Transkript
Schwerpunkt
Was, wann und für wen?
Indikationen und Verordnungen von Rehabilitationsmassnahmen
Bei der Betreuung von Kindern mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, wie zum Beispiel Zerebralparese (CP) oder zystischer Fibrose (CF), sind in der kinder- und jugendärztlichen Praxis Therapieverordnungen zuhanden der verschiedenen Therapiestellen auszufertigen. Wir versuchen, in diesem Artikel einen Überblick über die verschiedenen Therapien und Indikationen zu geben sowie diese anhand von Fallvignetten in einen praktischen Kontext zu stellen.
Von Andreas Meyer-Heim und Thomas Spindler
Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt auf der konkreten Indikationsstellung für Rehabilitationstherapien im ambulanten Setting, aber auch Überlegungen für die Zuweisung zu einer stationären Rehabilitation werden erläutert. Dem Umfang der Thematik geschuldet, kann kein Anspruch auf Vollständigkeit bestehen. Der Indikationsstellung für die Therapien hat eine fundierte Diagnostik und Analyse der Situation vorauszugehen. Diese Abklärungen umfassen neben den medizinischen Befunden die Entwicklung von Motorik, Sprache und Kognition sowie die sozialpädiatrischen Bereiche. Zusätzlich wichtig ist das Erheben der familiären und lokalen Ressourcen in Bezug auf die Planung der Interventionen.
Zielsetzung der Rehabilitation
Der Einbezug der Patienten und ihrer Eltern ist bei der Festlegung der Zielsetzung unabdingbar. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Abbildung 1) und darauf basierende Instrumente wie zum Beispiel die Canadian Occupational Performance Measure (COPM) helfen, für das Kind und die Familie die
wirklich relevanten Ziele in einem umfassenden Kontext festzulegen. Das erhöht die Motivation, diese Ziele auch zu erreichen (1). Heute helfen uns – insbesondere im Bereich der neurologischen Rehabilitation – funktionelle Einteilungen wie das Gross Motor Function Classification System (GMFCS) (siehe Tabelle 1) und entsprechende Assessments, den Förderungsbedarf der Kinder und Jugendlichen besser zu umschreiben und letztlich den Therapiebedarf zu erfassen (2). Solche Skalen sind aber noch nicht für alle pädiatrischen Fachgebiete evaluiert und anwendbar. Die kinder- und jugendärztliche Befunderhebung spielt weiterhin eine wichtige Rolle.
Evidenzbasierte Therapien?
Die Zeit der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien ist ebenso wertvoll wie die der Therapeuten und der Kinderund Jugendärzte. Die Therapien müssen nutzbringend sein und auf Evidenz basieren. Es gibt zunehmend Metaanalysen, welche uns hier unterstützen können. Hierzu verweisen wir insbesondere auf die wertvolle Arbeit von Ilona Novak (6) mit einem Ampelsystem zum Evidenzniveau bestimmter Therapien.
Gesundheitsproblem
(Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Abbildung 1: Diese Darstellung des biopsychosozialen Konzepts der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO zeigt die Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Domänen.
Körperfunktionen und -strukturen
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Umweltfaktoren
Aktivitäten
Partizipation (Teilhabe)
personenbezogene Faktoren
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Abbildung 2: Therapie von Bewegungsübergängen und Stützaktivität zur Förderung der motorischen Entwicklung durch eine Physiotherapeutin.
Abbildung 3: Balancetraining in der Physiotherapie bei einem Kind mit Rumpfschwäche.
Abbildung 4: Robotikassistierte und computerbasierte Methoden sind heute eine interessante Möglichkeit, die konventionellen Therapien zielgerichtet zu ergänzen und gegebenenfalls zu intensiveren. Exergames ermöglichen zahlreiche Wiederholungen, ohne dass das Üben für die Kinder langweilig wird.
Die Therapien müssen an die individuelle Situation des Patienten und seiner Familie angepasst werden, oft braucht es Kompromisse. Die Eltern werden mit einem grossen Angebot oft – aber längst nicht immer nur – wohlgemeinter therapeutischer Ideen konfrontiert. Die Kinder und Jugendlichen sollen vor unnötigen oder gar schädlichen Therapien geschützt werden.
