Transkript
Schwerpunkt
Ist es ein Immundefekt?
Kriterien für eine Abklärung bei infektanfälligen Kindern
Wenn ein Kind anscheinend «dauernd krank» ist, drängen viele Eltern auf zusätzliche Abklärungen. Die Abgrenzung zwischen einer noch normalen und einer bedenklichen Häufigkeit und Intensität von Infektionen im Kindesalter ist oft schwierig. Worauf dabei zu achten ist, erläuterte Dr. med. Andrea Duppenthaler, Leitende Ärztin an der Universitätskinderklinik, Inselspital Bern.
Infektionen im Kindesalter sind häufig, und das gilt insbesondere für HNO- und Atemwegsinfektionen. Bei Kindern gelten hier bis zu 8 Episoden pro Jahr noch als normal (Tabelle 1). Es kommt aber nicht nur auf die Anzahl der Infekte an. Entscheidender sei ein ungewöhnliches klinisches Erscheinungsbild oder ein atypischer Verlauf, sagte die Referentin: «Wenn der klinische Verlauf nicht den Erwartungen entspricht, dann muss man hinschauen, egal wie viele Infekte das Kind im Jahr hat.» Als Beispiel schilderte sie den Fall eines Säuglings, der wegen einer Pseudomonasinfektion eine schwere Sepsis erlitten hatte, was man normalerweise bei immunkompetenten Kindern so nicht erwarten würde. Weitere verdächtige Phänomene sind eine fehlende Abheilung bakterieller Infekte trotz adäquater antibiotischer Therapie, Residuen nach der Abheilung oder wenn der identifizierte Erreger nicht zum klinischen Erscheinungsbild passt. In der Tabelle 2 werden die 12 wichtigsten Punkte genannt, bei denen man an die Möglichkeit eines primären Immundefekts denken sollte. Man sollte diese Kriterien strukturiert abfragen und – falls eines davon für das Kind zutrifft – abklären, ob eventuell ein Immundefekt vorliegt.
Basisdiagnostik in der Praxis
Als Basisdiagnostik können in der Praxis zunächst folgende Parameter abgeklärt werden: ● Leukozyten-Differenzialblutbild mit absoluter Neutrophi-
Tabelle 1:
Abklärungsindikationen bei respiratorischen Infekten im Kindesalter
Parameter Häufigkeit Schweregrad Verlauf Residuen Rezidiv mit gleichem Erreger Opportunistische Erreger
normal ≤ 8 Episoden pro Jahr
leicht akut nein nein nein
nicht normal > 8 Episoden pro Jahr
schwer chronisch rezidivierend
ja ja ja
len- (ANC) und Lymphozytenzahl sowie Abklärung auf Eosinophilie ● Entzündungsparameter ● Immunglobuline quantitativ (wobei die Normwerte stark altersabhängig und für Säuglinge und Kleinkinder schlecht standardisiert sind) ● Verdacht auf HIV-Infektion? ● Bei monotopen Infektionen lokale Ursachen ausschliessen. Zu den lokalen Ursachen von Infektionen, die von einer bestimmten Region ausgehen, gehören zum Beispiel die Neurodermitis (Hautinfektionen wegen Superinfektionen häufiger als bei Kindern mit intakter Haut), eine ganze Reihe potenzieller Noxen von Infektionen der Atemwege (Atopie, Fremdkörper, zystische Fibrose, Zilienpathologie, bronchopulmonale Dysplasie bei Frühgeborenen) oder auch anatomische Fehlbildungen (z. B. Adenoidhyperplasie, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, vesikouretraler Reflux usw.). Wenn es länger als 4 Wochen dauert, bis die Nabelschnur abfällt, sollte man das notieren und daran denken, denn auch das spricht für einen Immundefekt, wenn das Kind später auffällig viele Infekte entwickelt. Komme man letztlich zu dem Schluss, dass «da etwas nicht stimmt», solle man das Kind einem Zentrum zur immunologischen Abklärung zuweisen, empfahl Duppenthaler.
