Transkript
Schwerpunkt
Was versteht man unter Familie?
Familienform und ihre Bedeutung für das Wohl der Kinder
Am häufigsten wachsen Kinder in der Schweiz in Zwei-Eltern-Familien mit verheirateten Eltern auf, und die Ein-Eltern-Familien bilden die zweitgrösste Gruppe. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Familienformen, wie beispielsweise komplexe Patchwork- oder Regenbogenfamilien. Im Folgenden werden die zurzeit bekannten Einflüsse verschiedener Familienformen auf das Wohl der Kinder erläutert.
Von Guy Bodenmann
Die Familie ist seit Längerem einem starken Wandel unterworfen. Man spricht von einem Pluralismus von Familienformen und meint damit die Koexistenz verschiedener Familienformen. Aufgrund dieses Pluralismus ist es schwierig, Familie überhaupt zu definieren. Entsprechend haben sich sehr breit gefasste Definitionen durchgesetzt, die sich durch hohe «Sparsamkeit» auszeichnen (1): «Eine Kernfamilie besteht aus einer Lebensgemeinschaft von Menschen, die durch nahe Beziehungen miteinander verbunden sind und mit eigenen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt leben.» Bei den meisten neueren Definitionen stehen folgende Punkte im Vordergrund: erstens das transgenerationale Gefüge, wonach mindestens zwei Generationen im gleichen Haushalt leben müssen, zweitens, dass die Familienmitglieder durch eine emotionale Beziehung miteinander verbunden sind, und drittens, dass die Eltern eine finanzielle und juristische Verantwortung für die Kinder bis zu ihrer Mündigkeit tragen (2). Diese «sparsamen» Definitionen versuchen, den verschiedenen Formen und familiären Realitäten gerecht zu werden, wie der Kernfamilie (Zwei-Eltern-Familie mit Kindern), die weiter nach Beziehungsstatus (verheiratet oder ohne Trauschein zusammenlebend) und Geschlechtsorientierung der Eltern (heterosexuell oder gleichgeschlechtlich) differenziert werden kann, den Ein-ElternFamilien (Mütter oder Väter mit Kindern aufgrund von Trennung/Scheidung, Verwitwung, geografischer Distanz), den einfachen und komplexen Stief- respektive Fortsetzungsfamilien (neu zusammengesetzte Familien mit oder ohne Eheschliessung mit Kindern aus früheren Beziehungen bzw. zusätzlich gemeinsamen Kindern aus der neuen Verbindung), den Adoptionsfamilien, Pflegefamilien, Regenbogenfamilien usw. Am häufigsten wachsen Kinder in der Schweiz weiterhin in Zwei-Eltern-Familien auf, in denen die Eltern miteinander verheiratet sind (rund 72% der Kinder). Ein-Eltern-Familien bilden mit 15 Prozent die zweitgrösste Gruppe (3).
Auch wenn gelegentlich zu lesen ist, dass diese Pluralität historisch einmalig sei, stimmt das nicht. Es gab immer schon diese Vielfalt. Allerdings waren die Gründe früher häufig andere als heutzutage. Während es früher Ein-Eltern-Familien oder Stieffamilien vor allem aufgrund der hohen Sterblichkeit infolge von Seuchen, Krankheiten, Kriegen, Hungersnöten oder schlechter Hygiene gab, ist heute die Scheidung der Hauptgrund dafür.
Gemischtgeschlechtliche Familienformen und Kindeswohl
Studien zu Auswirkungen der verschiedenen Familienformen zeichnen ein homogenes Bild. So zeigt sich übereinstimmend, dass für eine gesunde Entwicklung der Kinder die Zwei-Eltern-Familie die beste Voraussetzung bietet (4). Kinder in dieser Familienform weisen in der Regel weniger Auffälligkei-
ten und psychische Prob- Eine intakte, zufriedenstelleme auf. Als am ungüns- lende Zwei-Eltern-Familie tigsten erweisen sich bietet die besten VoraussetEin-Eltern-Familien und zungen für die Entwicklung komplexe Fortsetzungs- der Kinder.