Frequenz der Massnahmen
Es ist wie bei Medikamenten: Die Dosis der Therapieapplikationen muss individuell festgelegt werden. Die verordnete Frequenz richtet sich grundsätzlich nach den medizinischen Bedürfnissen und den Therapiezielen des Kindes (Abbildungen 2–4). Mit einem Zuwenig an Therapien kann sich zum Beispiel ein Kind mit CP im pubertären Wachstumsschub in seinen Funktionen und Aktivitäten rasch verschlechtern. Ein Zuviel an Therapien kann hingegen bei Kindern zur Demotivation führen und die Familien unbotmässig überlasten. Die Kinder benötigen oft über alle Entwicklungsperioden hinweg bis ins Erwachsenenalter Therapien, das heisst, ihre Motivation muss erhalten bleiben. Die blockweise Durchführung von Therapien kann helfen, gezielter auf die Bedürfnisse der jeweiligen Lebensperiode hinzuarbeiten.
Wer ist für die Finanzierung zuständig?
Versicherungsmedizinische Kenntnisse zur Zuständigkeit der Kostenträger gemäss Krankenversicherungsund Invalidenversicherungsgesetzen (KVG/IVG) (siehe Tabellen 2 und 3) und ein gutes Netzwerk mit verschiedenen Spezialisten, Stiftungen, Schul- und Gemeindebehörden sind für Ärzte und Therapeuten wichtig, um die Patienten und Familien kompetent beraten zu können. Je nach Fachbereich sind weitere Abklärungen durch die entsprechenden Fachstellen notwendig, insbesondere für die Einleitung einer logopädischen oder heilpädagogischen Frühförderung im Vorschulalter.
Tabelle 1:
Funktionelle Einteilung für Mobilität, Handfunktion, Kommunikationsfunktion und Essfunktion gemäss verschiedenen Klassifikationssystemen
Stufe I II
III
IV
V
GMFCS geht ohne Einschränkungen
geht mit Einschränkungen
geht mit Benutzung einer Gehhilfe
selbstständige Fortbewegung eingeschränkt, E-Rollstuhl kann benutzt werden wird in einem Rollstuhl gefahren
MACS
kann ohne wesentliche Schwierigkeiten mit Objekten umgehen
kann mit den meisten Objekten umgehen, aber mit reduzierter Qualität und/oder Geschwindigkeit bei der Durchführung
benutzt Objekte mit Schwierigkeiten, braucht Hilfe bei der Vorbereitung und/oder Modifizierung der Aktivitäten
benutzt eine begrenzte Auswahl von leicht zu handhabenden Objekten in an die Fähigkeit angepassten Ausgangssituationen
kein Gebrauch von Objekten möglich und deutliche Einschränkung in der Fähigkeit, auch einfache Handlungen durchzuführen
CFCS
wirksamer Sender und Empfänger mit unvertrauten und vertrauten Partnern
wirksamer, aber langsamer Sender und/oder Empfänger mit unvertrauten und/oder vertrauten Partnern
wirksamer Sender und Empfänger mit vertrauten Partnern
gelegentlich wirksamer Sender und/ oder Empfänger mit vertrauten Partnern
selten wirksamer Sender und Empfänger auch mit vertrauten Partnern
EDACS isst und trinkt sicher und effizient
isst und trinkt sicher, aber mit gewissen Einschränkungen in der Effizienz
isst und trinkt mit gewissen Einschränkungen in der Sicherheit, ggf. Einschränkungen in der Effizienz isst und trinkt mit signifikanten Einschränkungen in der Sicherheit
kann nicht sicher essen oder trinken, ggf. Gastrostomie zur Ernährung erwägen
GMFCS: Gross Motor Function Classification System (2); MACS: Manual Ability Classification System (3); CFCS: Communication Function Classification System (4); EDACS: Eating and Drinking Ability Classification Scale (5) (adaptiert nach Baumann et al., Zerebralparese, Thieme 2018)
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Tabelle 2:
Indikationsstellung, Verordnung und Kostenträger für Kinder und Jugendliche mit neurologischen Bewegungsstörungen wie CP oder Spina bifida und Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen
Therapieart und Indikationen
Frequenz (Vorschlag)
Verordnung
Kostenträger
Physiotherapie (PT) Entwicklungsförderung Bewegungsübergänge Rumpfstabilität Erhalt Bewegungsumfang der Gelenke Ab 5 bis 6 Jahren und Pubertät: Kraft und Kontrakturprophylaxe (Instruktion Heimprogramm) Erhalt von Geh-, Steh- und Sitzfähigkeit je nach GMFCS
