Transkript
Schwerpunkt
«Ich wollte schon immer ein Bub sein!»
Schon in früher Kindheit ist Daniel* klar, dass er ein Bub ist, geboren im Körper eines Mädchens. Die Probleme beginnen mit der Pubertät. Im Interview erzählt der 17-Jährige, wie er sich heute fühlt, mit Hormontherapie und nach einer Brustoperation, und wie wichtig für ihn das Thema «Trans» im Alltag ist.
Daniel, wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, dass Sie lieber ein Bub wären? Daniel: Ich kenne viele Transjugendliche, die das erst im Lauf der Jahre bemerken, aber seit ich mich erinnern kann, war da schon immer der ganz klare Gedanke: Ich will ein Bub sein! Es war nicht irgendein merkwürdiges Gefühl, dass etwas mit mir nicht stimmt, sondern ich wusste schon immer ganz klar: Ich will ein Bub sein! Erst sehr viel später haben auch meine Eltern gecheckt, dass ich einer bin.
Wann haben es Ihre Eltern akzeptiert?
Daniel: So richtig akzeptiert haben sie es erst recht spät,
als es mit den Beratungsterminen und der Hormonthera-
pie losging. Für Eltern ist das enorm schwierig, ich will
mir gar nicht vorstellen, wie sie sich dabei fühlen. Im
Nachhinein muss ich sagen, dass in der Familie wohl alle
gewusst haben, dass es darauf hinausläuft, aber sie ha-
ben sich nie getraut, etwas zu sagen.
Ich hatte eine megaschöne Kindheit. Als ich noch ein
Kind war, haben mich meine Eltern einfach machen las-
sen. Wenn ich Bubenkleidung tragen wollte, haben sie
mir Bubenkleidung gekauft. Sie haben nie etwas gesagt.
Ich habe zu Weihnachten das Spielzeug bekommen, das
ich wollte, und
«Die Pubertät war ganz schlimm, nicht das Übliche,
das war grausam.»
was man einem
Mädchen schenkt.
Und darüber, dass ich mit meinen Kollegen keine Mäd-
chenspiele gespielt habe, wurde auch nicht geredet.
Wenn wir zum Beispiel coole Filme nachspielten, tauchte
ich immer in männliche Rollen ein. Ich lebte wie ein Bub,
und so war ich für mich immer ein Bub – bis zur Pubertät.
*Der Name des Interviewpartners wurde geändert.
Wie haben Sie die Pubertät erlebt? Daniel: Die Pubertät war ganz schlimm, das war grausam. Pubertät mit diesem Thema wünsche ich niemandem. Du merkst, wie sich dein Körper verändert, und dir wird bewusst, dass er sich so verändert, wie es nicht sein sollte. Damit als 10- oder 11-Jähriger klarzukommen, ist ganz schwierig. Als meine Brüste anfingen zu wachsen, habe ich sie heimlich mit Frischhaltefolie abgebunden, jeden Tag, ob Sommer oder Winter. Ich wollte nicht, dass man sie sieht.
Ungefähr zu dieser Zeit war die Sexualaufklärung in der Primarschule. Die Lehrerin hat uns nicht nur aufgeklärt, sondern auch über das ganze Trans-Zeugs gesprochen. Sie hat mir die Augen geöffnet, denn ich hatte vorher gar nicht gewusst, dass es das gibt. Sie hat nicht gesagt, dass ich trans bin, aber sie hat mir geraten, dass ich mir das vielleicht einmal genauer anschauen und zu einer Beratungsstelle gehen sollte. Meine Eltern waren megaskeptisch und wollten das eigentlich nicht. Aber irgendwann, auch wegen meiner psychischen Probleme, haben sie dann doch Ja gesagt. Allerdings fanden sie die Fachstelle, welche die Lehrerin mir genannt hatte, irgendwie unseriös. Sie haben sich deshalb selbst umgeschaut, und wir sind dann zu einer Beratung im Kinderspital gegangen.
