Transkript
Schwerpunkt
Nur eine leichte Hirnerschütterung?
Postkommotionelles Syndrom ernst nehmen und behandeln
Das milde Schädel-Hirn-Trauma gehört zu den häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. 10 bis 20 Prozent der Betroffenen leiden auch langfristig unter Beschwerden wie zum Beispiel Kopfschmerzen, Konzentrationsund Schlafstörungen, um nur einige Symptome des postkommotionellen Syndroms zu nennen. Wie erkennt man diese Patienten, und welche Massnahmen sind sinnvoll?
Von Barbara Kohler, Karen Lidzba und Sandra Bigi
Der Sturz war nicht dramatisch,und es war Marie danach nur etwas schwindelig. Auf welche Seite sie gefallen war? Das weiss sie nicht mehr. Die Kopfschmerzen vergingen rasch, aber in den nächsten Tagen schien ihre Konzentration nicht so gut zu sein wie früher. Die Müdigkeit blieb ihr noch ein paar Wochen erhalten, und eine ungewöhnliche Vergesslichkeit trat auf. Sobald sie versuchte, in der Schule wieder den ganzen Stundenplan zu absolvieren, bekam sie erneut Kopfschmerzen, und sie fühlte sich erschöpft.
Was ist los? Der Trottinettsturz war ja nicht schlimm, und trotzdem scheint Marie seither nicht mehr dieselbe zu sein. Die Eltern sind verunsichert. Kann es sein, dass ein «banaler» Trottinettsturz solche Folgen nach sich zieht, oder bildet sich Marie diese Beschwerden einfach nur ein? Eine blühende Fantasie hatte sie ja schon immer. Wie sollen die Eltern mit Marie und ihren Beschwerden umgehen? Sie kennen und betreuen die Familie seit Jahren. Nun kommen Marie und ihre Eltern in Ihre Praxis und suchen Hilfe. Als erfahrener Kinder- oder Hausarzt kommt Ihnen diese Geschichte sicherlich bekannt vor. Das milde SchädelHirn-Trauma (nachfolgend mSHT genannt) ist eine der häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. Laut Bundesamt für Statistik rangiert die Diagnose seit 1998 jedes Jahr unter den drei häufigsten Diagnosen in Zentrums- und Peripheriespitälern bei Patienten zwischen 0 und 14 Jahren (1). Die Diagnosekriterien sind klar definiert als «Folge einer Gewalteinwirkung, die zu einer Funktionsstörung und/oder Verletzung des Gehirns geführt hat und mit einer Prellung oder Verletzung der Kopfschwarte, des knöchernen Schädels, der Gefässe und/oder der Dura verbunden sein kann» (2). Das mSHT beinhaltet folgende Kriterien, von denen eines erfüllt sein muss:
● Bewusstseinsverlust von maximal 30 Minuten, Amnesie bis maximal 24 Stunden nach dem Unfall
● neurologische Veränderungen (Benommenheit, Verwirrtheit, Orientierungsverlust) und/oder fokal neurologische Ausfälle
● mindestens 13 Punkte auf der Glasgow Coma Scale.
In der Literatur zeigt sich, dass zwischen 80 und 90 Prozent der Patienten keine bleibenden Schwierigkeiten aufweisen und sich innerhalb der folgenden 3 bis 6 Monate vollständig vom Unfall erholen (3). Demnach leiden 10 bis 20 Prozent der Patienten unter einem Phänomen, das als postkommotionelles oder Postconcussion-Syndrom (PCS) bekannt ist. Was sind die Risikofaktoren für ein PCS, und wie äussert es sich? Wann muss man als Kinderoder Hausarzt hellhörig werden?
Was ist PCS, und mit welchen Symptomen kann es sich manifestieren?