1- bis 2-mal/Woche bei GMFCS I/II im Verlauf evtl. nur als Monitoring (z. B. alle 1–2 Monate notwendig) ggf. blockweise
offizielles Formular zur PT-Verordnung über www.physiopaed.ch
Kinder mit GG (Art. 13): über IV; auf dem Formular 7311 ankreuzen für aufwendige PT ggf. als med. Massnahme im Rahmen beruflicher Eingliederung (Art. 12) Krankenkasse
Hydrotherapie Entwicklungsförderung Bewegungsförderung, Tonuskontrolle Gewichtsaufbau
1-mal/Woche, bis alle 2 Wochen PT-Verordnung
wird als PT übernommen
Ergotherapie (ET) Spielentwicklung Bei unilateraler CP: CIMT bzw. Baby-CIMT ADL-Funktionen, Selbstständigkeit Kognitive Funktionen: Konzentration, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit usw. Im Kindergarten-/Schulalter: Graphomotorik, Unterstützung bei Kulturtechniken, Arbeitsplatzanpassung (Schule, Lehre)
in der Regel 1- bis 2-mal/Woche
ET-Verordnung (Formular)
wird bei GG (Art. 13 oder ggf. Art. 12 [med. Massnahmen im Rahmen der beruflichen Eingliederung]) von der IV übernommen
Logopädie Schluckförderung Sprachförderung ab 2. Lebensjahr Frühe Einführung unterstützter Kommunikation (UK)
in der Regel 1-mal/Woche
ET-Verordnung (Formular) Abklärung der UK über Logopädie mit Beizug (z. B. Active Communication oder b-at AG)
Bildungsdirektionen, Schulgemeinden (auch wenn medizinisch Schlucktherapie!), UK-Geräte bei der IV beantragen
Hippotherapie Beginn ab ca. 4–5 Jahren je nach Grösse der Pferde der Therapiestelle Rumpfstabilität Abduktion/Abspreizung Hüfte (bei Subluxation)
1-mal/Woche (ideal)
PT-Formular Therapiestellen über www.hippotherapie-k.org
Kostenübernahme durch die IV nur wenn Hippotherapie-K® (PT auf dem Pferd)
Heilpädagogische Frühförderung oder Früherziehung (HFE) Je nach Problemstellung: heilpädagogische Frühförderung Audiopädagogik Low Vision Hörsehbehindertenpädagogik
in der Regel 1-mal/Woche HFE meist als Domizilbehandlung
im Vorschulalter über Abklärungs- Bildungsdirektionen
stellen für Sonderpädagogik
Schulgemeinden
Heilpädagogisches Reiten (HPR) Beziehungsaufbau, Sinneswahrnehmung Selbstständigkeit Konzentration Soziale Kompetenzen
1-mal/Woche bis alle 2 Wochen pädagogische Massnahme
Bildungsdirektion Schulgemeinden Zusatzversicherung
Psychotherapie Depression, Zwangsstörungen etc., Copingstrategien Stärkung des Selbstwertgefühls Autonomie Beziehungsaufbau Partizipation Soziale Interaktion
1-mal/Woche je nach Indikationsstellung
Überweisung, delegiert
IV, wenn im Rahmen des GG argumentiert werden kann
Robotik Robotikangebote für untere und obere Extremitäten wie Lokomat Zielsetzung! Gangschulung, Kraft, Koordination, Balance, Hand-Greif-Funktion
als Intensivtherapieblock geeignet Erwartungen mit Eltern klären
in der Regel als PT- oder ET-Verordnung
stationär oder, falls hochfrequent, (3-mal/Woche) durch die IV
ADL: activities of daily living; CIMT: Constraint Induced Movement Therapy; ET: Ergotherapie; GMFCS: Gross Motor Function Classification System; GG: Geburtsgebrechen; HFE: heilpädagogische Frühförderung oder Früherziehung; HPR: heilpädagogisches Reiten; IV: Invalidenversicherung; PT: Physiotherapie
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Abbildung 5: Ein stationärer Therapieblock kann eine gute Möglichkeit sein, neben einer Intensivierung von Therapien die Eltern einerseits als Co-Therapeuten anzuleiten und sie andererseits auch in ihrem Elternsein zu bestärken. Durch die Rehabilitationspflege kann der Transfer von Therapieinhalten in den Alltag erfolgen.
Abbildung 6: Hippotherapie-K® ist Physiotherapie auf dem Pferd. Diese Methode bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit zur intuitiven Therapie von Rumpfaufrichtung und Verbesserung der Hüftabduktion. Die Durchführung in der Natur ist eine willkommene Ergänzung zum Indoor-Therapieprogramm.
