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«Kind und Tier haben keine gemeinsame Sprache»
Foto: zVg
Das Zusammenleben von Kleinkindern und Haustieren gestaltet sich nicht immer problemlos. Wir fragten die Verhaltenstierärztin Dr. med. vet. Maya Bräm, Tierspital der Universität Zürich, nach den häufigsten Fehlern, die dabei gemacht werden. Sie betrachtet die Situation eher von der Seite des Tieres her und erläutert, worauf man beim Zusammenleben mit Haustieren achten muss.
Dr. med. vet. Maya Bräm
PÄDIATRIE: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte beim Zusammenleben von Kleinkindern und Haustieren? Dr. med. vet. Maya Bräm: Das Wichtigste ist, zu verstehen, dass Kleinkind und Tier keine gemeinsame Sprache haben, sie verstehen einander nicht. Es braucht einen Dolmetscher, und das müssen die Eltern leisten, die quasi beide Sprachen sprechen müssen. Der zentrale Punkt ist das Lesen- und Verstehenkönnen der Stressund Angstsignale des Tieres und früh genug darauf zu reagieren, damit das Kind nicht gefährdet wird. Wichtig sind auch Rückzugsmöglichkeiten, damit das Tier und das Kind Orte haben, an denen sie nicht miteinander in Kontakt sein müssen. Und selbstverständlich kommt es immer auch auf die Persönlichkeiten von Tier und Kind an, das sollten die Eltern mit in Betracht ziehen.
Was ist zu beachten, wenn ein Neugeborenes in
einen zuvor kinderlosen Haushalt mit Haustieren
kommt?
Bräm: Die werdenden Eltern sollten sich früh genug
damit beschäftigen und das Tier auf das Baby vorberei-
ten. Sie sollten sich mögliche Szenarien vorstellen, die
für das Tier eine Veränderung bedeuten. Dann kann
man absehbare Veränderungen vorbereiten und sie für
das Tier möglichst positiv verknüpfen, damit die neue
Situation kein allzu grosser Schock ist. Zum Beispiel
kann ein Hund oder eine Katze lernen, in gewissen Si-
tuationen keine Aufmerksamkeit zu erhalten. Wichtig
ist der Aufbau eines si-
Ein sicherer Rückzugsort für das Tier ist wichtig.
cheren Rückzugsorts für das Tier. Dieser Ort soll positiv verknüpft sein,
das heisst zum Beispiel,
dass das Tier dort etwas Leckeres bekommt, wenn es
diesen Ort aufsucht. Idealerweise ist das ein geschützter
Rückzugsort, den das Kind nicht erreicht, damit sich das
Tier jederzeit vor dem Kind zurückziehen kann. Frei lau-
fende Katzen können sich selbst zurückziehen, reine
Hauskatzen brauchen hingegen ein kinderfreies Zimmer
oder einen kinderfreien Ort. Das kann zum Beispiel ein
Ort in der Höhe sein, wo das Kind nicht hinkommt, oder ein bestimmtes Zimmer oder eine Abtrennung, die verhindert, dass das Kind an den Rückzugsort gelangt. Für einen Hund sollte man schon im Voraus Hütemöglichkeiten aufbauen, sodass man gegebenenfalls einen Plan B hat, wenn man einmal einen Tag Pause vom Hund braucht. Ebenso sollte man sich im Voraus überlegen, was man von seinem Haustier in bestimmten Situationen erwartet, zum Beispiel beim Herumtragen des Babys, beim Stillen, beim Essen oder beim Spaziergang mit dem Kinderwagen. Auch hier kann man einem Hund, aber ebenso einer Katze schon Vieles im Vorfeld beibringen. Schwierig können für das Tier neue Geräusche, Gerüche usw. sein. Es gibt CDs mit Babygeräuschen, damit sich das Tier daran gewöhnen kann. Auch diese Geräusche sollte man idealerweise immer positiv verknüpfen, sei es mit einem Leckerli oder mit einem Spielzeug, mit dem sich das Tier selbst beschäftigen kann. Es gibt zudem Pheromonprodukte oder ätherische Öle, die man einsetzen kann, um das generelle Stressniveau des Tieres etwas herabzusetzen.
