ganz Europa waren auch in Basel die wirtschaftlichen Folgen von Weltkrieg und Pandemie noch allgegenwärtig, und man hatte den Wert von gesundheitlicher Prävention für die Gesellschaft erkannt. Auch Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen sollten zahnmedizinisch versorgt werden. Es kam zur Gründung der Schulzahnklinik, und aus der Schulzahnklinik heraus wurde Basel dann mehr und mehr zu einem Vorreiter in der Kinder- und Jugendzahnmedizin. In Basel gab es schon früh systematische Fluoridierungsmassnahmen, wie zum Beispiel die Trinkwasserfluoridierung. Wir haben nach wie vor den kantonalen Auftrag, die Kinder in Basel zahnmedizinisch zu betreuen. Darüber hinaus ist eine spezialisierte Kinderzahnmedizin entstanden, welche zum Beispiel in enger Zusammenarbeit mit dem UKBB die Betreuung von Kindern mit einer onkologischen oder kardiologischen Grunderkrankung, mit Immunsuppression oder mit Krankheitsbildern wie der Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation umfasst. Zurzeit gleisen wir ein neues Projekt auf, bei dem es um spezifische Kommunikationsmethoden und Interventionstools für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen
geht. Sie bekommen leider oft keine gute zahnmedizinische Behandlung, weil nicht wenige Zahnärzte und Kieferorthopäden davor zurückschrecken oder einfach die Praxisstrukturen nicht zufriedenstellend sind. Zum Beispiel haben Kinder mit Trisomie 21 häufig eine grosse Zunge, was die zahnmedizinische Behandlung erschwert, oder einen vorstehenden Unterkiefer. Es ist doch verrückt, dass diese Kinder aus den oben genannten Gründen nicht behandelt werden. Zudem fehlen Zeit oder das Wissen, individuell passende Kommunikationsmöglichkeiten zu finden. Möglicherweise ist es dem Kind selbst oder seinen Eltern zu viel, das ist eine andere Sachlage, aber beispielsweise die Kinderaugenärzte schaffen es ja auch, diese Kinder adäquat zu behandeln. Ich glaube, es gibt fast kein Kind mehr mit Trisomie 21 und Sehschwäche, das nicht behandelt wird. Im UZB geht es also um Zahnmedizin von der Prophylaxe bis zur Spezialisierung für alle Kinder und Jugendliche, unabhängig vom gesundheitlichen oder sozialen Status.
Was hat man sich unter sozialer Zahnmedizin vorzustellen? Haschemi: Ich möchte hier die Familie als soziale Gruppe verstanden wissen. Welche Kinder haben häufiger Karies? Welche Kinder haben einen erhöhten Behandlungsbedarf? In der Relation gesehen sind das viel zu oft Kinder und Jugendliche, die aus kinderreichen Familien kommen, die vielleicht aus bildungsfernen Familien stammen oder aus Familien mit Migrationshintergrund – ganz allgemein aus Familien, in denen es viele soziale und ökonomische Herausforderungen gibt. Für diese Familien ist die Zahngesundheit in diesem Zusammenhang eine eher untergeordnete Herausforderung. Hier kommen wir in den Bereich der sozialen Medizin, ähnlich wie in der Pädiatrie an sich. Ich kann kein Kind erfolgreich behandeln, egal in welchem Fach, wenn ich nicht die ganze familiäre Situation im Blick habe. Soziale Medizin heisst also, es geht nicht nur um das Individuum Kind, sondern um die ganze Gruppe. Nicht nur die medizinische Anamnese ist wichtig, sondern auch die Familienanamnese. Das konnte in der Vergangenheit mit vielen Studien belegt werden: Kinder aus kinderreichen Familien mit wenig Einkommen sind häufiger mangelernährt oder falsch
Dr. med. dent. Asin Ahmad Haschemi
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ernährt, sie sind oft übergewichtig, machen keinen Sport, lesen nicht, und sie erreichen viel zu oft keinen höheren Schulabschluss. Mich bewegt es sehr, wenn Kinder, deren zahnmedizinische Behandlung subventioniert wird, keine adäquate Behandlung bekommen sollen. Soziale Medizin und soziale Zahnmedizin bedeutet ein Trotz und Wider gegen systemimmanente Gegebenheiten.
Wann sollten Pädiater ein Kind ans UZB schicken? Haschemi: Zunächst einmal gibt es in Basel ein Gutscheinsystem für alle Kinder. Die Gutscheine werden über die Kinderärztinnen und -ärzte in Basel-Stadt und Basel-Land verteilt. Der Gutschein gilt für 3 kostenfreie Untersuchungen in den ersten Lebensjahren, bevor das Kind dann mit 4 Jahren in den Kindergarten und damit in die strukturierte Schulzahnpflege kommt. Die Kinderärzte geben den Gutschein mit der Empfehlung ab, eine erste Zahnkontrolle und Beratung machen zu lassen, um das Kind in diesem Umfeld vorzustellen. Wenn die Umstellung auf Beikost ansteht und die ersten Zähnchen kommen, etwa im Alter von 5 bis 6 Monaten, ist ein guter Zeitpunkt, um die Eltern dafür zu sensibilisieren und ihnen zu empfehlen, im nächsten Jahr um diese Zeit den Gutschein einzulösen. Solche Gutscheinsysteme gibt es nicht nur in Basel, sondern überall in der Schweiz. Die Gutscheine funktionieren allerdings nicht von allein. Letztes Jahr war die Klinikleitendenkonferenz der Schweizer Schulzahnkliniken in Basel zu Gast, und einige Klinikleiterinnen berichteten, dass die Gutscheine kaum eingelöst würden. Es ist also sehr wichtig, dass die Pädiater die Gutscheine auch entsprechend promoten. Eine Überweisung zum Kinderzahnarzt oder ans UZB ist ansonsten bei allen Auffälligkeiten sinnvoll, beispielsweise wenn das Kind Flecken auf den Zähnen hat oder wenn die Eltern berichten, dass das Kind nicht essen möchte und es vielleicht Zahnschmerzen hat – und bei jedem Zahnunfall. Die Zuweisung ist besonders dann angezeigt, wenn die Eltern selbst oder ältere Geschwister Karies oder Zahnabszesse haben. Hier sollte man immer hellhörig werden.
