Transkript
Schwerpunkt
Hunde als Co-Therapeuten
Wie verläuft die tiergestützte Behandlung mit Therapiehunden?
Die tiergestütze Behandlung mit Therapiehunden ist seit gut 25 Jahren fester Bestandteil der stationären Ergotherapie an der Kinder-Reha Schweiz in Affoltern am Albis. Über die Jahre zeigte sich, dass Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen unterschiedlichster Schweregrade davon profitieren können, weil sie jeweils auf ihre eigene Art und Weise positiv auf die Therapie hunde reagieren.
Von Peggy Hug und Bärbel Rückriem
Abbildung 1: Hundetherapeutin Peggy Hug mit Nera und Stella.
*Der Name der Patientin wurde geändert.
Aufgeregt und mit leuchtenden Augen wartet Anna* auf dem Gang vor der geschlossenen Tür der Ergotherapie. Gleich wird sich die Tür öffnen, und dann beginnt Annas Behandlung mit den Therapiehunden Nera und Stella, und das gehört sicher zu den Höhepunkten ihrer Woche in der Kinder-Reha Schweiz.
Nera und Stella, zwei Labradorhündinnen im Alter von 13 und 7 Jahren, die eine schwarz, die andere blond, sind ausgebildete und diplomierte Schweizer Therapiehunde (Abbildung 1). Sie besuchen die Ergotherapie der Kinder-Reha Schweiz zweimal wöchentlich mit Peggy Hug. Sie ist ihre Ausbildnerin und ehemalige Präsidentin des Vereins Therapiehunde
Schweiz (VTHS). Insgesamt kommen sieben Kinder wöchentlich in den Genuss der tiergestützten Behandlung mit den Therapiehunden. Die Kinder-Reha Schweiz am Standort in Affoltern am Albis ist das einzige Schweizer Rehazentrum für Kinder und Jugendliche mit erworbenen und angeborenen Hirnschädigungen, und sie gehört zum Universitäts-Kinderspital der Eleonorenstiftung in Zürich. In der Kinder-Reha Schweiz trainieren Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Diagnosen und Schweregraden im Alter von 6 Monaten bis 18 Jahre. Sie lernen, entsprechend ihren Fähigkeiten, sich fortzubewegen, zu greifen, zu sprechen, zu essen, sich im Alltag zurechtzufinden und am Leben teilzuhaben. Ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Neuropsychologen, Lehrern und Therapeuten der Physio-, der Ergo- und der Sporttherapie, der Logopädie sowie der Bewegungswissenschaft arbeitet gemeinsam mit den Patienten und ihren Angehörigen während ihres Aufenthalts an den von ihnen gesetzten Zielen. Sie werden von einer hausinternen Forschungsgruppe begleitet. Und Nera und Stella, geführt von Peggy Hug, unterstützen sie dabei so gut es geht. In der Kinder-Reha Schweiz begann die tiergestützte Behandlung mit dem Therapiehund, hausintern kurz «Hundetherapie» genannt, bereits vor fast 25 Jahren. Damals unternahmen Peggy Hug und Ellen Steinegger aus der Ergotherapie die ersten Versuche, Kinder und Jugendliche im Kontakt mit den Hunden gezielt zu fördern. Ihre Erfahrungen waren so positiv, dass die Hundetherapie bis heute ein fester Bestandteil der stationären Ergotherapie ist und unentgeltlich von Peggy Hug als freiwilliger Helferin durchgeführt wird. Anfänge der tiergestützten Behandlung mit Therapiehunden finden sich in den USA bereits im Jahr 1962, als der Psychologe Boris M. Levinson eher zufällig die unterstützende Wirkung seines Hundes Jingles auf einen jugendlichen Patienten feststellte (1, 2). Die hier beschriebene tiergestützte Behandlung mit Therapiehunden hat
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Abbildung 2: Geführtes Streicheln – ein sichtbarer Genuss.