Worauf sollte man achten, wenn man ein Kleinkind hat und erwägt, einen Hund oder eine Katze anzuschaffen? Bräm: Das sollte man sich gut überlegen: Habe ich wirklich genügend Energie, Zeit und Geld für ein Haustier? Auch ein Tier hat individuelle Bedürfnisse, die vielleicht nicht den eigenen Wunschvorstellungen entsprechen. Sowohl für junge als auch für erwachsene Tiere braucht man am Anfang viel Zeit, um das Tier an das Kind zu gewöhnen und umgekehrt. Es kommt natürlich auch darauf an, wie alt das Kind ist. Babys und Kleinkinder sind für das Tier der Inbegriff der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit: In seinen Augen fängt es als schreiendes Bündel an, dann bewegt es sich plötzlich, dann krabbelt es, dann steht es plötzlich auf und kommt auf das Tier zu und interagiert mit ihm. Insofern sollte man versuchen, ein Tier aus einem Haushalt oder einer Zucht zu übernehmen, wo es vielleicht
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schon positive Erfahrungen mit Kindern machen konnte. Man muss natürlich auch das Kind so gut wie möglich instruieren. Es sollte verstehen, dass es nicht einfach auf das Tier losgehen darf, dass ein lebendes Tier kein Kuscheltier ist und dass es nicht alle Tiere mögen, wenn man sie anfasst und umarmt. Und man muss sich bewusst sein, dass man Kind und Tier immer überwachen muss und sie nie allein lassen darf.
einem Tier, das sonst nur wenig aggressives Verhalten zeigt. Im Internet gibt es viele Videos mit Kindern gemeinsam mit Hunden und Katzen. Als Verhaltensexpertin sieht man dort sehr viele Stresssignale bei den Tieren, aber die Erwachsenen nehmen diese offenbar gar nicht wahr und halten die Situation im Gegenteil für lustig und süss. Sie erkennen das Gefahrenpotenzial und den Stress der Tiere nicht.
Sollte man also besser gar kein Haustier neu anschaffen, solange das Kind noch klein ist? Bräm: Nein, so ist das nicht gemeint. Es kommt auf die individuelle Situation der Familie an. Man muss sich einfach bewusst sein, worauf man sich einlässt. Es kann gut funktionieren, wenn die Persönlichkeiten von Kind und Hund oder Kind und Katze harmonieren und die Eltern sich ihrer Verantwortung bewusst sind und die Dolmetscherfunktion gut übernehmen. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass Hund und Katze Lebewesen sind und keine Gegenstände, die man in den Schrank stellen kann, wenn es nicht klappt.
Ab wann darf man ein Kleinkind mit einem Hund oder einer Katze unbeaufsichtigt allein lassen? Bräm: Gar nicht, wenn man ganz sicher sein will. Auch das gutmütigste Tier kann mit aggressivem Verhalten reagieren, wenn es Schmerzen hat oder auf die feinen Stress-Signale nicht eingegangen wird – ein Kind kann diese schlicht noch nicht lesen. Es kommt natürlich auf das Kind und das Tier an, aber es braucht nur einen kurzen Moment, damit etwas passiert. Kind und Tier haben keine gemeinsame Sprache.
Gibt es besonders geeignete Haustiere für Familien mit Kleinkindern? Bräm: Studien dazu konnte ich keine finden. Aus meiner Erfahrung kommt es auf die bereits genannten Faktoren an. Zum Beispiel haben Freigängerkatzen die Möglichkeit zu gehen, wenn es ihnen zu viel wird. Viele denken, Meerschweinchen und Kaninchen seien für Kinder geeignet, weil sie klein sind und weniger offensichtliche Reaktionen zeigen. Das bedeutet aber nicht, dass diese Tiere nicht leiden können. Damit das Zusammenleben mit Tieren für beide Seiten funktioniert, kommt es letztlich auf die Persönlichkeiten des Kindes, des Tieres und auch der Eltern an, das heisst zunächst, wie gut sich die Erwachsenen mit der Tierart auskennen und wie gut sie eine Supervisionsfunktion ausfüllen.