Stationäre versus ambulante Rehabilitation
Therapien können in einem ambulanten oder nötigenfalls in einem stationären Setting indiziert sein oder auch aus einer Kombination bestehen. Klar ist die Situation zum Beispiel nach einem neuro-orthopädischen Mehretageneingriff bei einem Kind mit CP zur postoperativen Wiedererlangung der Gehfunktion. Hier kann ein ambulantes Therapiesetting den Anspruch an die geforderte Frequenz mit täglicher Physiotherapie kaum erfüllen. Aber auch chronische Erkrankungen wie beispielsweise CF können insbesondere bei komplexer medizinischer Situation oder sozial schwierigen Verhältnissen das multiprofessionelle Setting einer stationären Rehabilitation erfordern. Neben der medizinischen Indikationsstellung tragen aber auch die schulische und familiäre Situation oder die Umgebungsfaktoren (z. B. Wohnort) zur Entscheidungsfindung des geeigneten Therapiesettings bei. Ein chronisch krankes Kind ist nie alleine krank, seine Eltern und Geschwister sind immer in irgendeiner Form ebenfalls betroffen. Der Umgang mit der Krankheit und die Resilienz der Familien sind ist sehr unterschiedlich. Das muss in die Indizierung von Rehabilitationsmassnahmen einbezogen werden. Der Alltag der Familien ist vollgepackt: Die Kinder und Jugendlichen müssen nicht nur zu ihren ambulanten Therapien gefahren werden. Sie müssen Orthesen anziehen, in Hilfsmittel platziert werden und Quengelschienen (Streckschienen) anle-
gen. Zudem ist der Tag mit Füttern, regelmässiger Atemphysiotherapie usw. dann sehr rasch ausgefüllt – und es gibt ja noch Geschwister, die auch zu versorgen sind. Allenfalls kann es deshalb sinnvoll sein, ambulante Therapien blockweise mit einem stationären Intensivaufenthalt zu ergänzen (Abbildung 5). Während des stationären Aufenthalts können zum Beispiel Hilfsmittel und Orthesen getestet, überprüft und angepasst werden. Auch für das Instruieren und Erlernen des Katheterisierens oder der Atemphysiotherapie sind stationäre Settings gut geeignet, insbesondere wenn es auch um die Autonomieentwicklung eines Jugendlichen geht. Ältere Kinder und vor allem Jugendliche können allein zur Reha kommen, was wiederum ihrer Autonomieentwicklung förderlich sein kann. Jüngere Kinder werden meist von einem Elternteil begleitet, zusätzlich müssen eventuell die Grosseltern familiäre Aufgaben übernehmen, was wiederum organisatorische Anforderungen an das Familiensystem stellt. Die auf der UN-Charta für Kinderrechte basierende Charta für Kinder im Spital (EACH) (7) fordert im ersten Artikel, dass Kinder nicht unnötig ins Spital aufgenommen werden sollen. Das gilt es auch für die Rehabilitation abzuwägen. Eine gerade laufende Aufnahme in den Kindergarten oder die Einschulung sehen wir als eine zeitliche Kontraindikation. Gegebenenfalls ist insbesondere bei schweren onkologischen, kardiologischen oder pneumologischen Erkrankungen die Durchführung einer zeitlich in der Regel auf 4 Wochen limitierten, familienorientierten
Kasten 1:
Weiterführende Literatur
Baumann T, Dierauer S, Meyer-Heim A (Hrsg.): Zerebralparese. Diagnose, Therapie und multidisziplinäres Management. ISBN 978-3-13-202591-2. Thieme-Verlag, 2018.
Jung A, Spindler T: Rehabilitation bei Atemwegserkrankungen im Kindes- und Jugendalter. In: Schultz K et al. (Hrsg.): Pneumologische Rehabilitation. Das Lehr- und Lernbuch für das Reha-Team der D-A-CHArbeitsgemeinschaft Pneumologische Rehabilitation. ISBN 978-3-87185-521-4. Dustri-Verlag, 2018.