sich international im Englischen als Dog Assisted Therapy (DAT), Animal Assisted Therapie (AAT) oder Animal Assisted Intervention (AAI) etabliert. In der Schweiz haben die International Association of Human-Animal Interaction Organizations (IAHAIO) unter der Leitung des in der Schweiz arbeitenden Zoologen und Verhaltensforschers
und friedlicher Zugang zu den Hunden und das Einverständnis der Eltern mit dieser Therapieform. Ob ein Kind oder ein Jugendlicher als geeignet für diese Therapieform erachtet wird, entscheidet die zuständige Ergotherapeutin auf Grundlage der vorhandenen Patienteninformationen und ihrer Kenntnisse über den Patienten. Zudem müssen die vorgegebenen Hygienevorschriften vor, während und nach der Therapie eingehalten werden. Eine Einheit der Hundetherapie mit einer Dauer von 30 Minuten erfolgt immer in Anwesenheit einer Ergotherapeutin. Sie begleitet die Patienten und behält deren Bedürfnisse und Anliegen im Auge, während Peggy Hug die Hunde Nera und Stella eng betreut und führt. Die Ziele der Intervention werden vorher festgelegt und besprochen, um den Ablauf und die Auswahl der Mittel sinnvoll zu gestalten. Über die Jahre zeigte sich, dass Kinder und Jugendliche mit Einschränkungen unterschiedlichster Schweregrade in der Hundetherapie behandelt werden können, da die meisten ausgewählten Patienten auf ihre eigene Art und Weise positiv auf die Therapiehunde reagieren. So können schwer betroffene Kinder, zum Beispiel im Wachkoma, klare Verhaltensänderungen in der Gegenwart der Hunde zeigen. Das kann sich unter anderem durch Beruhigung der Atmung, Entspannung des Muskeltonus oder Innehalten und Aufmerksamkeitsreaktionen manifestieren, auch wenn die Kinder einfach nur an die Hunde geschmiegt liegen oder geführt das Fell streicheln (Abbildung 2). Weniger stark betroffene Kinder und Jugendliche spielen aktiv mit den Hunden, verstecken Guetzli in den unterschiedlichsten Schiebe-, Dreh- oder Klappspielen, geben den Hunden zu trinken und setzen dabei eventuell zum ersten Mal ihren paretischen und vernachlässigten Arm ein, da die Hunde beim Einsatz des gesunden Arms einfach nicht reagieren (Abbildung 3).
Das ist auch bei Anna der Fall. Obwohl man Anna normalerweise kaum an der linken Schulter berühren oder ihren linken Arm bewegen darf, lässt sie das Führen des linken Arms beim Bürsten von Stella bereitwillig zu und öffnet die Deckel des Klappspiels nach einigen Wiederholungen mit wenig Unterstützung sogar selbstständig mit ihrer linken Hand. Stella dankt es ihr, indem sie alle versteckten Guetzli findet und bereitwillig auf Annas Kommandos reagiert.
Abbildung 3: Anna setzt ihre linke, sonst vernachlässigte Hand zum Verstecken der Hundeguetzli ein.
PD Dr. sc. Dennis C. Turner wie auch der VTHS zur Verbreitung dieser Therapieform beigetragen. Der VTHS bildet sowohl die Therapiehunde als auch ihre Halter zu zertifizierten Therapiehundeteams aus.
Für welche Kinder ist diese Therapie geeignet?