Gibt es typische Fehler, die beim Zusammenleben mit Kindern und Haustieren gemacht werden? Bräm: Die Hauptfehlerquellen sind, dass die Körpersprache der Tiere nicht erkannt wird und die Eltern ihre Supervisions- und Dolmetscherfunktion nicht erfüllen. Angst- und Stresssignale werden nicht erkannt und übersehen. Das kann dazu führen, dass das Tier still leidet oder aggressiv wird. Häufig wird der Zeitaufwand unterschätzt, der für das Tier notwendig ist, und wie viele Veränderungen das mit sich bringt. Auch dass man die Tiere nicht auf die Ankunft eines Babys vorbereitet, ist ein häufiges Problem. Ein weiterer Punkt ist, dass Tier und Kleinkind nicht überwacht werden. Das kann gefährlich werden, sogar bei
Können Haustiere die soziale Entwicklung von Kin-
dern fördern?
Bräm: Das ist nicht mein Fachgebiet, sodass ich hierzu
nur auf Angaben aus der Literatur verweisen kann. Es
gibt nur wenige Studien dazu. Einige dieser Studien zei-
gen, dass Kinder, die mit Tieren aufwachsen, eventuell
mehr Empathie entwi-
ckeln, sich sozialer verhalten und mehr Verantwortungsgefühl für andere entwickeln könnten. Es gibt auch Studien, die einen positiven Effekt auf das Selbstwertgefühl do-
Auch das gutmütigste Tier kann mit aggressivem Verhalten reagieren, wenn es Schmerzen hat oder auf die feinen Stress-Signale nicht eingegangen wird.
kumentieren. Haustiere können auf Familien mit Kindern
mit Störungen aus dem Autismusspektrum positive Aus-
wirkungen haben, nicht nur für die Kinder, sondern auch
für ihre Familien.
In welchen Situationen kommt es dazu, dass das Tier dann doch abgeschafft wird? Bräm: Ich sehe eher Situationen, in denen ein Tier schon da war und ein Baby geboren wird. Das kann Probleme geben, vor allem mit Hunden. Leider ist es manchmal so, dass man die Tiere letztlich umplatzieren muss, wenn ein Kind geboren wird, weil es einfach mangels energetischer Ressourcen nicht geht. Das ist für die ganze Familie ein sehr schwieriger Entscheid, der begleitet werden muss. Man muss aber die Lebensqualität aller Beteiligten in Betracht ziehen und Schuldgefühle vermeiden. Auch eine Beziehung mit Haustieren kann sich, wie jede Beziehung, so entwickeln, dass es einfach nicht mehr geht. Eine Umplatzierung des Tieres kann somit längerfristig zu einer erhöhten Lebensqualität aller führen.
Sind Sie beteiligt, wenn es um das Herausnehmen von Tieren aus dem Haushalt geht? Bräm: Ich werde beigezogen, wenn Haustierbesitzer Probleme haben, zum Beispiel wenn der Hund das Kind anknurrt oder die Katze das Kind beisst. Ich sehe mir gemeinsam mit der Familie das Setting an – wobei meine Aufgaben vor allem die Seite und Lebensqualität des Tieres sowie die Sicherheit aller Beteiligten betreffen. Ansprechpartner in der Region sind zum Beispiel auf der Homepage der Schweizerischen Tierärztlichen Vereinigung für Verhaltensmedizin (STVV) zu finden (www.stvv.ch). Darüber hinaus gibt es Verhaltenstrainer, vor allem für Hunde, die ebenfalls Unterstützung bieten können; diese sind nicht tierärztlich ausgebildet, kennen aber die Kommunikationsseite der Problematik und können die Familien mit Trainingsansätzen unterstützen.
Das Interview führte Dr. Renate Bonifer.
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