Transkript
Schwerpunkt
Roboter oder konventionelle Rehabilitation?
Interview mit Prof. Hubertus van Hedel, Kinder-Reha Schweiz
Die Robotik hat auch in der Rehabilitation Einzug gehalten. Was können die Maschinen bewirken, und welchen Stellenwert haben sie bei der Rehabilitation von Kindern mit neurologischen Problemen? Wir sprachen darüber mit Prof. Hubertus van Hedel, Forschungsleiter an der Kinder-Reha Schweiz, Universitäts-Kinderspital Zürich, in Affoltern am Albis. Er empfiehlt, Robotertechnologien prinzipiell mit konventionellen Therapien zu kombinieren.
PÄDIATRIE: Herr Prof. van Hedel, welche Kinder werden in der Kinder-Reha Schweiz in Affoltern am Albis behandelt? Prof. Hubertus van Hedel: Zu uns kommen vor allem Kinder mit neurologischen oder neuro-orthopädischen Problemen. Wir behandeln stationär zirka 220 Kinder pro Jahr. Etwa die Hälfte von ihnen sind Kinder mit einer Zerebralparese. Die anderen Patienten haben entweder erworbene Hirnschäden, zum Beispiel infolge eines Schlaganfalls oder eines Unfalls, oder unterschiedliche, meist neurologische Erkrankungen wie Enzephalitis, Spina bifida oder seltene Syndrome. Unsere Patienten sind zwischen 0 und 18 Jahre, manche auch bis zu 21 Jahre alt. Im Gegensatz zu vielen Neurorehabilitationszentren für Erwachsene, die sich beispielsweise auf Patienten mit Schlaganfall oder Multiple Sklerose spezialisieren, haben unsere Kinder und Jugendliche nur gemeinsam, dass sie unter 21 Jahre alt sind. Das Spektrum reicht von Kindern mit relativ wenigen Einschränkungen bis zu denjenigen, die sehr schwer beeinträchtigt sind. Ein Viertel unserer Patienten gehört zu der schwersten von acht Kategorien, während dieser Anteil in einem Neurorehabilitationszentrum für Erwachsene meist nur um die 5 Prozent beträgt. Wir haben hier also einen deutlich höheren Anteil sehr schwerer Fälle als in den Rehabilitationszentren für Erwachsene.
Welchen Stellenwert haben neue technologische Optionen wie die Robotik in Ihrer Institution im Vergleich zu den klassischen Massnahmen? van Hedel: Wir haben hier ein Umfeld, in dem schon sehr lange Rehabilitationstechnologien verwendet werden. So ist der Lokomat (s. Abbildung 1) bei uns seit 2005 im Einsatz, er war damals der erste speziell für Kinder. Heutzutage verwenden wir hier auch ganz neue Technologien, von denen weltweit erst ein, zwei Exemplare in der Kinder-Reha eingesetzt werden, wie zum Beispiel den Rysen (s. Abbildung 1).
Wir dürfen aber nicht vergessen: Die konventionellen Therapien sind nach wie vor der Hauptbestandteil der Rehabilitation. Dazu gehören die Physiotherapie, die auf grobmotorische Funktionen, auf das Gehen, den Rumpf und die Haltung spezialisiert ist, die Ergotherapie, bei der es um die oberen Extremitäten und die Aktivitäten des täglichen Lebens sowie die Abklärung von Hilfsmitteln geht, die Logopädie, die nicht nur das Sprechen, sondern auch das Schlucken übt, sowie die Sporttherapie, die Psychologie, die Neuropsychologie und der Sozialdienst. Selbstverständlich gehört auch die ärztliche und pflegerische Versorgung rund um die Uhr an allen Tagen der Woche dazu. Ergänzt wird das Angebot an der Kinder-Reha Schweiz durch unsere Spitalschule. Wir haben hier eine unglaublich multidisziplinäre Gruppe, die anhand der initialen Gespräche gemeinsam mit Eltern und Kind die primären Ziele der Behandlung definiert: Was muss bearbeitet werden, und wie kann jeder seinen Beitrag dazu leisten?