oder Stieffamilien. Unter einer komplexen Fortsetzungsfamilie versteht man eine neue Familie mit beispielsweise der biologischen Mutter oder dem biologischen Vater mit einem neuen Partner oder einer neuen Partnerin, wobei einer oder beide sowohl Kinder aus einer früheren Beziehung in die neue Familie mitbringen als auch zusätzlich gemeinsame Kinder miteinander haben. In einer deutschen Untersuchung wurde bei 14 Prozent der Kinder in einer Zwei-Eltern-Familie eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens festgestellt, gegenüber 24 Prozent in Ein-Eltern-Familien und 38 Prozent in komplexen Fortsetzungsfamilien (5). Zieht man weitere Kriterien für die Befindlichkeit der Kinder heran, wie beispielsweise die Beziehungsqualität zu Mutter und Vater, das Alter beim ersten Dating oder ersten Geschlechtsverkehr (als Indikator für vorzeitige
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Aussenorientierung und frühe Ablösung von den Eltern)
oder den Suchtmittelkonsum (Alkohol, Nikotin, Drogen),
präsentiert sich ein vergleichbares Bild. In all diesen Va-
riablen schneiden die Kinder und Jugendlichen aus
Zwei-Eltern-Familien und verwitweten Familien besser
ab. In diesen beiden Familienformen findet sich eine bes-
sere Beziehung zu Mutter und Vater, ein höheres Alter
beim ersten Dating und Geschlechtsverkehr, und diese
Letztlich scheint die Familien-
Kinder und Jugendlichen rauchen weni-
form per se weniger relevant für eine gesunde Entwicklung der Kinder zu sein als die Qualität der Familienbe ziehungen, das Familienklima und der Umgang miteinander.
ger, konsumieren weniger Drogen und trinken etwas weniger Alkohol (6). Bei den Ein-Eltern-Familien und
Fortsetzungsfamilien
fallen insbesondere die schlechtere Beziehung zum Vater
auf, die frühere Aussenorientierung und der höhere Kon-
sum von Suchtmitteln.
Besonders interessant wird es allerdings, wenn man bei
den Zwei-Eltern-Familien diejenigen, welche harmo-
nisch-zufrieden sind, von denjenigen, welche häufige
destruktive Konflikte angeben, unterscheidet und die
Effekte der Qualität (nicht nur der Form) auf die Kinder
und Jugendlichen untersucht. Dabei wird deutlich, dass
die oben berichteten positiven Effekte nur bei intakten,
zufriedenstellenden Zwei-Eltern-Familien nachweisbar
sind. Diejenigen Kinder und Jugendlichen aus konflikt-
reichen Zwei-Eltern-Familien unterscheiden sich nicht
mehr von den Kindern aus Ein-Eltern- und Fortsetzungs-
familien und zeigen ein ähnlich ungünstiges Bild, beim
Alkoholkonsum sogar die höchsten Werte (6).
Was sagen uns diese Ergebnisse?
Sie relativieren die Annahme, dass die Familienform für die Entwicklung der Kinder von prägender Bedeutung sei. Vielmehr erweist sich die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie als relevanterer Faktor als die Familienform per se. In einer Zwei-Eltern-Familie aufzuwachsen, ist nur dann ein Protektivfaktor und für das Wohl des Kindes förderlich, wenn die Qualität der elterlichen Beziehung positiv und das Familienklima günstig ist. Bei Eltern mit häufigem dysfunktionalem Streitverhalten und einem negativen Familienklima dagegen haben die Kinder keinen Vorteil gegenüber den Kindern in Ein-Elternoder Fortsetzungsfamilien. Sie haben dieselben Schwierigkeiten und Auffälligkeiten wie diese.
