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Schwerpunkt
Dem Fieber eine Chance geben
Bei 39 bis 41 ° C arbeitet das Immunsystem am effektivsten
Viele Eltern kranker Kinder entwickeln regelrechte Fieberphobien. Dabei ist Fieber prinzipiell etwas Gutes, denn es unterstützt das Immunsystem bei der Abwehr pathogener Keime. An der virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie sprachen zwei Fieberexperten über die Bedeutung des Fiebers, den Unterschied zu Hyperthermien und hitzige Experimente mit Labormäusen.
Wie hoch ist die maximal tolerierbare Temperatur bei Fieber? Normalerweise ist die Körpertemperatur auf 41 bis 42 °C limitiert, tatsächlich überschreiten nur 4,3 Prozent der Fieberpatienten 41,1 °C. Der Höchstwert seiner pädiatrischen Patienten habe bei 41,5 °C gelegen, sagte Dr. med. Tido von Schoen-Angerer vom Centre médical de La Chapelle, Grand-Lancy, Genf. Von noch höheren Temperaturen mit einem Maximalwert von 42,2 °C ist in der Literatur zu lesen (1) und Prof. David Martin von der Universität Witten/Herdecke, Deutschland, berichtete an der Tagung von einem seiner pädiatrischen Patienten, bei dem eine Maximaltemperatur von sogar 42,4 °C gemessen wurde. Eine Toleranzschwelle, ab der eine Fiebersenkung mit Antipyretika unbedingt notwendig sei, scheine es nicht zu geben, so von Schoen-Angerer. Auf Warnsignale, die weitere Abklärungen beziehungsweise den Einsatz von Antipyretika erforderten, müsse selbstverständlich geachtet werden, ergänzte Martin (Tabelle). Hyperthermien, auf die in der Praxis unbedingt geachtet werden sollte, sind grundsätzlich anders definiert als Fieber und mit trockener Haut, Störungen des Zentralnervensystems wie Delirium, Krämpfen oder sogar komatösen Zuständen verbunden. Auslöser sind hohe äussere Temperaturen und/oder exzessiver Sport respektive extreme körperliche Betätigungen bei grosser Hitze. Der Gefahrenbereich für Hyperthermien beginnt bei 40 °C. Körpertemperaturen ab 41,5 °C werden als kritische Grenze für mögliche Gewebeschäden angesehen.
Wie sinnvoll sind Antipyretika?
Eine Herabsenkung der Temperatur steigere das Wohlbefinden und reduziere den Wasserverlust, erklärte von Schoen-Angerer. Allerdings werden durch Antipyretika gemäss einer randomisierten australisch-neuseeländischen Studie mit Fieberpatienten auf Intensivstationen weder die Dauer der fiebrigen Infektion noch die Morbidität und die Mortalität herabgesetzt (2). Auch in einem Cochrane-Review aus dem Jahr 2017 konnte keine Reduktion von wiederkehrenden Krämpfen bei Kindern
festgestellt werden, obwohl dieser Glaube bei Eltern und Gesundheitspersonal weit verbreitet sei, so der Genfer Kinderarzt (3). In einer kanadischen Studie zeigte sich, dass eine Fiebersenkung durch Antipyretika die Anzahl der zu erwartenden Influenzafälle und die damit verbundene Mortalität sogar erhöhen könne, berichtete der Kinderarzt (4). Laut den Guidelines der American Academy of Pediatrics (AAP) und den britischen NICE-Guidelines sollen Antipyretika nicht eingesetzt werden, um die Temperatur zu senken, sondern nur, um für ein besseres Wohlbefinden der Kinder zu sorgen.
