Transkript
Schwerpunkt
Integrative Pädiatrie
Ein pragmatischer Ansatz für die Praxis
Für die meisten Praxispädiater ist integrative Medizin Alltag, zumal viele Eltern ihre Kinder mit oder ohne ärztliche Empfehlung mit komplementärmedizinischen Methoden behandeln – auch mit zweifelhaften. Wie kann man damit in der Praxis umgehen?
Der Begriff Komplementärmedizin umfasst ein weites Feld verschiedener Methoden, welche die Schulmedizin ergänzen und erweitern, aber nicht ersetzen sollen. In der Schweiz werden vier kom plementärmedizinische Methoden von der obligatori schen Krankenkasse bezahlt, wenn sie von Ärzten mit einem Facharzttitel und einer komplementärmedizini schen Weiterbildung durchgeführt werden: die Phyto therapie, die traditionelle chinesische Medizin (Arznei mitteltherapie und Akupunktur), die anthroposophische Medizin und die Homöopathie (1). Eine Umfrage unter Schweizer Pädiatern ergab, dass gut die Hälfte von ihnen jede Woche mindestens einmal und praktisch alle zumindest regelmässig von den Eltern nach komplementärmedizinischen Methoden gefragt werden (2). Deshalb müsse man diese Methoden thematisieren, auch für diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die sie ablehnten, sagte Dr. med. Benedikt Huber, Leitender Arzt an der Klinik für Pädiatrie am Kantonsspital Fribourg. Leider gebe es bis anhin noch kaum gute Studien zur integrativen Medizin, die den additiven Nutzen komple mentärmedizinischer Methoden objektiv belegen könn ten, so Huber. Er regte an, dass sich SwissPedNet, das Schweizer Netzwerk der pädiatrischen Forschungszen tren, künftig auch auf diesem Gebiet engagieren könnte.
Einen pragmatischen Ansatz für das Gespräch mit den Eltern über die Nützlichkeit komplementärmedizinischer Methoden empfahl Dr. Sunita Vohra, Universität Alberta, Edmonton, Kanada. Erfahrungsgemäss scheuen sich viele Patienten, ihrem Arzt gegenüber den Gebrauch komple mentärmedizinischer Methoden zuzugeben. Als häufigs ten Grund für das Verschweigen gaben 57 Prozent von ihnen in einer Umfrage an, dass ihr Arzt sie nie danach gefragt habe, und 46 Prozent sagten, dass das ihren Arzt nichts anginge (3). Es ist deshalb wichtig, eine vertrau ensvolle, offene Athmosphäre zu schaffen, damit keine Anwendungen verschwiegen werden. In der Bespre chung kann man sich dann in erster Linie auf die Sicher heit anhand einer Vierfeldertafel konzentrieren (Abbildung, nach [5]). Wenn etwas wahrscheinlich nicht wirksam, aber sicher ist, kann man es tolerieren. Bekann termassen wirken Plazebos ja sogar dann, wenn man sie offen verabreicht und den Patienten zuvor über den Pla zeboeffekt aufklärt (4). Es versteht sich von selbst, Me thoden abzulehnen, die nicht nur unwirksam, sondern obendrein gefährlich sind. Ist die Methode hingegen wirksam, aber möglicherweise gefährlich, gilt es abzu wägen – genauso wie das bei einem schulmedizinischen Medikament mit potenziell schweren Nebenwirkungen üblich ist.
Renate Bonifer
SICHER
Evidenz spricht für Sicherheit Wirksamkeit zweifelhaft
• Anwendung tolerieren • Vorsicht walten lassen • Entwicklung verfolgen
Evidenz spricht für Sicherheit und Wirksamkeit
• Anwendung empfehlen • Entwicklung verfolgen
Evidenz belegt schwerwiegende Risiken oder Wirkungslosigkeit
• Abraten • Anwendung vermeiden
Evidenz spricht für Wirksamkeit Sicherheit zweifelhaft
• Anwendung erwägen • Vorsicht walten lassen • engmaschig begleiten
NICHT SICHER
Vorträge von Dr. med. Benedikt Huber (Pediatric integrative medicine in Switzerland) und Dr. Sunita Vohra (Pediatric integrative medicine – where do we go from here?) an der virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 10. Juni 2021.
Literatur: 1. AS 2017 3687: Verordnung über die Krankenversicherung (KVV). Änderung vom 16. Juni 2017; https://www.fedlex.admin.ch/eli/oc/2017/420/de, abgerufen am 9. Juli 2021. 2. Huber BM et al.: Swiss paediatrician survey on complementary medicine. Swiss Med Wkly. 2019;149:w20091. 3. Jou J, Johnson PJ: Nondisclosure of Complementary and Alternative Medicine Use to Primary Care Physicians: Findings From the 2012 National Health Interview Survey. JAMA Intern Med. 2016;176(4):545-546. 4. Locher C et al.: Is the rationale more important than deception? A randomized controlled trial of open-label placebo analgesia. Pain. 2017;158(12):2320-2328. 5. Cohen MH, Eisenberg DM: Potential physician malpractice liability associated with complementary and integrative medical therapies. Ann Intern Med. 2002;136(8):596603.
NICHT WIRKSAM WIRKSAM
4 Pädiatrie 4/21