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Tabelle 3:
Indikationsstellung, Verordnung und Kostenträger für die Therapie der Atemwege bei Kindern und Jugendlichen
Therapieart und Indikationen
Physiotherapie Sekretmobilisation Autogene Drainage
Inhalationskontrolle Adäquate Technik Instruktion
Diabetesschulung Diabetes-mellitus-Selbstmanagement Enzymersatztherapie
Frequenz (Vorschlag) 2-mal/Woche
Verordnung PT-Verordnung
bei jedem ambulanten Termin
Kostenträger Kinder mit GG über IV, sonst KK (z. B. nicht im EU-Raum geboren)
IV bei Kindern mit GG
über entsprechend involvierte Kin- enger Kontakt mit Diabetologie derkliniken
IV, ggf. KK
Medizinische Trainingstherapie Stärkung von Muskelkraft und Ausdauer
in der Regel 1-mal/Woche
IV, als Physiotherapie zu verordnen
Ernährungsberatung Gewichtsverlauf, Kalorienzufuhr Vitamine Osteoporoseprophylaxe Salzhomöostase
Schulpsychologischer Dienst Abklärung Schulmeidung Aufgleisung Fördermassnahmen
Psychotherapie Abklärung und Differenzierung normales Pubertätsverhalten – pathologische Selbstgefährdung
über entsprechend involvierte Kinderkliniken
1-mal monatlich
nach Angaben des Psychotherapeuten 1-mal/Woche
Formular Ernährungsberatung delegiert
Bildungsdirektionen, Schulgemeinden
falls im Rahmen GG Finanzierung über IV
Berufsberatung Orientierung bzgl. geeigneter Berufswahl
2- bis 3-mal
GG: Geburtsgebrechen; KK: Krankenkasse; IV: Invalidenversicherung; PT: Physiotherapie
Rehabilitation (FOR) mit ihrem systemischen Therapieansatz indiziert. Dieser Ansatz stärkt und stabilisiert das Familiensystem nachhaltig und hat nachgewiesenermassen einen positiven Einfluss auf die Prognose des betroffenen Kindes (8).
Sport und Bewegung
Die Sporttherapie, eine noch junge Disziplin, ist im ambulanten Setting leider noch nicht finanzierbar. Stationär bildet Sporttherapie eine inzwischen gut etablierte und sehr wertvolle Ergänzung im Therapieprogramm mit Durchführung von Krafttraining an den Geräten als medizinische Trainingstherapien (MTT) im Einzelsetting oder als Gruppentherapien (z. B. Velogruppen, Koordinationsgruppen, Rollstuhlgruppen usw.). Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig, insbesondere Kinder mit Behinderungen (9). Wir empfehlen deshalb die sportliche Betätigung auch in der Freizeit zur Verbesserung von Kraft und Koordination, zur Verbesserung des psychischen und physischen Wohlbefindens und zur Verbesserung der Partizipation. Hier verweisen wir explizit auf die Angebote von PluSport (siehe Kasten 2) und das Angebot für eine individuelle Sportberatung. Ebenfalls ein bewegungsförderndes und partizipatives Angebot gibt es zum Beispiel mit Pfadi trotz Allem (PTA), der Pfadibewegung Schweiz.
Fallvignetten
Die nachfolgenden 5 kurzen Fallbeschreibungen sollen die oben genannten Empfehlungen in einen praktischen
Kontext stellen. Überlegen Sie sich, welche Therapien Sie aufgrund der vorgegebenen Situation indizieren würden. Der von uns angegebene Vorschlag zur Lösung ist pragmatisch und hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Fall 1: Säugling mit asymmetrischem Bewegungsmuster Der 8-monatige Cedric gedeiht eigentlich prächtig. Die Termingeburt verlief etwas prolongiert, und letztlich musste das Kind mit der Saugglocke «geholt» werden. Nach initialer Adaptionsverzögerung (APGAR 5-7-9) wurde Cedric vorübergehend 2 Tage auf der Neonatologieabteilung überwacht. Anfänglich bestand noch etwas Trinkfaulheit, aber er konnte nach 7 Tagen entlassen werden. Der am 2. Lebenstag durchgeführte zerebrale Ultraschall (CUS) war nicht ganz konklusiv, eine Verlaufsuntersuchung wurde empfohlen, aber dann aufgrund des guten Verlaufs nicht durchgeführt. Post neonatal zeigte sich gutes Gedeihen, gutes Trinken und kein Verschlucken (!). Die Hüftsonografie war unauffällig. Cedric begann im Alter von ca. 6 Wochen zu lächeln. Im Alter von ca. 4 Monaten fiel der Mutter erstmals eine gewisse Asymmetrie insbesondere der rechten oberen Extremität auf. Rechtsseitig bewegte er sich etwas weniger und weniger flüssig als links, und er ballte vermehrt links die Faust, insbesondere wenn er sich aufregte. Die Untersuchung der General Movement Pattern nach Pretchl (siehe Kasten 2) erfolgte in der kinderärztlichen Praxis während der 4-Monats-Untersuchung. Was würden Sie verordnen?