Das PCS wird als Komplex (4) mit verschiedenen Symptomen beschrieben, die nach einem mSHT auftreten. Es gibt bislang keine einheitliche Definition, da die Ausprägung der verschiedenen Symptome sehr heterogen ist. Gemäss ICD-10-Klassifikation ist das PCS wie folgt definiert: «Das Syndrom folgt einem Schädeltrauma, das meist schwer genug ist, um zur Bewusstlosigkeit zu führen. Es besteht aus einer Reihe verschiedenartiger Symptome, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erschöpfung, Reizbarkeit, Schwierigkeiten bei der Konzentration und geistigen Leistungen, Gedächtnisstörungen, Schlafstörungen und verminderter Belastungsfähigkeit für Stress, emotionale Reize oder Alkohol.» Die Diagnose eines PCS wird gestellt, wenn die Beschwerden nach den erwarteten 3 bis 6 Monaten nicht nachlassen oder keine signifikante Besserung eintritt (5). 2016 veröffentlichten Bramley et al. (6) eine anschauliche Übersicht zu den verschiedenen Symptomkomplexen des
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PCS. Es handelt sich hierbei um folgende Bereiche: somatische Symptome, kognitive Symptome, Schlafdysregulation sowie Stimmungs- und Verhaltensprobleme. Es ist wichtig, zu beachten, dass diese Symptome oft miteinander auftreten und einander bedingen. Deshalb ist eine ausführliche Anamnese mit spezifischen Fragen unabdingbar, um zu erkennen, wo eine gute Behandlung ansetzen muss.
Somatische Beschwerden
Kopfschmerzen: Spannungskopfschmerzen oder Mi-
gräne treten häufig im Zusammenhang mit einem PCS
auf und bedürfen frühzeitig professioneller Unterstüt-
zung, um einen Medikamentenabusus zu vermeiden be-
ziehungsweise Medikamente bei Bedarf gezielt einzu-
setzen und die Medikation zu begleiten. Eine bereits
vorbestehende Kopfschmerzanamnese oder familiär be-
kannte Migräne erhöhen die Gefahr für postkommotio-
nelle Kopfschmerzen.
Schwindel: Das vermehrte Auftreten von Schwindel
wird mit verzögerter Erholung in Zusammenhang ge-
bracht. Hierauf gilt es besonders zu achten.
Übelkeit: Sie tritt oft in Zusammenhang mit Schwindel,
Kopfschmerzen oder auch bei akuter Überlastung/Über-
forderung auf.
Licht- und Geräuschempfindlichkeit: Viele Patienten
mit PCS berichten neu über eine erhöhte Empfindlichkeit
gegenüber Licht und Geräuschen, welche oft das Auf-
treten von Kopfschmerzen und Müdigkeit triggert.
Das Vorhandensein von
Es ist nicht bekannt, weshalb einige Patienten ein PCS entwickeln und andere mit einer medizinisch fast identischen Geschichte davon verschont bleiben.
Kopfschmerzen und/oder Müdigkeit begünstigt wiederum die Licht- und Lärmempfindlichkeit – die Patienten mit PCS befinden sich diesbezüglich rasch in einem Teufels-
kreis. Deshalb sollten frühzeitig entsprechende Vorsichts-
massnahmen (z. B. Gehörschutz oder Sonnenbrille) be-
sprochen werden. Auch Wettererscheinungen wie Nebel
oder starker Schneefall können die Patienten stark be-
lasten.
Kognitive Symptome
Verwirrtheit: Je länger Patienten sich nach dem mSHT nicht in allen Qualitäten (Person, Zeit, Ort) orientieren können, desto negativer scheint dies mit der Langzeitprognose des PCS zu korrelieren. Konzentrationsstörungen/reduzierte Verarbeitungsgeschwindigkeit: Schwierigkeiten mit der Aufmerksamkeit werden oft und unspezifisch berichtet. Diese können sich rasch mit einem Leistungsknick in der Schule und sogenannter Vergesslichkeit zeigen, was zu einem hohen Leidensdruck führt. Lern- und Gedächtnisstörungen: Die Lern- und Gedächtniskapazitäten sind bei Patienten mit PCS in Belastungssituationen (Stress, Prüfungsdruck, Schlafmangel) oft vermindert. Neuropsychologische Leistungstests sind rein testpsychologisch zwar häufig unauffällig, die Patienten haben aber im Alltag mitunter relevante Einschränkungen in komplexen Situationen. Eine neuropsychologische Testung durch Spezialisten und mit Einbezug aller alltagsrelevanter Stressfaktoren ist deshalb dringend not-