Wie findet man spezielle Kinderzahnärzte in anderen Regionen der Schweiz? Haschemi: Es gibt in allen Kantonen irgendeine Form von Schulzahnpflege, die meistens erst ab dem Kindergartenalter beginnt. Auf der Homepage der Schweizerischen Vereinigung für Kinderzahnmedizin findet man Zahnärztinnen und Zahnärzte, die sich auf Kinderzahnmedizin spezialisiert haben beziehungsweise diese neben der Zahnmedizin für Erwachsene in ihrer Praxis anbieten (www.kinderzahn.ch). In den grossen Städten gibt es zudem reine Kinderzahnmedizinpraxen.
Welche Forschungsprojekte laufen am UZB für Kinder und Jugendliche? Haschemi: Die Möglichkeit zur kliniknahen und für Patienten und Patientinnen wirklich relevanten Forschung war einer der Gründe, die drei Kliniken Universitätszahnklinik, Volks- und Schulzahnklinik in Basel zum UZB zu vereinen. So gewinnen wir aus den jährlichen Schuluntersuchungen Befunde von rund 15 000 Kindern pro Jahr. Das ist ein grosser Datenschatz, den wir bei absoluter Gewährleistung des Datenschutzes zugunsten von Prä-
ventionsmethoden aus der Public-Health-Perspektive epidemiologisch auswerten. Unsere weiteren Forschungsprojekte sind breit gefächert. So ist ein Forschungsbereich den Zahnstellungsanomalien gewidmet, zum Beispiel im Rahmen unserer Nuggi-Studie. In einem Forschungsprojekt der Kieferorthopädie geht es um die physiognomische Entwicklung. Mit dem UKBB zusammen konnte die Bedeutung von Zytokinen im Speichel bei Kindern mit onkologischer Grunderkrankung untersucht werden. Ein anderes Projekt befasst sich mit der Frage, ob körpereigene kommensale, also sogenannte gute Bakterien der Mundhöhle zu einer Hemmung des kariogenen Streptococcus mutans führen, wenn sie als Probiotika im Überschuss zugeführt werden.
Sie erwähnten gerade Zahnfehlstellungen. Ich habe den Eindruck, dass heute fast jeder Jugendliche eine Zahnspange trägt. Stimmt das? Haschemi: Sicher trägt sie nicht jeder Jugendliche, aber jeder Jugendliche beziehungsweise jedes Kind mit einer funktionellen Zahn- oder Kieferstellungsanomalie hat die Möglichkeit, diese beheben zu lassen. Das wird in bestimmten Fällen von der Krankenkasse oder der IV bezahlt. Medizinisch notwendige Korrekturen werden und wurden also schon immer gemacht. Nun zu Ihrem Eindruck: Eine Entwicklung, die wir beobachten, ist der Stellenwert der Ästhetik, die insbesondere in den sozialen Medien sehr intensiv vermarktet wird. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Bereits in der Schwangerschaft – offenbar aufgrund meines Klickverhaltens in Bezug auf Babyausstattung – wurde ich in den sozialen Medien mit Ratschlägen, Tipps und Werbung überflutet, die dafür sorgen sollten, dass mein neugeborenes Kind zum Beispiel keinen flachen Schädel bekommt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das ein Problem sein könnte, der Algorithmus hingegen schon (lacht). Und so ähnlich ist das bei den Zähnen. Wir bewegen uns hier nicht mehr im medizinischen, sondern im LifestyleBereich. Bei Instagram wird das Hollywoodlächeln beworben, aber normale, gesunde Zähne sind sicher gesünder als das Gebiss einer Zwanzigjährigen, die sich sämtliche Zähne in der Farbe California White verblenden oder überkronen lässt. Ich bin der Ansicht, dass wir im universitären Bereich hier einen Gegenpol darstellen müssen. Ein Kind ist schon an sich schön und muss nicht perfektioniert werden. Es muss auch nicht für krank erklärt werden, wenn es nach irgendwelchen Massstäben nicht perfekt ist. Wer gibt überhaupt vor, was perfekt bedeutet? Aber es ist mir bewusst, dass sich diese Frage längst nicht alle stellen. Es gibt mehr und mehr diagnostische Methoden, um vermeintliche Zahnfehlstellungen aufzuzeigen, und es gibt einfachere Behandlungsmöglichkeiten, die augenscheinlich und kurzfristig weniger kosten. Ein perfektes Gebiss ist ein Statussymbol, das alle haben möchten – welche Schäden der Wunsch nach Perfektion mittel- und langfristig mit sich bringt, wird nicht bedacht.
Frau Dr. Haschemi, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview wurde von Dr. Renate Bonifer geführt.
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