Ein-Eltern-Familien sind vulnerabler
Doch warum gilt das nicht gleichermassen für Ein-Elternund Fortsetzungsfamilien? Spielt dort nicht auch vor allem oder ausschliesslich die Qualität der Beziehungen die ausschlaggebende Rolle? Zwar gilt zwar auch für diese Familienformen, dass es stärker auf die Qualität der gelebten Familienbeziehungen ankommt, als auf die Form per se (was allerdings bisher noch nie systematisch untersucht wurde). Dennoch zeigen sich in allen Studien Belastungsmomente bei diesen beiden Familientypen aufgrund der Familienform. Während bei einer harmonisch-glücklichen Zwei-Eltern-Familie beide Eltern gemeinsam für den Lebensunterhalt, das Familienleben, die Organisation der Abläufe
und die Pflege und Erziehung der Kinder sorgen und sich in Belastungsmomenten wechselseitig unterstützen und dadurch Stress und Überforderungsmomente abfedern können, ist das bei Ein-Eltern-Familien viel weniger bis gar nicht der Fall. Hier ist die Mutter oder der Vater vielfach allein mit den Kindern und trägt die gesamte Last, ist für alle Bereiche selbst verantwortlich und stemmt das ganze Pensum allein. Häufig verbinden sich Berufstätigkeit (nach der Scheidung, auch wenn die Mutter oder der Vater vorher nicht oder nur in einem geringen Pensum erwerbstätig war), Haushaltsführung und Kindererziehung, was zu einem deutlich höheren Stressniveau führt. Es fehlt in diesen Familien das «selbstverständliche Back-up» durch den Partner, wenn einem alles zu viel wird. Es fehlen die gewohnten, unkomplizierten Möglichkeiten zur spontanen Regeneration, wenn man diese kurzfristig benötigt und den Stab an den anderen weitergibt, und es fehlt das gemeinsame Tragen der Verantwortung. Dies macht für das Erleben und den Handlungsspielraum in Ein-Eltern-Familien einen hoch relevanten Unterschied gegenüber Zwei-Eltern-Familien. Ein-Eltern-Familien haben in der Regel weniger Ressourcen und sind deshalb vulnerabler. Das wirkt sich auch auf das kindliche Befinden aus. Die Kinder in Ein-Eltern-Familien haben häufig weniger quantitative und qualitative Zeit, die sie mit dem alleinerziehenden Elternteil verbringen können, erleben diesen häufig abends als ausgelaugt, nicht mehr belastbar und am Ende seiner Kräfte. Sie können ihm weniger anvertrauen, da sie nicht noch mehr Stress verursachen möchten, müssen früher als andere selbst anpacken und im Haushalt mithelfen (daher die frühere Aussenorientierung). Zudem sind die finanziellen Verhältnisse häufig beengt, sodass diese Kinder weniger Ressourcen aufbauen und Hobbys nachgehen können (z. B. Musikunterricht, Sportvereine), womit ein wichtiger Protektivfaktor entfällt. Es sind mit der Familienform Ein-Eltern-Familie einhergehende strukturelle, äussere Faktoren, welche diese Form für Kinder ungünstiger machen als die intakte Zwei-Eltern-Familie. Zwar können die Eltern durch eine hohe Beziehungsqualität und Bindung diese Effekte kompensieren, doch fehlen ihnen häufig aufgrund der widrigen Bedingungen die Zeit und die Kraft dazu, um das gemäss ihren Wünschen und Vorstellungen umsetzen zu können. Ferner gehen bei Ein-Eltern-Familien oft im Nachgang zu konfliktreichen Scheidungen die Väter «verloren». Die Kinder sehen ihren Vater nur selten, oder er verschwindet allmählich ganz aus ihrem Leben, wodurch sie einen weiteren wichtigen Protektivfaktor einbüssen.
Warum schneiden Kinder aus komplexen Fortsetzungsfamilien schlechter ab?