In der Kinder-Reha Schweiz bilden die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte wie auch eine klar strukturierte Vorgehensweise mit Ein- und Ausschlusskriterien die Basis der Hundetherapie. Voraussetzungen für die Teilnahme der Kinder und Jugendlichen sind immer ein angstfreier
Auch das Sprechen wird in der Therapie geübt. Bereits zu Beginn erzählen viele von ihren Erfahrungen mit ihren eigenen Hunden, erlernen die Namen von Stella und Nera und zeigen ihre Bereitschaft, sich auf diese Begegnung einzulassen. Einige Patienten trauen sich, überhaupt wieder einmal ein Wort zu sagen, wenn sie den Hunden das Kommando mit Stimme und Gesten zum Warten oder Hinlegen geben (Abbildung 4). Die therapeutischen Einsatzmöglichkeiten und die angestrebten Ziele sind mannigfaltig und müssen vor Beginn der Therapieeinheit klar definiert werden. Sie beziehen sich unter anderem auf die basale Stimulation durch das Tasten, Streicheln und Kuscheln mit den Hunden, auf den aktiven Einsatz der Hände beim Bürsten oder Verstecken der Guetzli in den verschiedenen Spielen
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oder auf die Kommunikation beim Gebrauch der Stimme und auf den Blickkontakt beim Erteilen der Befehle. Manche Kinder und Jugendliche gehen mit den Hunden spazieren und üben somit das Gehen, das ihnen sonst so schwer fällt, oder sie planen eine Handlung mit oder für den Hund. Ausschlaggebend für den Erfolg der Hundetherapie sind unseres Erachtens aber der direkte Kontakt des Kindes oder Jugendlichen zu den Hunden und das Erfahren der eigenen Wirksamkeit in dieser Begegnung. Dass Peggy Hug als Hundeführerin dabei den Hunden immer wieder mit den Händen geheime Zeichen gibt, bleibt den Patienten in dieser lebhaften Begegnung glücklicherweise meist verborgen. Der Kontakt der Patienten zu ihren Ergotherapeuten ist idealerweise auf ein Minimum reduziert, damit sich die Kinder und Jugendlichen ganz und direkt auf die Begegnung mit dem Hund einlassen. Die Therapeuten bringen sich vor allem durch sanftes Lenken ihrer Schützlinge zur Teilnahme und durch die Auswahl der Tätigkeit und der therapeutischen Mittel ein, während Peggy Hug, Stella und Nera die Hauptaufmerksamkeit im Geschehen auf sich ziehen. Auch den Hunden scheinen diese Begegnungen zu gefallen. Sie bedanken sich häufig mit einem Handküsschen, wedeln eifrig mit dem Schwanz oder schmiegen sich bereitwillig an die Patienten, die diese Nähe oft brauchen und nur allzu gern in Anspruch nehmen. Dabei scheinen sich Hunde über die Körpersprache, den Blickkontakt und den Geruchssinn sehr viel schneller auf das Gegenüber einzustellen, als es Therapeuten könnten (3, 4). Sie verstehen sowohl verbale als auch nonverbale Sprache und reagieren zum Beispiel auf Kommandos wie Gesten, Handzeichen und Augenkontakt. Auch bewerten Tiere ihr Gegenüber nicht, sodass Menschen mit körperlichen und/oder kognitiven Einschränkungen sich gleichwohl angenommen fühlen (4).
Abbildung 4: Gespannt schaut der junge Patient Nera beim Suchen der Guetzli zu.
die Hundebegleiter des VTHS beraten in diesem Fall die Eltern gern bei der Auswahl eines geeigneten Hundes für ihr Kind. Jedoch raten sie auch von einem überstürzten Kauf eines Tieres ab und empfehlen hingegen erst einmal die Weiterführung der Hundetherapie im ambulanten Setting zu Hause, in der Schule oder in der Institution,
Anna hat eine halbe Stunde lang Stella gebürstet, beiden Hunden zu trinken gegeben und mit ihnen zwei Spiele gespielt. Dabei hat sie viele Guetzli versteckt, indem sie geführt oder selbstständig mit der linken Hand Klappen geöffnet und geschlossen, Verdeckungen verschoben und die Guetzli in die einzelnen Fächer gestossen hat (Abbildung 5). Sie hat den Hunden mithilfe der Therapeutin Zeichen mit beiden Händen zum Warten, Nehmen und Stoppen gegeben und wirkt am Ende müde, aber sehr zufrieden. Strahlend winkt sie Nera und Stella zum Abschied zu, bevor sie von ihrer Grossmutter in Empfang genommen wird.