Paracetamol nicht immer harmlos
Das am häufigsten eingesetzte Medikament zur Fiebersenkung ist Paracetamol. Es ist zwar im Allgemeinen gut verträglich, kann jedoch bei Überdosierungen mit lebertoxischen Nebenwirkungen verbunden sein. In den USA würden jährlich fast 100 Kinder an Lebervergiftungen aufgrund falscher Paracetamoldosierungen sterben, sagte Martin. Zudem seien in verschiedenen Beobachtungsstu-
Tabelle:
Warnzeichen bei Fieber
● Berührungsschmerzen ● schrille Schreie ● Bewusstseinsstörungen ● Kind erscheint ernsthaft krank ● steifer Hals ● grosse Sorgen seitens der Eltern ● Fieber seit mehr als 3 Tagen (bei unter
6-monatigen Kindern sollte schon am ersten Tag ein Arzt aufgesucht werden) ● übelriechender Urin, schmerzhaftes Wasserlassen ● Purpura/Petechien
Quelle: D. Martin, Referat an der virtuellen SGP-Jahres- tagung 2021
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dien Assoziationen zwischen der Gabe von Paracetamol (auch bei Schwangeren) und dem Auftreten von Asthma respektive ADHS bei Kindern festgestellt worden. Auch der Einsatz von Ibuprofen kann neben den bekannten gastrointestinalen Beschwerden in seltenen Fällen bei dehydrierten Kindern zu reversiblen renalen Problemen und bei Windpocken zu Nekrotisierungen führen. Bei der Behandlung von Pneumonien mit Ibuprofen besteht zudem ein Empyemrisiko.
Fieberphobien weitverbreitet
Nicht nur unter den Eltern sind falsche Vorstellungen über die Schädlichkeit von Fieber verbreitet, auch das Pflegepersonal ist nicht gegen Fieberphobien gefeit. So zeigte eine ältere amerikanische Studie mit 340 Pflegenden aus urbanen pädiatrischen Spitälern, dass 44 Prozent der Befragten eine Temperatur von 38,9 °C als «hohes Fieber» ansahen, 21 Prozent befürchteten Hirnschäden, und 7 Prozent glaubten, dass die Körpertemperatur auf über 43,4 °C steigen könnte (5). Solche Vorstellungen führen bei Eltern zu einer deutlichen Zunahme von Arztkonsultationen. Bemerkenswerterweise habe sich das Ausmass von Fieberphobien in den vergangenen 30 Jahren kaum vermin-
Unterstützung für Eltern beim Thema Fieber
Unter der Leitung von Prof. David Martin von der Universität Witten/Herdecke wurde in Kooperation mit verschiedenen Verbänden der Kinder- und Jugendärzte eine FeverApp entwickelt. Sie ist ein Tagebuch zur Dokumentation von akuten Infektionskrankheiten, Medikamenteneinnahmen, Symptomen, Impfstoffen und vielem mehr. In einer Infothek erhalten die Nutzer zudem eine auf aktuellen Leitlinien basierende Aufklärung über Fieber und fieberhafte Erkrankungen. Auch ein Medikamentenscanner steht innerhalb der App zur Verfügung, um Medikamente und Einnahmedosierungen zu dokumentieren. Die FeverApp ist gratis, kann von den Eltern aber nur über den Arzt bezogen werden.
www.feverapp.de
dert, berichtete von Schoen-Angerer. Immer noch werde Fieber eher als bedrohliche Krankheit und weniger als Symptom angesehen. Dabei spielten Gefühle von Angst und Machtlosigkeit bei den Eltern eine wichtige Rolle. Auch die Schwierigkeit, mit einem fiebernden Kind den Alltag zu bewältigen, treibt Eltern in die Praxen und die Spitäler. Insgesamt geht das Wissen in der Bevölkerung über die Rolle des Fiebers nicht mit den in den vergangenen Jahren gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den aktuellen Guidelines einher. Noch immer glaubten viele Eltern an Hirnschädigungen durch hohes Fieber, obwohl es dafür keine Evidenz gebe, betonte von Schoen-Angerer. Aber auch viele Ärzte haben Probleme, hohes Fieber bei Kindern auszuhalten. In einer Schweizer Studie aus dem Jahr 2012 sahen 96 Prozent der 322 teilnehmenden Kinderärzte eine rektale Temperatur von 38,5 °C als Grenzwert an, um das Fieber zu senken (6). 95 Prozent von ihnen verordneten Paracetamol als erste Wahl, 91 Prozent gaben an, häufig auch Ibuprofen zu verwenden. Die Be-
handlung mit Paracetamol und Ibuprofen im Wechsel und physikalische Kühlung wurden von 77 beziehungsweise 65 Prozent der Umfrageteilnehmer als übliches Vorgehen bezeichnet.