wendig, um die zugrunde liegenden Schwierigkeiten herauszukristallisieren. Exekutive Funktionen: Dies betrifft alle höheren Funktionen, wie zum Beispiel Aufmerksamkeitssteuerung, Verhaltensregulation und Handlungsplanung. Vorausplanen, Flexibilität und Impulskontrolle sind bei einem PCS häufig eingeschränkt. Kognitive Fatigue/erhöhte Ermüdbarkeit: Die kognitive Fatigue ist von der körperlichen abzugrenzen und bedarf einer eigens dafür ausgerichteten Abklärung. Die rasche mentale Erschöpfbarkeit gehört zu den häufigsten Beschwerden. Die Patienten berichten über gute Leistungen in kürzeren Intervallen, bekunden jedoch rasche Ermüdung und einen erhöhten Pausenbedarf. Deshalb ist die kognitive Fatigue eine der limitierendsten Faktoren bei der Reintegration in den Alltag. Frühzeitige Schulung und Verständnis des Umfelds sind hier besonders wichtig, um langwierige Frustrationen zu vermeiden. Das Umfeld und insbesondere die Lehrerschaft müssen verstehen, dass die kognitive Fatigue – wenn ignoriert – reale und schwerwiegende Leistungseinschränkungen zur Folge hat, obwohl man dem Kind keine äusserlichen Verletzungen ansieht. Schlafstörungen: Schwierigkeiten mit dem Schlafrhythmus und der Schlafqualität kommen bei sämtlichen erworbenen Hirnverletzungen vor. Je nach Studie sind 30 bis 60 Prozent der PCS-Patienten davon betroffen. Schlafstörungen wirken sich auf alle Symptomkomplexe aus und beeinflussen die Erholung negativ. Ihnen ist deshalb besondere Aufmerksamkeit zu widmen, und mögliche Beschwerden (Schwierigkeiten mit dem Einschlafen, fragmentierter Schlaf, zu viel/zu wenig Schlaf) müssen gezielt erfragt werden.
Stimmungs- und Verhaltensprobleme
Diese gehen im klinischen Alltag oft vergessen und werden von den Patienten selten direkt berichtet. Direktes Ansprechen und frühzeitiger Einbezug von Fachpersonen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Erfahrung im Bereich des mSHT sind sehr wichtig für die Langzeitprognose. Erhöhte Irritabilität/reduzierte Frustrationstoleranz: Diese Problematik tritt sehr häufig in Kombination mit Schlafstörungen sowie erhöhter Ermüdbarkeit auf. Ein zusätzlicher Leistungsknick in der Schule aufgrund einer nicht beachteten kognitiven Fatigue potenziert dies oft. Traurigkeit: Gefühle wie «Warum ich?», das Bemerken, dass man nicht mehr so gut mitmachen mag oder von den Schulkameraden aufgrund von reduziertem Schulbesuch oder fehlender Kraft von den Spielnachmittagen ausgeschlossen ist, sind normal. Jedoch gilt es, diesen genügend Beachtung zu schenken und zwingend darauf zu achten, emotionalen Ausgleich zu schaffen. Angst: Patienten mit PCS leiden vermehrt an Ängsten und Unsicherheiten. Die Frage, ob es jemals wieder besser wird, taucht immer wieder auf, und sie ist für die Betroffenen sehr belastend.
Behandlung
Zur wichtigsten Behandlung bei PCS gehören die Psychoedukation und das Finden der richtigen Balance zwischen Aktivität und Erholung (7–11). Die Aufklärung sollte bereits mit einer guten Psychoedukation über das
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mSHT beginnen und die entsprechenden Risikofaktoren wie erneute Verletzung innerhalb der nächsten Wochen und Monate sowie andauernde Überlastung (vor allem auch kognitiver Natur [12]) thematisieren. Es ist deshalb von grosser Wichtigkeit, dass sich die Familien frühzeitig nach einem mSHT in der kinder- oder hausärztlichen Praxis vorstellen. Viele der initial «normalen», aber verunsichernden Symptome können dadurch abgefangen und relativiert werden. Vielen Familien muss in der heutigen Zeit aktiv gesagt werden, dass Ruhe, sich Zeit lassen und viel Erholungszeit nach einem mSHT eine Investition in die Zukunft ihres Kindes sind und nicht einem «Laisser-faire-Stil» entsprechen. Gleichzeitig kann den Familien aufgezeigt werden, was sie aktiv tun können, um das Risiko für ein PCS zu vermindern. Hierbei ist es wichtig, die Patienten zu motivieren, sich genügend zu bewegen, ohne sich auszupowern, Schritt für Schritt zurück in den Alltag zu finden und sich auch kognitiv zu betätigen, ohne sich dauernd zu überfordern. Das Wissen über die Wichtigkeit, das richtige Gleichgewicht zwischen «aktiv