Transkript
Schwerpunkt
Wann ist Verzicht sinnvoll?
Auslassdiäten helfen nicht bei jedem gastroenterologischen Problem
Der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel ist bei Erkrankungen wie Zöliakie und Nahrungsmittelallergien erwiesenermassen sinnvoll und wirksam. Fehlerhaft und ohne korrekte Indikation durchgeführt, können Auslassdiäten aber auch gefährlich werden. Bei welchen Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts die Änderung der Ernährung tatsächlich etwas bringen kann, erläuterte Dr. Johannes Spalinger an der SGP-Jahrestagung.
Bauchschmerzen wegen bestimmter Nahrungsmittel würden zwar häufig vermutet, aber Auslassdiäten seien kein Allheilmittel und unter Umständen sogar gefährlich, sagte Dr. Johannes Spalinger, Co-Chefarzt und Leiter der Abteilung für Kindergastroenterologie und Ernährung am Kinderspital Luzern: «Wenn das Weglassen sinnvoll ist, ist auch eine professionelle Ernährungsberatung notwendig, um Fehl- und Mangelernährung zu verhindern.» Dazu gehört auch, die Massnahmen immer wieder kritisch zu überprüfen. «Wenn wir merken, dass es mit dem Weglassen nicht besser wird, sollen diese Kinder wieder eine normale Ernährung haben», sagte der Gastroenterologe und gab überdies zu bedenken, dass der Verzicht auf bestimmte Nahrungsmittel für ein Kind auch soziale Probleme mit sich bringen kann: «Wir müssen aufpassen, diese Kinder nicht zu Aussenseitern zu machen, die alles Mögliche nicht essen dürfen.» Doch bei welchen gastroenterologischen Problemen sind spezielle Diäten tatsächlich sinnvoll und bei welchen nicht?
Chronische Obstipation im Kindesalter
Therapeutisch nutzt eine Diät bei chronischer Obstipation
im Kindesalter nichts. Auch Nahrungsfasern oder Probio-
tika sind für die Therapie einer chronischen Obstipation
nicht geeignet. Es gebe zwar
Die Massnahmen immer
Hinweise darauf, dass Nah-
wieder kritisch überprüfen.
rungsfasern präventiv wichtig
seien, therapeutisch wirksam
seien sie bei chronischer Obstipation aber nicht, sagte
Spalinger. Es gibt nur eine Situation, bei der man es doch
mit einer Ernährungsmassnahme versuchen kann: Wenn
Kleinkinder und Säuglinge auf die übliche Behandlung mit
Laxanzien nicht ansprechen, kann eine strikt kuhmilch-
freie Ernährung etwas bringen, vor allem bei Kindern mit
exzessivem Milchkonsum. Der Versuch sollte aber auf
2 bis 4 Wochen begrenzt werden.
Kuhmilchkarenz bei FPIAP
Typisch für die «food protein-induced allergic proctocolitis» (FPIAP) sind gutartige, transiente Blutbeimengung in einem eher lockeren Stuhl bei gesund erscheinenden ge-
stillten Säuglingen. Die Kinder sind meist 1 bis 4 Wochen alt und in gutem Allgemeinzustand. Sie nehmen normal an Gewicht zu, und die klinische Untersuchung ist ohne Befund. Die stillende Mutter sollte sich für 2 bis 4 Wochen strikt kuhmilchfrei ernähren, und sie sollte zum ausschliesslichen Stillen ermuntert werden. Falls Stillen nicht möglich ist oder nicht ausreicht, kann das Kind mit extensiv hydrolsierter Formulanahrung (eHF: Althera®, Alfare®, Pregomin pepti Syneo®) oder mit AS-basierter Formulanahrung (AAF: Alfamino®, Aptamil AS Syneo®) ernährt werden. HA-Milchen sind bei FPIAP nicht geeignet und bei Kuhmilchallergie sogar kontraindiziert! Die Blutungen verschwinden unter Behandlung meist innert 72 Stunden. Wenn eine FPIAP trotz Kuhmilchverzicht weiterhin besteht, wird das Weglassen anderer Nahrungsmittel auf dem Speiseplan der Mutter versucht (Ei, Soja, Weizen/Mais/ Zerealien, potenzielle andere Allergiequellen). Noch ist unklar, wie FPIAP entsteht. Man geht von einer noch nicht näher definierten immunologischen Reaktion auf der Darmoberfläche aus, was sich auch in Synonymen der FPIAP widerspiegelt, wie zum Beispiel «allergische Proktokolitis des Säuglings» oder «Nahrungsprotein-induzierte allergische Proktokolitis». Die Prognose der Kinder ist sehr gut. Bei 20 Prozent der Kinder verschwinden die Beschwerden ohne Diätrestriktion der stillenden Mutter, und die meisten FPIAP-Kinder erlangen innert weniger Wochen eine Toleranz gegenüber Kuhmilch. Die Entwicklung einer Kuhmilchallergie vom Soforttyp ist deshalb nicht zu erwarten. Eine Allergiediagnostik sei bei FPIAP nicht sinnvoll, weil sie in der Regel keine nützlichen Ergebnisse liefere, sagte der Referent.