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Lösungsvorschlag: Nach erfolgter Diagnostik durch die Neuropädiatrie sollte eine Physiotherapie zur Unterstützung der motorischen Entwicklungsförderung eingeleitet werden. Vorstellung bei einer Ergotherapeutin mit der Fragestellung, ob gegebenenfalls mit Baby-CIMT (Constraint Induced Movement Therapy) begonnen werden sollte. Dabei wird der nicht betroffene rechte Arm zeitweilig mit einem Handschuh oder einer Schiene versorgt, sodass das Kind gezwungen wird, seinen linken Arm zu benutzen. Es wird ein altersadaptiertes Bewegungsprogramm etabliert. Damit soll einem sogenannten «learned non use» vorgebeugt werden (10). Gegebenenfalls wird eine heilpädagogische Behandlung nach einer entwicklungspädiatrischen Standortbestimmung begonnen.
Fall 2: 3-Jährige mit schwerer Neurodermitis Seit dem 6. Lebensmonat besteht bei Lisa eine Neurodermitis mit schubweisem Verlauf ohne klare Auslöser. Der Hautzustand hat sich in den letzten 6 Monaten zunehmend verschlechtert. Derzeitig liegt der SCORAD-Wert (scoring atopic dermatitis) bei 75, und es besteht eine ausgeprägte Schlafstörung durch den Juckreiz. Unterschiedliche Therapieversuche mit evidenzbasierten Verfahren mit Basistherapie und Wirkstofftherapien einschliesslich topischer Steroide sind bereits erfolgt. Deren Umsetzung war inkonsequent, da sich Lisa massiv gegen das Eincremen wehrt. Zusätzlich wurden diverse, sogenannte alternative Verfahren mit teilweise sehr restriktiven Diätvorgaben versucht. Insgesamt verschlechtert sich der Hautzustand trotz allem zunehmend, ebenso die innerfamiliären Konflikte wegen der Therapieverfahren und der Schlafstörungen der gesamten Familie. Der Besuch der Kindertagesstätte ist nur eingeschränkt möglich, weil Lisa unter ausgeprägter Trennungsangst leidet. Wie gehen Sie vor? Lösungsvorschlag: Ambulante Neurodermitisschulung über AHA! (siehe Kasten 2). Konsequente und regelmässige Vorstellung in einer spezialisierten Ambulanz zur Therapieüberprüfung. Durchführung eines gezielten Sensibilisierungstests zum Ausschluss einer Hausstaubmilbenproblematik oder anderer Sensibilisierungen als mögliche Auslöser. Gegebenenfalls Verordnung spezieller Neurodermitisschlafanzüge und Encasing. Strukturierung und Etablierung einer möglichst übersichtlichen und umsetzbaren Basis- und Wirkstofftherapie. Bei Erfolglosigkeit stationäre Rehabilitationsmassnahme.
Fall 3: Zweitklässlerin mit CP Celina ist 7 Jahre alt. Die Diagnose einer bilateralen, beinbetonten spastischen CP (mit etwas dystonen Anteilen) wurde im Alter von 3 Jahren gestellt (GMFCS II). Celina trägt Unterschenkelorthesen. Nach 2 Jahren Kindergarten erfolgte die Einschulung in die Einführungsklasse. Zurzeit besucht sie die zweite Regelklasse. Sie ist in ihrer Klasse gut integriert und macht beim Schulturnen mit. Gemäss Angaben der Mutter ist die Lehrerin verständnisvoll, und Celina darf bei gewissen Übungen, die ihr nicht so gut gelingen, aussetzen, oder sie erhält andere Aufgaben zugewiesen. Sie schreibt mit der linken Hand, beim Schreiben verkrampft sich diese gelegentlich. Das Sprachverständnis ist altersentsprechend, aber ihre Sprache ist etwas undeutlich und verlangsamt. Zuweilen ist es schwierig, Celina zu verstehen. Die Hüfte zeigt eine