Fieberpatienten warmhalten
«Die Furcht vor Fieber ist auch ein Erbe unserer Ururgrosseltern. Wenn man bedenkt, dass zu Goethes Zeiten nur jedes zweite Neugeborene das sechste Lebensjahr erreichte, ist es verständlich, dass Fieber als ein Feind der Menschheit angesehen wurde», sagte Martin. Manchmal lohnt ein Blick in die Tierwelt: Die meisten Vögel haben eine reguläre Körpertemperatur zwischen 41 und 42 °C, bei Hunden und Katzen sind es rund 38 °C. Wenn Letztere Fieber bekommen, steigt das Thermometer ohne Weiteres auf 41 bis 42 °C. Die wichtigste Studie im Zusammenhang mit Fieber und Infektionen sei jedoch ein Experiment mit Mäusen, so Martin (7). Für diese Studie wurde eine Gruppe von Mäusen bei einer Zimmertemperatur von 23 °C gehalten, für die andere Gruppe setzten die Forscher die Zimmertemperatur auf 35,5 °C. Bei allen Mäusen wurde eine Infektion des Peritoneums mit Klebsiella pneumoniae vorgenommen. Während die bei 23 °C gehaltenen Mäuse kein Fieber aufwiesen, entwickelten die in Hochtemperatur gehaltenen Nager Fieber. Bei Letzteren überlebten 50 Prozent, in der fieberlosen Gruppe starben alle Individuen. Die niedrigere Bakteriendichte im Körper der in Hochtemperatur gehaltenen Mäuse sei nicht auf die Temperaturen selbst zurückzuführen – Bakterien können solche Temperaturen gut überstehen –, sondern auf das Immunsystem, das bei hohen Temperaturen besser arbeite, so Martin. Auf den Menschen übertragen heisst das: «Halten Sie Ihre Patienten warm, und geben Sie ihnen ein Gefühl der Sicherheit, sodass sie eine hohe Temperatur entwickeln können. Das hilft dem Immunsystem bei seiner Arbeit.» Am Beispiel von Streptococcus pneumoniae legte Martin dar, wie Fieber das Immunsystem unterstützt. Dieser klassische Erreger von Pneumonien hat sein Temperaturoptimum bei 21 bis 37 °C, ab 40 °C stirbt das Bakterium ab. Im Temperaturbereich zwischen 39 und 41 °C arbeitet unser Immunsystem am effektivsten, das heisst mit einer schnelleren Aktivierung und Proliferation der Leukozyten, einer besseren Migration und Phagozytose der Neutrophilen und Monozyten, einer besseren Präsentation der Antigene durch dendritische Zellen und einer schnelleren Aktivierung von T- und B-Zellen und deshalb mit einer effektiveren Antikörperproduktion.
Klaus Duffner
Vorträge von Prof. David Martin (Warm up to fever: Update on fever and the FeverApp Register Study) und: «Impfungen – Update 2021», und Dr. med. Tido von Schoen-Angerer (Can we reduce fever phobia in Switzerland?) an der virtuellen Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 11. Juni 2021.
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Literatur: 1. Richardson M et al.: Who's afraid of fever? Arch Dis Child. 2015;100(9):818-820. 2. Young P et al.: Acetaminophen for Fever in Critically Ill Patients with Suspected
Infection. N Engl J Med. 2015;373:2215-2224. 3. Wysocki J et al.: A randomized study of fever prophylaxis and the immunogenicity
of routine pediatric vaccinations. Vaccine. 2017;35(15):1926-1935. 4. Earn DJ et al.: Population-level effects of suppressing fever. Proc Biol Sci.
2014;281(1778):20132570. 5. Crocetti et al.: Fever phobia revisited: have parental misconceptions about fever
changed in 20 years? Pediatrics. 2001;107(6):1241-1246. 6. Lava SA et al.: Symptomatic management of fever by Swiss board-certified
pediatricians: results from a cross-sectional, Web-based survey. Clin Ther. 2012;34(1):250-256. 7. Jiang Q et al.: Febrile core temperature is essential for optimal host defense in bacterial peritonitis. Infect Immun. 2000;68(3):1265-1270.
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