sein» und «Pausen einlegen» zu finden, ist unbedingt notwendig. Auch die Aufklärung über Kopfschmerzen, Müdigkeit, Lärm- und Lichtempfindlichkeit ist enorm wichtig. Als Beispiel für die umfassende Aufklärung nach mSHT kann die Broschüre «Alltag von Kindern/ Jugendlichen nach einem milden Schädel-Hirn-Trauma/ Hirnerschütterung» der Kinderklinik des Inselspitals Bern angesehen werden (Kasten). Das Wissen, dass die meisten Symptome innerhalb von 3 bis 6 Monaten verschwinden, kann bereits zu einer guten Ausgangslage führen. Entwickeln die Patienten trotzdem ein PCS, erfordert dies eine intensivere Behandlung und Begleitung. Diese sollte unbedingt durch Spezialisten wie Neuropsychologen, Neuropädiater oder Rehabilitationsmediziner in Zusammenarbeit mit weiteren Fachstellen durchgeführt werden. Zentrale Elemente sind das Pausenmanagement, die Reduktion von kognitiver und körperlicher Belastung und
ein klarer Plan, der den schrittweisen Wiedereinstieg in den Alltag aufzeigt und illustriert. Auch hier sind die Psychoedukation über fehlendes oder nicht genügendes Pausenmanagement sowie das Erkennen der eigenen Grenzen im Alltag essenziell. Diese für jeden Patienten individuellen Grenzen müssen in regelmässig Gesprächen evaluiert werden und der Plan ist entsprechend anzupassen. Ebenso muss ein guter Schlaf-wach-Rhythmus thematisiert werden, wobei Schlaf tagsüber möglichst vermieden werden sollte. Bei der (Re-)Integration von Patienten mit einem PCS in den Schulalltag sind der Einbezug und die Aufklärung des Umfelds ein wichtiges Instrument. Das Verständnis für die Einschränkungen der
Patienten sowie das Entge- Zur wichtigsten Behandlung genkommen sind von zentra- bei PCS gehören die Psycholer Bedeutung, um die Patien- edukation und das Finden der ten in einem möglichst richtigen Balance zwischen wohlwollenden Umfeld Fort- Aktivität und Erholung.
schritte machen zu lassen. Teilweise ist die Installation eines Nachteilsausgleichs, jedoch auch die Krankschreibung bezüglich bestimmter Aktivitäten (z. B. Schulsport) notwendig, um einerseits eine neue Verletzung und andererseits eine Überlastung zu vermeiden. Therapeutisch können sowohl Psycho- als auch Physiotherapie sinnvoll sein. Dies sollte aber in den Alltag passen und keine zusätzliche Belastung darstellen. Das Erlernen von Entspannungstechniken wie progressive Muskelrelaxation, Meditation oder Fantasiereisen kann zur Erholung unterstützend eingesetzt werden. Hierbei ist es wichtig, dass diese Techniken von entsprechend ausgebildeten Fachpersonen für den Kinder- und Jugendbereich vermittelt werden.
Risikofaktoren
Für die Entwicklung eines PCS ist eine Reihe von Risikofaktoren bekannt, die jedoch in verschiedenen Studien sehr unterschiedlich bewertet werden (13–16). Zusam-
Broschüre für Eltern und Kinder
Die Broschüre «Alltag von Kindern/Jugendlichen nach einem milden Schädel-Hirn-Trauma/Hirnerschütterung» der Kinderklinik des Inselspitals Bern informiert Eltern und Kinder über das mSHT.
170103_ 2020 _ 07_ 02 _ KFG/df
Alltag von Kindern / Jugendlichen nach einem milden Schädel-Hirn-Trauma / Hirnerschütterung
Download unter: https://www.rosenfluh.ch/qr/msht_broschuere
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menfassend sind gemäss der aktuellen Literatur der initiale Schweregrad der Symptome, Parenchymdefekte, längere Amnesiezeit sowie mehrfache Verletzungen innerhalb kurzer Zeit (Cave: Gefahr eines «second impact syndrome») mit einem höheren PCS-Risiko assoziiert. Aus der persönlichen, familiären oder psychiatrischen Anamnese gehören vorbestehende oder familiär bekannte Kopfschmerzen, eine Vorgeschichte mit Depressionen oder Ängsten sowie ein wenig supportives Umfeld zu den Risikofaktoren für ein PCS. Insgesamt steckt aber die Forschung zu den Risikofaktoren für ein PCS bei Kindern und Jugendlichen immer noch in den Kinderschuhen, und es ist nach wie vor nicht bekannt, weshalb einige Patienten ein PCS entwickeln und andere mit einer medizinisch fast identischen Geschichte davon verschont bleiben.