Typische Immundefektsyndrome
Immundefekte können in vier Syndromkomplexe eingeteilt werden. Am häufigsten, nämlich zu 70 Prozent, sind sie mit rezidivierenden HNO- und Atemwegsinfektionen assoziiert. Diese Immundefekte sind in der Regel mit B-Zell-Defekten verbunden. Eher mit T-Zell-Defekten assoziiert sind Immundefekte mit Gedeihstörung, Diarrhö und opportunistischen Infektionen; das trifft für etwa 20 Prozent der Immundefekte zu. Defekte der Granulozyten- und/oder Makrophagenfunktion spielen bei etwa 9 Prozent der Immundefekte die Hauptrolle, die mit pyogenem Bakterienbefall und Pilzinfektionen einhergehen. Am seltensten sind mit zirka 1 Prozent diejenigen Immundefekte, die auf einer Störung des Komplementsystems beruhen und meist als Infektionen mit ungewöhnlichen Erregern in Erscheinung
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Pädiatrie 4/21
Tabelle 2:
12 Warnzeichen für einen Immundefekt bei Kindern
● positive Familienanamnese für angeborene Immundefekte
● ≥ 8 eitrige Otitiden pro Jahr ● ≥ 2 Sinusitiden pro Jahr ● ≥ 2 Pneumonien innerhalb eines Jahres ● indizierte antibiotische Therapie über
≥ 2 Monate ohne Effekt ● Impfkomplikationen bei Lebendimpfungen
(v. a. BCG, Rotavirus und Polio nach Sabin) ● rezidivierende oder systemische Infektionen mit
atypischen Mykobakterien ● rezidivierende tiefe Haut- oder Organabszesse ● ≥ 2 viszerale Infektionen (Meningitis, Osteo-
myelitis, septische Arthritis, Empyem, Sepsis) ● persistierende Candida-Infektionen an Haut oder
Schleimhaut jenseits des 1. Lebensjahres ● unklare Erytheme/Erythrodermie bei Neugebore-
nen und jungen Säuglingen (z. B. chronische Graft versusu-Host-Reaktion, Omenn-Phänotyp u. a.) ● Gedeihstörung im Säuglingsalter, mit und ohne
chronische Durchfälle
Quelle: https://www.immundefekt.de/primaere-immundefektepid#warnzeichen
treten (rezidivierende Meningokokkeninfektionen, atypische Mykobakterien).
Nur anfällig für Otitis media?
Bis zu ihrem 6. Geburtstag hatten 80 Prozent der Kinder mindestens eine Otitis-media-Episode. Am häufigsten ist sie im Alter von 6 bis 18 Monaten, und sie kommt eher im Winter als im Sommer vor. Seit einiger Zeit ist in der Literatur von einem neuen Otitis-media-Patiententyp zu lesen, dem «otitis prone child». Diese Kinder haben mehr als 3 Otitis-media-Episoden innert 6 Monaten oder mehr als 4 Episoden innert 12 Monaten – bei ansonsten nicht erhöhter Infektanfälligkeit. Diese Kinder zeichnen sich durch eine bestimmtes Immunprofil aus (ähnlich wie bei einem Neugeborenen). Sobald sie älter als 3 Jahre sind, haben sie keine Otitis-Probleme mehr (1). «Das ist ein spannender Ansatz», kommentierte Duppenthaler die neuen Erkenntnisse: «Wir wissen, dass diese Kinder ein immunologisches Problem haben, das sich aber von selbst regelt und nicht weiter abgeklärt werden muss.»
Renate Bonifer
Vortrag von Dr. med. Andrea Duppenthaler (Infektanfällig – wann weiter abklären?) an der virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 10. Juni 2021.
Literatur: 1. Pichichero ME: Immunologic dysfunction contributes to the otitis prone condition. J Infect. 2020;80(6):614-622.
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