Kuhmilch wieder einführen
Nach einer vorübergehenden Kuhmilchkarenz sollte man diese wieder in die Ernährung des Kindes einführen, und zwar mithilfe der sogenannten Milchleiter (1): ● Stufe 1: kleine Krümel von Keksen geben, die 1 g Kuh-
milchprotein pro Stück enthalten und innert 5 Wochen bis zu 1 ganzen Keks steigern. ● Stufe 2: gebackene Nahrungsmittel mit Kuhmilch füttern (z. B. Kekse, Kuchen, Waffeln, Pfannkuchen) so-
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Verdacht auf GERD: Anamnese und Untersuchung
Alarmsymptome (Red Flags)?
Nein
Ja
Red Flags abklären, Überweisung
nächst einfache Massnahmen empfohlen (Vermeiden von Überfütterung, Andicken der Nahrung). Falls diese nicht ausreichen, folgt eine kuhmilchfreie Ernährung. Für gestillte Säuglinge bedeutet das eine kuhmilchfreie Ernährung der Mutter für 2 bis 4 Wochen, für die nicht gestillten Kinder eine ebenso lange Ernährung mit eHF- oder AAF-Formulanahrung (Abbildung).
Überfüttern vermeiden Nahrung andicken Stillen fortsetzen
erfolgreich
Massnahmen fortsetzen
nicht erfolgreich
Proteinhydrolysat- oder Aminosäurenformula für 2 bis 4 Wochen erwägen
oder bei gestillten Kindern Kuhmilch in der maternalen Ernährung
eliminieren
erfolgreich
nicht erfolgreich
fortsetzen und Wiedereinführung von Kuhmilchprotein an Kontrollterminen
besprechen
zum Spezialisten überweisen
Überweisung nicht möglich
Symptome nicht
gebessert oder rezidivierend nach
Ausschleichen
Säurehemmung für 4 bis 8 Wochen erwägen, ausschleichen,
sobald Symptome gebessert
erfolgreich
Differenzialdiagnosen überprüfen, zusätzliche Tests
erwägen und/oder kurzer Versuch mit Medikation
keine weitere Behandlung
Abbildung: Algorithmus zum Vorgehen bei Säuglingen mit GERD-Symptomen (mod. nach [2]); Red Flags: Gewichtsverlust, Lethargie, Fieber, ausgeprägte Reizbarkeit/Schmerzen, Dysurie (Verdacht auf Harnwegsinfekt), Reflux/Erbrechen begann im Alter von > 6 Monaten oder ist gesteigert/persistierend im Alter von 12 bis 18 Monaten, anschwellende Fontanelle/rasch wachsender Kopfumfang, Krämpfe, Makro- und Mikrozephalie, persistierendes heftiges Erbrechen, nächtliches Erbrechen, Erbrechen von Galle, Hämatemesis, chronische Diarrhö, rektale Blutung, abdominale Spannung/Aufblähung (nach [2]).
wie Butter oder Margarine und Mahlzeiten mit feinem Käsepulver bestreuen (z. B. Teigwaren mit Tomatensauce). ● Stufe 3: Produkte füttern, die gekochten Käse oder erhitzte Milch enthalten (z. B. Pudding, Käsesauce, Pizza), sowie Schokolade, Joghurt, Frischkäse. ● Stufe 4: Käse, Desserts, die nicht gekocht werden (z. B. Eiscreme, Schokoladenmousse), UHT-Milch und später auch pasteurisierte Milch geben.