Langzeitprognose
So individuell wie die Symptome, die Ursachen und die
Dauer der Einschränkungen sind auch die Langzeit-
prognosen. Genaue Zahlen
So individuell wie die Symptome, die Ursachen und die Dauer der Einschränkungen sind auch die Langzeitprognosen.
sind in der Forschung unbekannt, die Studien weisen eine zu grosse Heterogenität auf, um allgemeingültige Aussagen zu erlauben. Relativ viele Patienten
leiden jedoch leider längerfristig unter Kopfschmerzen
und einer reduzierten Belastbarkeit. Als wichtiges Merk-
mal scheint sich herauszukristallisieren, dass das Vermei-
den von Überlastung und Überforderung längerfristig zu
einer besseren Re-Integration führt, auch wenn die
Anfangsphase längere Zeit in Anspruch nimmt. Wie ein-
gangs erwähnt, zahlen sich hier Geduld und Zeit aus.
Was bedeutet das alles für die Praxis?
Vielleicht fragen Sie sich nun, welche Implikation für den Alltag all diese Informationen haben. Es gilt, wachsam zu sein, das mSHT ernst zu nehmen und diejenigen aus dem grossen Teich der Patienten zu fischen, die tatsächlich nach 3 bis 6 Monaten noch unter Einschränkungen leiden. Diese Patienten bedürfen einer detaillierten interdisziplinären Diagnostik durch Spezialisten, um sekundäre Komplikationen zu erkennen beziehungsweise auszuschliessen. Im Anschluss brauchen diese Patienten eine engmaschige, individuell abgestimmte und wohnortnahe Begleitung. Da Sie als Kinder- und Hausärzte sowohl die Familien als auch das direkte Umfeld am besten kennen und das Vertrauen der betroffenen Familien geniessen, liegt die Koordination idealerweise in Ihren Händen. Die Spezialisten stehen Ihnen niederschwellig mit Rat und Tat zur Seite.
Nun zurück zu Marie. Sie wird von ihrer Kinderärztin in unsere Sprechstunde für pädiatrische Neuropsychologie zugewiesen. Im Rahmen des Anamnesegesprächs fällt auf, dass Marie sehr angespannt ist und bleich wirkt. Bereits bei den ersten Fragen beginnt sie zu weinen, auch die Eltern sind am Anschlag. Alle sind komplett verunsichert und haben Angst, dass es nie mehr besser wird. Was würde dann aus der Schule, der Ausbildung und der Zukunft von Marie? Eine Frage jagt die andere, und die Sorgen sind förm-
lich greifbar. Eine erste Psychoedukationsschleife wird bereits hier eingelegt. Das PCS wird erklärt, die Familie und Marie scheinen erleichtert, dass sich das Kind die Symptome nicht einbildet, sondern dass diese für uns zum normalen Erholungs- und Integrationsprozess bei den wenigen mSHT-Patienten mit Komplikationen gehören. Im Anschluss muss sich Marie einer kurzen diagnostischen Sequenz unterziehen. Geplant sind ein Screeningtest zur Intelligenz sowie eine Einschätzung des Arbeits- und Langzeitgedächtnisses und der Aufmerksamkeitsleistungen. Aber nach rund 20 Minuten brechen wir ab. Marie will sich zwar durchkämpfen, ist aber bereits total erschöpft, auf Nachfrage gesteht sie frontal stechende Kopfschmerzen ein. Wir legen eine Pause ein, trinken etwas und setzen uns wieder alle zusammen. Die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der Symptome von Marie führen zu Erleichterung bei der Familie, gleichzeitig aber auch zu Angst, wie es mit der Schule weitergehen soll. Muss Marie repetieren? Wie kann sie den ganzen Stoff lernen? Kann sie am Schullager in drei Wochen teilnehmen?