Wie ging es dann weiter? Daniel: Danach hatte ich etliche Termine beim Psychologen. Ich war fast jeden Monat einmal im Spital, habe reden und immer wieder dies und jenes erklären müssen. Nur ein Problem wurde relativ rasch gelöst: Man sagte mir, dass es spezielle Shirts gibt, die sehr eng sind, mit denen kann man die Brüste abbinden. Bis ich dann aber endlich operiert wurde, hat es noch sehr lang gedauert. Mit 13 habe ich Hormonblocker bekommen. Mein Outing hatte ich ein Jahr danach, mit 14. Ich hätte mein Outing lieber schon ein halbes Jahr früher gehabt, aber meine Eltern waren damals noch nicht so weit. Einen Tag nach meinem Outing bekam ich meine erste Testosteronspritze. Dafür habe ich gekämpft, ich wollte das unbedingt haben. Ein halbes Jahr später hatte ich meine Operation an der Brust. Auf die Geschlechtsoperation muss ich jetzt noch ein Jahr warten, weil man sie erst mit 18 machen darf. Für mich ist ganz klar, dass meine inneren weiblichen Organe entfernt werden sollen.
Sie sagten vorhin, dass Sie jeden Monat beim Psychologen waren. Haben Ihnen diese Gespräche geholfen? Daniel: Ich bin nicht gern zu den Psychologen gegangen. Auch nicht zu den Ärzten, denn ob es nun Ärzte oder Psychologen sind, es bedeutet einfach immer wieder dasselbe: Du musst streiten, du musst dich durchkämpfen, du musst dich immer wieder erklären. Mit all den Ge-
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danken, die du hast, willst du das einfach irgendwann nicht mehr. Ich habe mit vielen Psychologen gesprochen, aber vielleicht hat man einfach nur nie den richtigen für mich gefunden, oder vielleicht bin ich nicht der Typ für so etwas.
Wie haben Ihre Kollegen und Mitschüler auf Ihr Outing reagiert? Daniel: Ich hatte in der Primarschule zu allen immer ein gutes Verhältnis. Man hatte mich gern, so wie ich war, nicht als Mädchen. Aber in der Pubertät veränderte sich das. Ich habe dann einem Kollegen gesagt, dass ich ein Bub werden will, auch als Erklärung für meine Depressionen. Als meine Kollegen erfahren haben, dass ich ein Bub werden will, waren sie schockiert. Für sie war ich sowieso nie ein richtiges Mädchen, aber dass ich tatsächlich ein Bub werden wollte, das wollten sie einfach nicht wahrhaben. Für Menschen, die dich das ganze Leben lang kennen, ist es viel schwieriger, mit so etwas klarzukommen als für Menschen, die du kennenlernst, wenn du schon weiter bist. Ich kam dann in die Oberschule, in eine neue Klasse, wo ich nur Einzelne von früher kannte. Nach meinem Outing sind nur noch zwei, drei Kollegen übrig geblieben, der Rest hat sich mir gegenüber respektlos verhalten.
Haben Sie Ihren Entscheid je bereut, oder kennen
Sie andere Transjugendliche, die ihren Entscheid
bereuen?
Daniel: Ich habe das nie bereut, und ich kenne nieman-
den, der es bereut hätte.
Wenn ich könnte, würde ich mein früheres Leben lö-
schen. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, aber das
Thema hat so vieles
«Die Menschen sollen nicht einen versaut. Das ist ein-
Transgender kennenlernen,
fach so. Für mich
sondern den Daniel sollen sie
gibt es den Men-
kennenlernen!»
schen, der ich frü-
her war, nicht
mehr. Das bin nicht ich gewesen. Seit dem Outing und
der Operation bin ich im Leben angekommen, so wie ich
es mir gewünscht habe. Vorher habe ich nicht gelebt. Das
war nicht ich. Ich war unglücklich, ich war depressiv, ich
hatte psychische Störungen – und erst jetzt, als es endlich
so ist, wie es schon immer sein sollte, bin ich im Leben
angekommen. Ich habe so ein Glück gehabt. Ich konnte
mir gar nicht vorstellen, dass man so glücklich sein kann,
wie ich es jetzt bin. Das ist schön, und es ist eine Bestä-
tigung, dass es richtig ist, was ich mache.