Prof. Hubertus van Hedel
Was können die neuen Technologien besser als die
konventionelle Therapie?
van Hedel: Nichts ist so breit einsetzbar wie ein Thera-
peut oder eine Therapeutin. Was ich damit sagen
möchte, ist Folgendes: Nicht jedes Kind kann mit Robo-
tik therapiert werden und manche Rehabilitationsziele
können nicht mit der Robotik beeinflusst werden. Ein
Vorteil der Geräte ist
aber, dass wir die Behandlung meist mit Computerspielen kombinieren können. Wenn wir den Kindern den Ein-
Es ist immer noch besser, einen guten Therapeuten zu haben als ein Kind nur mit der neuesten Technologie zu therapieren.
druck eines Spiels ver-
mitteln und sie das Training nicht mehr als rein thera-
peutische Pflichtübung empfinden, können wir sehr viel
mehr Wiederholungen ermöglichen. Wir haben zum
6/21 Pädiatrie
13
Schwerpunkt
Abbildung 1: Robotik für die Rehabilitation der unteren Extremitäten. A: Lokomat, B: Andago, C: Rysen. A: Der Lokomat (Hocoma, Schweiz) ermöglicht die robotergestützte Gangtherapie auf einem Laufband. Dabei kann das Körpergewicht dynamisch entlastet werden, und die Beine werden mittels Exoskelett geführt. Dies ermöglicht eine effektive und intensive Gangtherapie in einem möglichst physiologischen Gangmuster. Geschwindigkeit, Entlastung und Roboterunterstützung werden an die Bedürfnisse des Patienten angepasst. B: Mit dem Andago (Hocoma, Schweiz) werden die Gleichgewichtsfähigkeit und das Gehen ohne Hilfsmittel trainiert. C: Das Laufen mit dem Rysen (Motek, Niederlande) kommt dem freien Gehen schon sehr nahe. Das Tragegurtsystem entlastet das Gewicht und verhindert Stürze. Auf den Boden des Trainingsraums können Geländestrukturen usw. projiziert werden, die das Training spielerisch unterstützen. Auch das Aufstehen und Absitzen, das Balancetraining und das Gehen über Hürden werden vom Rysen unterstützt (Abdruck der Fotos mit freundlicher Genehmigung des Universitäts-Kinderpitals Zürich, Eleonorenstiftung). Videos zur Anwendung der Systeme unter: https://www.kispi.uzh.ch/kinder-reha/fachkompetenzen/therapien/therapien-reha-robotik
Beispiel eine Studie mit dem Roboter Armeo Spring
(Abbildung 2) durchgeführt. Dieser Roboter trainiert die
Armbewegung und das Greifen. Die Kinder spielten mit
dem Roboter an 3 Tagen insgesamt 70 Minuten lang
das Computerspiel
Die Robotertechnologie könnte auch als sinnvolle Ergänzung eingesetzt werden, um dem Kind mit einer Beeinträchtigung im Alltag bereits viel früher Aktivitäten zu ermöglichen.
Moorhuhn-Schiessen. Sie müssen dabei den Arm immer wieder ganz präzis positionieren, die Hand im richtigen Moment öffnen oder schlies-
sen und mit einer Drehbewegung die Waffe neu laden.
Pädagogisch ist das vielleicht nicht das beste Computer-
spiel, aber es ist sehr unterhaltsam, und es trainiert
genau die Bewegungen, die für diese Kinder schwierig
sind. Die Kinder in der Studie haben über 3000-mal in-
nert 70 Minuten ihre Hand geöffnet, geschlossen und
in Position gehalten. Das ist eine unglaubliche Menge
an Repetitionen, und Verbesserungen erzielt man durch
möglichst viele Wiederholungen.