leichtgradige Dezentrierung gemäss Migrationsindex nach Reimers, jährliche Kontrollen gemäss Hüftampel werden durchgeführt (siehe Kasten 2). Wie sieht Ihr Therapiesetting für Celina aus? Was würden Sie erfragen und – falls nicht bereits etabliert – anmelden? Lösungsvorschlag: Physiotherapie 1-mal pro Woche, um an der Rumpfstabilität und altersadaptiert am Kraftaufbau der unteren Extremitäten zu arbeiten. Zudem Anleitung für ein regelmässiges Stretching insbesondere der Wadenmuskulatur bei Spitzfüssigkeit und der «hamstrings» (ischio-crurale Muskelgruppe) sowie Überprüfung der Orthetik. In der Ergotherapie wird die Augen-Hand-Koordination gefördert, wobei das Augenmerk auch auf der Graphomotorik mit Anpassungen von Arbeitsplatz und Schreibgerät liegt. Logopädie in der Schule 1-mal pro Woche. Heilpädagogische Unterstützung (4 Stunden pro Woche) im Rahmen der integrierten Förderung (IF), welche zum Beispiel durch die Schule für Körperbehinderte der Stadt Zürich begleitet wird. Hippotherapie (Abbildung 6)
Kasten 2:
Nützliche Links
CF: Physiotherapie https://www.cf-physio.ch/fachinfos/physiotherapeutische-schwerpunkte/
CF: Ernährung https://www.rosenfluh.ch/qr/cf-ernaehrung
CP: General movement patterns https://cerebralpalsy.org.au/wp-content/uploads/2018/03/Parental-Fact-Sheets.pdf
Ergotherapie: Zielsetzung https://www.handlungsplan.net/instrumente-ergotherapeutischer-ergebnisevaluationim-bereich-der-handrehabilitation-teil-1-einleitung-copm/
Gross Motor Function Classification System (GMFCS) https://www.rosenfluh.ch/qr/gmfcs
Hüftampel https://www.rosenfluh.ch/qr/hueftampel
Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) https://www.rosenfluh.ch/qr/icf
Neurodermitisschulung https://www.rosenfluh.ch/qr/aha-neurodermitis-elternschulung
Pfadi trotz Allem https://pfadi.swiss/de/pfadiprofil/pta/
Robotik https://www.kispi.uzh.ch/kinder-reha/fachkompetenzen/therapien/therapien-reha-robotik
Sonderpädagogische Massnahmen https://www.rosenfluh.ch/qr/zuercher-spm
Sport und Bewegung https://www.plusport.ch/de/kontakt/
Versicherungsmedizin: Procap https://www.procap.ch/angebote/beratung-information/rechtsberatung/kinder-undfamilien/ratgeber-fuer-eltern/
Versicherungsmedizin: Manual der Schweizerischen Gesellschaft für Vertrauensund Versicherungsärzte http://www.vertrauensaerzte.ch/manual/4/rehastartchapt/paediatrreha/
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Schwerpunkt 12
wäre ebenfalls interessant, insbesondere für den Erhalt der Hüftzentrierung und die Rumpfaufrichtung. Die Therapiefrequenzen müssen aber im Auge behalten werden, denn Celina soll auch noch Zeit zum Spielen, für die Pflege sozialer Kontakte und ihre Hausaufgaben haben.
Fall 4: 14-Jähriger mit CF Bei Sandro wurde im Neugeborenenalter nach Mekoniumileus eine CF diagnostiziert. Zunächst war der Verlauf stabil, mit regelmässiger Anbindung an eine spezialisierte Ambulanz. Zu Hause erfolgen Physiotherapie und regelmässige Inhalationen. Die Pankreasenzymsubstitution ist adäquat, die Lungenfunktion stabil und der Gedeihverlauf normal. Als Sandro 12 Jahre alt war, liessen sich seine Eltern scheiden. Mit 13 Jahren hatte er eine chronische Pseudomonasbesiedelung und rezidivierende Infektionen der unteren Atemwege mit i.v. Therapien. Im Alter von 14 Jahren wird die Erstdiagnose eines CF-Diabetes (Typ III) gestellt. Die Compliance wird zunehmend schlechter. Die Lungenfunktion geht um 30 Prozent zurück. Sandro nimmt 3 kg ab. Sein HbA1c beträgt 11,0 Prozent. Er geht immer öfter nicht zur Schule, und sein Abschluss ist gefährdet. Wie sieht Ihre Therapieplanung für Sandro aus? Was würden Sie überlegen und in die Wege leiten? Lösungsvorschlag: Physiotherapie 3-mal/Woche, um an der Sekretmobilisation mit speziellen Techniken wie zum Beispiel der autogenen Drainage zu arbeiten. Ziel ist das Erlernen der speziellen Techniken zur eigenen Anwendung im häuslichen Umfeld. Einbindung der Schulpsychologin und gegebenenfalls weitergehende Massnahmen über externe Stellen zur Sicherung eines adäquaten Schulabschlusses und in einer für CF-Patienten geeigneten Ausbildung. Ambulante Diabetesschulung speziell für Typ-III-Diabetiker. Falls nicht erfolgreich, Initiierung einer stationären Rehabilitationsmassnahme.