In den Medien scheint aber recht oft die Rede davon zu sein, dass Betroffene ihren Entscheid später bereuen. Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören? Daniel: Ich habe nicht das Gefühl, dass es eine Welle von Transjugendlichen gibt, die es bereuen. Es mag aber vor allem für Aussenstehende eine Art Glücksspiel sein. Die einen sagen, ein 12-Jähriger kann nicht entscheiden, ob die Hormonspritze gegeben wird oder nicht. Die anderen
sagen, ein 12-Jähriger kann das entscheiden. Wenn das Kind später irgendetwas bereut, machen sich die Eltern extreme Vorwürfe. Viele sagen, der Wunsch, das andere Geschlecht zu haben, wäre bei Kindern nur eine Phase, die von selbst wieder verschwindet. Das stimmt, es gibt Leute, die wirklich nur so eine Phase haben, die dann aber auch nicht sofort eine Operation wollen und unsicher sind. Ich persönlich bin aber davon überzeugt, dass man selbst für sich ganz genau weiss, ob es eine Phase ist oder nicht! Wenn man mich mit 6 Jahren gefragt hätte, hätte ich das auch schon gewusst. Ich habe nur nicht gewusst, was es genau heisst – da sehe ich eher das Problem.
Glauben Sie, dass es einfacher ist, von einem Mädchen zu einem Mann zu werden als umgekehrt? Daniel: Für mich macht das keinen Unterschied. Es ist für beide gleich schwierig. Aber nach meiner Erfahrung sind Leute wie ich in der Gesellschaft beliebter als ein Mann, der zur Frau wird.
Welche Rolle spielt Ihr Genderwechsel in Ihrem Alltag? Daniel: Das Thema ist jeden Tag präsent. Ich bin einer von den Transjugendlichen, die grossen Wert darauf legen, so männlich wie möglich zu sein. Es gibt einfach noch zu viele Dinge, an die ich immer denken muss. Nur ein Beispiel: Im öffentlichen WC bist du derjenige, der nicht ans Pissoir gehen kann. Es sind diese kleinen Sachen, die andere für selbstverständlich halten, für dich aber ein Problem sind. Du willst halt auch normal sein. Mein Chef weiss Bescheid, und er geht super damit um. Meinen direkten Kollegen habe ich es erst vor zwei Wochen gesagt. Sie haben nichts davon geahnt. Ich finde es auch megawichtig, dass das Bild, das die Gesellschaft von einem Transgender hat, weg muss. Wenn von einem Menschen die Rede ist, der trans ist, denkt jeder, der sei so ähnlich wie Conchita Wurst oder andere Prominente. Aber das ist ein falsches Bild. Es gibt viele, die gar nicht wissen, dass es Leute wie mich gibt: Wenn du mich auf der Strasse triffst, würdest du im Leben nicht daran denken, dass ich so einer bin. Und das will ich eigentlich auch so ein bisschen erreichen. Wenn ich jemanden kennenlerne, warte ich sehr, sehr lange, bis ich es ihm sage. Die Menschen sollen nicht einen Transgender kennenlernen, sondern den Daniel sollen sie kennenlernen! Wenn ich es ihnen dann gesagt habe, ist es ihre Entscheidung, was sie machen. Nach meiner Erfahrung haben die meisten damit überhaupt kein Problem. Sie kennen den Daniel, und dass er trans ist, ist ihnen egal. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn du jemanden kennenlernst und gleich sagst: «Ich bin trans.» Dann lernt dich die Person mit dem Gedanken kennen, du bist trans, und nicht mit dem Gedanken «das ist ein normaler Bub wie ich auch».
Das Interview wurde von Dr. Renate Bonifer im Dezember 2021 geführt.
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