Ein eigener Therapiehund zu Hause?
Als Zeuge dieser Begegnung kann man sich häufig des Eindrucks von Magie nicht erwehren. Die Patienten öffnen sich für Handlungen, welche die Therapeuten im alleinigen menschlichen, wenn auch spielerischen Kontakt nicht so einfach bewirken können. Und auch die Hunde zeigen uns klar, wie es den Kindern und Jugendlichen geht, bevor wir es mit unseren eigenen Augen erkennen. Diese Wirkung sehen häufig auch die Eltern und fühlen sich in ihrem Vorhaben bestärkt, einen Hund für das häusliche Umfeld anzuschaffen. Peggy Hug und
Abbildung 5: Anna im direkten Kontakt mit Stella.
welche die Kinder und Jugendlichen normalerweise besuchen. Der VTHS verfügt über eine Anzahl mobiler Hundeteams, die in der ganzen Schweiz unentgeltlich Therapiehundeinsätze durchführen. Sie können über das Sekretariat des VTHS angefragt werden. Es bedarf dabei aber einer genauen Abstimmung der Bedürfnisse des Kindes oder Jugendlichen auf die Merkmale des Hundeteams. Auch die Eignungsprüfung und die Ausbildung von Therapiehunden und ihren Hundeführern werden vom VTHS organisiert, durchgeführt und zertifiziert (weitere Informationen: sekretariatvths@bluewin.ch).
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Wissenschaftliche Evidenz
Die wissenschaftliche Evidenz der tiergestützten Behandlung mit Therapiehunden beziehungsweise der DAT, AAT oder AAI ist noch gering, und es existieren nur wenige Studien, die qualitativ ausreichen, um die Wirksamkeit in der Praxis einwandfrei wissenschaftlich zu belegen (5). An dieser Stelle sollen zwei Beispiele aus der Literatur erwähnt werden, die sich auf den Einsatz bei Kindern und Jugendlichen beziehen. So scheint sich zu bewahrheiten, dass der Einsatz der DAT bei Kindern mit einer Autismusspektrumstörung zu Verbesserungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation führt (5). Eine in der pädiatrischen Neurorehabilitation der Schön-Klinik Vogtareuth über sieben Jahre durchgeführte Studie zeigte, dass die DAT ein geeigneter Ansatz zur Verbesserung von emotionalen, sozialen und psychologischen Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit schweren neurologischen Beeinträchtigungen ist (6). Auch hier wird darauf hingewiesen, dass weitere Studien notwendig sind.
Korrespondenzadresse:
Bärbel Rückriem, MSc Ergotherapie
Leiterin Stationäre Ergotherapie Kinder-Reha Schweiz
Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung
Mühlebergstrasse 104, 8910 Affoltern am Albis
E-Mail: Baerbel.Rueckriem@kispi.uzh.ch
Interessenlage: Die Autorinnen erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Levinson BM: The dog as a „co-therapist“. Ment Hyg. 1962;46:59-64. 2. Frömming H: Die Mensch-Tier-Beziehung, Theorie und Praxis tiergestützter Pädagogik. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2006. 3. Rütten A: Tiergestützte Therapie. Für die Arbeit mit sprachentwicklungsgestörten Kindern.VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2006. 4. Götzky J, Kraus M, Klundt M: Tiergestützte Therapie: Die Wirkung von Pferden als Therapieform für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Bachelorarbeit in Angewandten Kindheitswissenschaften an der Hochschule Magdeburg Stendal, 2016. 5. Hill J et al.: Can Canine-Assisted Interventions Affect the Social Behaviours of Children on the Autism Spectrum? A Systematic Review. Rev J Autism Dev Disord. 2019;6:13-25. 6. Hediger K et al: Dog-Assisted Therapy in Neurorehabilitation of Children with Severe Neurological Impairment: An Explorative Study. Neuropediatrics. 2020;51:267-274.
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