Wir stellen einen detaillierten Tagesplan für die nächsten 2 Wochen auf. Eine Teilnahme an der Regelschule ist erst dann sinnvoll, wenn sich Marie wieder für 45 Minuten konzentrieren kann. Bis dahin stehen Hausaufgaben, Hausarbeiten, Bewegung an der frischen Luft und vor allem Dinge, die ihr Freude bereiten und sie motivieren, auf dem Programm, wie zum Beispiel der Spaziergang mit dem Hund der Nachbarn. Dazwischen sind Ruhepausen angesagt, möglichst ohne Schlaf, aber dafür mit Hörspielen, Zeichnen oder Basteln. Fernsehen und Gamen sind zunächst tabu, weil das die kognitiven Ressourcen zu sehr belasten würde. In 2 Wochen telefonieren wir und vereinbaren die nächsten Schritte, in der Hoffnung, dass Marie nun für einzelne Lektionen die Schule besuchen kann. Für den Anfang reicht das aus – Marie braucht jetzt erst einmal Zeit, um sich zu erholen und wieder Vertrauen in sich und den Alltag zu gewinnen. Schulstoff, Noten, Leistungen im Sport, all das kommt erst wieder, wenn sie fit genug ist, einen Tag möglichst kopfschmerzfrei zu absolvieren.
Nachteilsausgleich beantragen
Gemeinsam mit den Eltern und Marie wird entschieden, wer die Schule über die drastisch anmutenden, aber medizinisch absolut notwendigen Massnahmen informiert. Diese umfassen unter anderem die Dispensation von der Leistungspflicht, die Krankschreibung und den Anspruch auf Nachführlektionen im Anschluss. Diese Massnahmen – auch Nachteilsausgleich genannt – dienen einer erfolgreichen Re-Integration und der Vermeidung langfristiger, chronischer postkommotioneller Symptome. Der Nachteilsausgleich ist von der Schule umzusetzen, denn er ist im Gesetz verankert – wohlwissend, dass nicht alle schulischen Institutionen über dieselben Ressourcen verfügen. Absolut zu vermeiden ist ein erneutes Kopftrauma in dieser Situation. Kontaktsportarten sind deshalb erst wieder erlaubt, wenn Marie komplett symptomfrei ist.
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Marie kann nach 2 Wochen am Morgen und am Nachmittag je eine Lektion in der Schule besuchen, nach weiteren 2 Wochen kommt eine dritte und nach 4 Wochen eine vierte Lektion dazu. Danach wird es schwieriger, aber mit viel Geduld und mithilfe des Entgegenkommens der Schule kann sich Marie im Verlauf nochmals steigern. Rund ein halbes Jahr nach dem Erstkontakt in unserer Sprechstunde kann sie am Morgen bis um 11 Uhr in die Schule gehen und am Nachmittag nochmals zwei Lektionen besuchen, teilweise wird diese Zeit für die Nachführlektionen genutzt. Und Marie hat ein neues Hobby entdeckt: Gärtnern mit ihrer Freundin und mit dem Hund der Nachbarin spazieren gehen. Nur der Schulsport kann bis anhin noch nicht wieder aufgenommen werden. Der Lärm und die raschen Bewegungen der anderen Kinder verursachen bei Marie noch immer Schwindel und rasch Kopfschmerzen. Sie kann aber wieder mit den Eltern Velo fahren, was lange Zeit unmöglich war. Es wird auch weiterhin Fortschritte geben, langsame zwar, aber der Alltag wird wieder möglich sein. An diesem Punkt freuen wir uns, wenn wir die Betreuung zurück in die kinderund hausärztliche Praxis geben können, damit die Wege kurz sind, um Marie und ihre Familie weiter zu begleiten, bis ein normaler Alltag erreicht ist.
Korrespondenzadresse: Barbara Kohler, M. Sc. Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP Stv. Leitung pädiatrische Frührehabilitation Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklung und Rehabilitation, J216 Universitätsklinik für Kinderheilkunde Inselspital 3010 Bern E-Mail: barbara.kohler2@insel.ch
Literatur:
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Prof. Dr. rer. nat. Karen Lidzba, Fachpsychologin für Neuropsychologie FSP und GNP, ist Leitende Psychologin Neuropädiatrie, PD Dr. med. Sandra Bigi, Fachärztin Kinder- und Jugendmedizin FMH, Schwerpunkt Neuropädiatrie, ist Oberärztin/Konsiliaria Neuropädiatrie am Inselspital Bern.
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Schwerpunkt
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