Gibt es vergleichende Studien, ob Kinder von einem Robotik-gestützten Training stärker profitieren als von konventionellen Rehamassnahmen? van Hedel: Solche Studien gibt es kaum. Für ein randomisiertes Studiendesign braucht man relativ grosse, homogene Gruppen. Die Kinder in der Neurorehabilitation sind aber eine sehr kleine und heterogene Gruppe – ganz anders, als das bei Erwachsenen in der Neurorehabilitation der Fall ist, wo es beispielsweise viele Schlaganfallpatienten mit relativ ähnlichen Eigenschaften gibt. Ich möchte aber noch einmal betonen: Es ist immer noch besser, einen guten Therapeuten zu
haben als ein Kind nur mit der neuesten Technologie zu therapieren.
Warum ist Ihnen die Kombination der Robotertechnologien mit der konventionelle Therapie so wichtig? van Hedel: Bei den Konsequenzen eines neurologischen Problems und den passenden Rehabilitationsmassnahmen spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Viele dieser neuen Technologien arbeiten auf der Ebene der Körperfunktionen. Wir können damit sehr gut schrittähnliche Bewegungen üben, das Öffnen und Schliessen der Hände usw., aber damit das auch in alltagsrelevante Handlungen umgesetzt werden kann, braucht es weiterhin konventionelle Therapien wie die Physio- und die Ergotherapie. Deshalb würde ich davon abraten, nur eine Robotertechnologie anzuwenden, sondern das immer in Kombination mit der konventionellen Therapie zu tun. Das Ziel ist schlussendlich, das Kind unabhängiger zu machen und seine Teilhabe an der Gesellschaft zu vergrössern. Dass die Kombination von Robotik und konventioneller Therapie erfolgreich ist, konnten wir kürzlich wissenschaftlich nachweisen. Jährlich bieten wir die sogenannten Hemi-Intensivwochen an, ein Programm, an dem Kinder mit einer einseitigen Einschränkung der Arm- und Handfunktion teilnehmen können. Während 2 Wochen bekommen sie Robotik-gestützte und konventionelle Therapien. Die Verbesserungen, welche die Kinder während dieser 30 Therapiestunden erreichen, sind vergleichbar mit Resultaten aus klinischen Studien, in denen die Kinder 90 Stunden lang nur konventionelle Therapie erhalten haben. Hier zeigt sich deutlich das Potenzial der Kombination von Robotik und konventioneller Therapie.
14
Pädiatrie 6/21
Schwerpunkt
Worauf muss man bei der Anwendung der Robotertechnologie achten? van Hedel: Auch wenn die Geräte eine gewisse Eigensteuerung haben, braucht es dafür geschultes Personal. Die Therapeuten müssen die Möglichkeiten und die Risiken selbst kleiner Veränderungen an den Einstellungen des Geräts für jeden individuellen Fall immer im Blick haben. Deshalb habe ich Bedenken, wenn der Eindruck erweckt wird, dass diese Geräte immer klüger würden und sozusagen automatisch entscheiden könnten, wie ein Patient therapiert wird. Meine Sorge ist, dass dann irgendwann nicht mehr erfahrene Therapeuten das Training durchführen, sondern günstigere Hilfskräfte. Darunter würde die Qualität der Therapie erheblich leiden.
Haben Kinder nicht auch Angst, in so einer Maschine fixiert zu werden? van Hedel: Man muss jedes Kind gut darauf vorbereiten. Gerade bei den grösseren Geräten haben viele Kinder am Anfang einen gewissen Respekt oder auch ein bisschen Angst. Dann braucht es auch hier wieder einen guten Therapeuten, der sie ganz langsam ohne Zwang an das Gerät heranführt. Es gibt aber oft auch Kids, die sehen das Gerät und den Monitor und finden das schon so toll, dass Angst gar kein Thema ist. Gerade bei Patienten zu Beginn der Pubertät erleben wir immer wieder, dass sie es sogar bevorzugen, mit Therapiegeräten zu trainieren.