Fall 5: 16-Jährige mit Rett-Syndrom Die 16-jährige Marlies hat die genetisch gesicherte Diagnose eines Rett-Syndroms. Ab dem Alter von ca. 18 Monaten stagnierte ihre Entwicklung, und im Verlauf begann die Regression bereits erlernter Fähigkeiten. Sie ist seit dem Alter von ca. 12 Jahren rollstuhlbedürftig. Eine Epilepsie ist mit antikonvulsiver Therapie inzwischen gut kontrolliert. Insbesondere bei Aufregung kommt es zu handwaschartigen Bewegungen und Hyperventilieren. Die Hüften wurden im Alter von 12 Jahren rekonstruiert (Hüftsubluxation bds.), es besteht eine Rumpfhypotonie mit Skoliose (45° Cobb), und tagsüber trägt sie ein Korsett. Die Schlafsituation ist sehr schwierige. Marlies ist sehr unruhig und muss mehrmals in der Nacht umgelagert werden, bei zunehmender spastisch-zerebraler Bewegungsstörung mit Kontrakturen. Marlies wird von ihren Eltern mustergültig gepflegt. Sie besucht eine heilpädagogische Tagesschule. Wie sieht ein ideales Therapiesetting aus? Was würden Sie verordnen, falls es noch nicht etabliert wäre? Lösungsvorschlag: Überprüfung der Schlafsituation, gegebenenfalls Einbezug der Fachstelle für Schlafstörungen bei Kindern mit Behinderungen und Gabe von Melatonin. Allenfalls Übernachtungen in einer Institution empfehlen. Physiotherapie 2-mal/Woche zur Kontrakturprophylaxe, zum Erhalt der Stehfähigkeit (im Standing), zum Trainieren des Transfers und später der Sitzfähigkeit;
Orthesenkontrollen. Ergotherapie zur Förderung der Teilnahme im Sinne einer Verbesserung der Lebensqualität, taktile Stimulation, Anwendungen gemäss Affolter-Konzept, Lösen von Handstereotypien und Anleitung beim Essen (11). Mittels Ergotherapie auch Überprüfen und Anpassen der Sitzversorgung (mit Keil). Hippotherapie für die Rumpfaufrichtung. Wichtig: frühzeitiges Planen der Transition in Bezug auf Rehabilitationsfragen (u. a. Spastizität, Therapien, Hilfsmittel, Versicherungsfragen) und in Bezug auf die epileptologische Behandlung in Abhängigkeit vom zukünftigen Wohnort, von der Arbeitsstätte und vom Angebot.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Andreas Meyer-Heim Chefarzt Kinder-Reha Schweiz Universitäts-Kinderspital Zürich Mühlebergstrasse 104 8910 Affoltern a. Albis Sekretariat: Sandra.Leuteritz@kispi.uzh.ch
Dr. med. Thomas Spindler ist Chefarzt Pädiatrie an der Hochgebirgsklinik (HGK) Davos.
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Fotos: Der Abdruck aller Fotos erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Universitäts-Kinderspitals Zürich, Eleonorenstiftung.
Literatur: 1. Law M et al.: The Canadian occupational performance measure: an outcome measure for occupational therapy. Can J Occup Ther. 1990;57(2):82-87. 2. Palisano R et al.: Development and reliability of a system to classify gross motor function in children with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol. 1997;39(4):214-223. 3. Eliasson AC et al.: The Manual Ability Classification System (MACS) for children with cerebral palsy: scale development and evidence of validity and reliability. Dev Med Child Neurol. 2006;48(7):549-554. 4. Cunningham BJ, Rosenbaum P, Hidecker MJ: Promoting consistent use of the communication function classification system (CFCS). Disabil Rehabil. 2016;38(2):195204. 5. Sellers D: Eating and Drinking Ability Classification System. Dysphagia. 2019;34(2):279-280.
6. Novak I et al.: State of the Evidence Traffic Lights 2019: Systematic Review of Interventions for Preventing and Treating Children with Cerebral Palsy. Curr Neurol Neurosci Rep. 2020;21;20(2):3. 7. https://www.kindundspital.ch/downloads/each-charta 8. Goldbeck L et al.: The impact of an inpatient family-oriented rehabilitation program on parent-reported psychological symptoms of chronically ill children. Klin Padiatr. 2011;223(2):79-84. 9. Carlon SL et al.: Differences in habitual physical activity levels of young people with cerebral palsy and their typically developing peers: a systematic review. Disabil Rehabil. 2013;35(8):647-655. 10. Eliasson AC et al.: The effectiveness of Baby-CIMT in infants younger than 12 months with clinical signs of unilateral-cerebral palsy; an explorative study with randomized design. Research in developmental disabilities. 2018;72:191-201. 11. Dy ME et al.: Defining Hand Stereotypies in Rett Syndrome: A Movement Disorders Perspective. Pediatr Neurol. 2017;75:91-95.
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