Eosinophile Ösophagitis
Die Prävalenz der eosinophilen Ösophagitis scheint zu steigen. Knaben und männliche Jugendliche sind häufiger davon betroffen als Mädchen und junge Frauen. Eosinophile Ösophagitis sei eine der ersten Differenzialdiagnosen bei Dysphagie, so Spalinger: «Sie macht den Ösophagus sozusagen steifer, und deshalb bleibt dort leichter etwas hängen.» Die Ernährung spielt bei der Therapie in Form der «6 food elimination diet» (Kuhmilch, Eier, Weizen, Soja, Erdnüsse, Fisch/Schalentiere) ein grosse Rolle (3). Gemäss einer neuen Studie mit 41 Kindern könnte bereits allein die Elimination von Kuhmilch bei 50 Prozent der jungen Patienten zu einer histologischen Remission führen (4). «Es ist eine sehr attraktive Möglichkeit, diese Krankheit, die doch recht schwierig zu behandeln ist, erfolgreich mit einer Diät anzugehen», sagte der Referent. Nach seiner Erfahrung seien aber oft doch noch topische Steroide (Fluticason, Budenosid) notwendig.
Auch Spuren von Gluten vermeiden
Weil die Diagnose einer Zöliakie lebenslange Konsequenzen für die Ernährung hat, empfahl der Referent, Kinder mit Verdacht auf Zöliakie immer zum Spezialisten zu schicken, auch wenn die Diagnose heutzutage nicht mehr unbedingt Biopsien erfordert. Gemäss den 2020 aktualisierten Guidelines (5) kann auf eine Biopsie zur Zöliakiediagnose unter folgenden Voraussetzungen verzichtet werden: ● TGA-IgA ≥ 10-fach höher als oberer Grenzwert ● EMA-IgA positiv in zweiter (!) Blutprobe ● Einverständnis der Familie. Bereits ab einer täglichen Dosis von 50 mg Gluten kann es nach 6 bis 8 Wochen zu subtilen, aber relevanten histologischen Veränderungen kommen, sodass auf eine strikt glutenfreie Ernährung geachtet werden muss. Spuren von Gluten müssen auf der Verpackung deklariert werden, wenn der Gehalt im Produkt über 10 mg Prolamin (Gliadin) pro 100 g Trockengewicht beträgt, das entspricht 20 mg Gluten pro 100 g Trockengewicht. Hinter glutenassoziierten gastroenterologischen Problemen muss nicht zwingend eine Zöliakie stecken. Es könne auch einmal eine Weizenallergie sein, und auch eine nicht allergische Weizensensitivität sei möglich, sagte Spalinger.
Renate Bonifer
Reflux beim Säugling
«Man sollte nicht bei jedem Schreikind, das ein bisschen Reflux hat, Säureblocker einsetzen», sagte Spalinger. Reflux im frühen Säuglingsalter ist physiologisch und meist harmlos, sofern keine Alarmsymptome vorliegen. In den aktuellen Guidelines (2) werden für Säuglinge mit unkompliziertem gastroösophagealem Reflux (GERD) zu-
Vortrag von Dr. med. Johannes Spalinger (Ernährung bei Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts) an der virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 11. Juni 2021.
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Literatur: 1. Luyt D et al.: BSACI guideline for the diagnosis and management of cow's milk allergy. Clin Exp Allergy. 2014;44(5):642-672. 2. Rosen R et al.: Pediatric gastroesophageal reflux clinical practice guidelines: Joint recommendations of the North American Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition and the European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition. JPGN 2018;66:516-554. 3. Liacouras CA et al.: Eosinophilic esophagitis: updated consensus recommendations for children and adults. J Allergy Clin Immunol. 2011;128(1):3-22. 4. Wechsler JB et al.: A Single Food Milk Elimination Diet Is Effective for Treatment of Eosinophilic Esophagitis in Children [published online ahead of print, 2021 Apr 3]. Clin Gastroenterol Hepatol. 2021;S1542-3565(21)00384-0. 5. Husby S et al.: European Society Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition Guidelines for diagnosing coeliac disease 2020. JPGN. 2020;70:141-157.
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