Verfügen auch andere Zentren in der Schweiz über diese Technologien? van Hedel: Es gibt relativ viele Rehabilitationskliniken für Erwachsene, die ähnliche Technologien anwenden. Im Bereich der Kinderneurorehabilitation sind es nur einzelne, und diese bieten nur ambulante Therapien an.
Gibt es auch Roboter, mit denen man zu Hause therapieren könnte? van Hedel: Einfache Systeme, welche den gleichzeitigen Einsatz eines Therapeuten nicht voraussetzen, sind für das Training zu Hause wünschenswert, aber so weit ist es leider noch nicht. So technisch fortgeschritten wir heutzutage schon sind, sehr häufig hapert es dann doch an der richtigen Anwendung im Alltag. Die Robustheit und die Einfachheit in der Anwendung sind extrem wichtige Voraussetzungen, damit diese Technologien eine breitere Akzeptanz finden.
Wie schätzen Sie die Zukunft der Robotik in der Rehabilitation ein? van Hedel: Die Robotertechnologie könnte auch als sinnvolle Ergänzung eingesetzt werden, um dem Kind mit einer Beeinträchtigung im Alltag viel früher bereits Aktivitäten zu ermöglichen, sodass es sich bewegen und greifen kann. Diese assistiven Geräte sollten auch für Kinder schneller zur Verfügung stehen. Schliesslich basiert die kindliche Entwicklung darauf, dass das Kind in ständigem Austausch mit seiner Umgebung ist. Wenn es das nicht gut kann, weil entweder die Mobilität fehlt oder die Interaktion mit den Händen, könnte das meiner Ansicht nach mehr negative Folgen haben, als sich das viele vorstellen. Das bedeutet, mit der Rehabilitation möglichst früh anzufangen, schon im Säuglingsalter, und nicht erst, wenn die Defizite schon seit
drei, vier Jahren bestehen. Dabei muss man vielleicht nicht unbedingt immer bestimmte Technologien einsetzen, aber ganz sicher schon einmal die konventionellen Methoden. Was ich mir ausserdem wünsche, ist die Weiterentwicklung assistiver Systeme. So arbeiten wir zurzeit gemeinsam mit der ETH Zürich an einem Handschuh, der als Exoskelett das Greifen und Festhalten sowohl trainieren als auch Kinder im Alltag unterstützen soll. Andere Arbeitsgruppen befassen sich mit speziellen Exoskeletten, die das Stehen und Gehen im Alltag unterstützen könnten. Solche Systeme wurden für erwachsene Paraplegiker bereits entwickelt, aber sie sind nicht auf Kinder mit neurologischen Problemen übertragbar, weil der typische Paraplegiker sich dank seiner kräftigen Schultern und Arme mit Stöcken im Gleichgewicht halten kann. Wenn es hier gelänge, Systeme zu konstruieren, die Stürze verhindern könnten, wären sie möglicherweise auch für die Anwendung bei einigen unserer jungen Patienten geeignet. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
Abbildung 2: Robotik für die Rehabilitation der oberen Extremitäten. A: Armeo Spring, B: Diego, C: Myro. A: Der Armeo Spring (Hocoma, Schweiz) trainiert die Armbewegungen und das Greifen. B: Der Diego (Tyromotion, Österreich) ist ein beidhändig einsetzbares, motorisiertes Seilzugsystem. C: Der Myro (Tyromotion, Österreich) ist ein Touchscreen, der durch Berührung, Druck und Zug sowie mit verschiedenen Objekten ein- oder zweihändig steuerbar ist (Abdruck der Fotos mit freundlicher Genehmigung des UniversitätsKinderpitals Zürich, Eleonorenstiftung).
Videos zur Anwendung der Systeme unter: https://www.kispi.uzh.ch/ kinder-reha/fachkompetenzen/therapien/therapienreha-robotik
6/21 Pädiatrie
15