Hierfür gibt es vor allem zwei Gründe: Erstens gestaltet sich die emotionale Reorganisation schwieriger, zweitens steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die biologischen Väter in diesem Familienmodell verloren gehen. Emotionale Reorganisation und Adaptation: Unter komplexen Fortsetzungsfamilien verstehen wir Patchworkfamilien, bei denen Kinder aus den beiden ersten Beziehungen und zusätzlich Kinder aus dem neuen Bund
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in der Familie leben. Eine Scheidung stellt für den Grossteil der Kinder eine herausfordernde und belastende Situation dar. Wenn die gewohnte und Geborgenheit stiftende bisherige Lebensform aufgelöst wird, bedeutet das Stress auf der emotionalen Ebene (Unverständnis, Wut, Trauer, Angst, Scham, Schuldgefühle), der sozialen Ebene (Neuorganisation der Beziehungen zu Mutter, Vater, Grosseltern, Verwandten und die Häufigkeit der Kontakte und deren Veränderung), der schulischen Ebene (Verunsicherung führt häufig zu einem Leistungseinbruch und zu Schulunlust), der strukturellen Ebene (häufig erfolgt ein Umzug in eine andere Wohnung oder Wohngegend mit dem Verlust des bisher Bekannten, mit beengten finanziellen Verhältnissen und mit einem Verlust des bisherigen Freundesnetzes) und vieles mehr. Eine Scheidung stellt damit eine erhebliche Reorganisation des Lebens dar. Das Kind versteht häufig die Gründe nicht, weshalb sich die Eltern trennen, macht sich selbst Vorwürfe und denkt, dass es daran schuld sei. Es wünscht sich die Wiederherstellung der alten Verhältnisse und beide Eltern gleichermassen zurück. Die Anpassung an diese Situation erfordert von allen viel. Noch anspruchsvoller wird es, wenn auf die Auflösung der bisherigen Familie die Entstehung einer neuen Familie folgt. Auf einmal sind da andere Kinder, die Halbgeschwister sind, und es tritt ein neuer Partner oder eine neue Partnerin an die Seite des Vaters oder der Mutter. Das Kind muss sich emotional gegenüber neuen Menschen in der Familie öffnen, diese neu als zur Familie gehörig anerkennen und lieben lernen. Es muss «alte» Familienmitglieder in den Hintergrund stellen (z. B. frühere Grosseltern) und neue in sein Leben lassen. Häufig entstehen die neuen Familien relativ rasch nach der Scheidung. So zeigt eine deutsche Studie (7), dass zwei Drittel der Mütter nach drei Jahren mit einem neuen Partner leben. 73 Prozent der Partner bringen eigene Kinder mit. 39 Prozent der Mütter leben mit dem neuen Partner und seinen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Bei den Vätern sind es 89 Prozent, die in diesem Zeitraum eine neue Beziehung eingegangen sind, 31 Prozent haben sich wieder verheiratet, und 22 Prozent planen eine neue Eheschliessung. In einem Fünftel dieser neuen Beziehungen gibt es ein gemeinsames Kind, oder die Partnerin ist schwanger. Während die neuen Partner und Partnerinnen der Eltern deren Kinder rasch als zur Familie gehörig bezeichnen, zählen zu Beginn lediglich 35 Prozent der Kinder den Partner der Mutter zur Familie und 16 Prozent die Partnerin des Vaters. Die Halbgeschwister werden bei 2 Prozent der Kinder als zur Familie gehörig erlebt. Zwar beziehen sich diese Angaben auf die frühe Phase der Neugründung der Fortsetzungsfamilie, und mit zunehmender Dauer gelingt den meisten eine Integration der neuen Personen in ihr Familienbild. Sie zeigen jedoch, dass dahinter ein längerer Anpassungsprozess steht und sich die neue Familie grundlegend neu erschaffen muss. Weniger aus Sicht der Eltern als aus Sicht der Kinder, die sich anfangs damit schwerer tun. Das hängt zum einen mit dem Alter zusammen, zum anderen mit der Tatsache, dass sie nicht aktive Mitentscheidende sind, sondern sich an die von aussen auferlegten Änderungen anpassen müssen. In Fortsetzungsfamilien leben rund 15 Prozent mit Halboder Stiefgeschwistern, die bereits bei der Gründung der Fortsetzungsfamilie dazukommen, weitere rund 12 Pro-
zent werden in der neuen Beziehung geboren (8). Damit
stellt sich etlichen Kindern die Aufgabe, neue Geschwis-
ter in ihr Leben zu integrieren.
Charakteristisch für die klassische Geschwisterbeziehung
ist, dass sie von Geburt an besteht, dass man sehr viel Zeit
miteinander verbringt (oft mehr als mit den Eltern, sie gilt
auch als die am längsten dauernde Sozialbeziehung) und
dass sie emotional sehr eng ist, was allerdings nicht nur
positive Emotionen bedeutet (9). Geschwisterbeziehun-
gen bilden häufig (auch in intakten Zwei-Eltern-Familien)
Anlass für Zank und Zwist auf der einen Seite und Intimi-
tät, Vertrautheit und
Unterstützung auf der anderen. Viele Geschwister hegen einander gegenüber ambivalente Gefühle (Zufriedenheit, Stolz, Freude, aber ebenso oft auch Eifersucht, Neid, Rivalität)
Ein ernst zu nehmendes Problem stellt der «Verlust der Väter» nach einer Scheidung dar. Wichtiger als das gemeinsame Sorgerecht ist die effektiv mit dem Vater verbrachte Zeit.
(10). Rund 20 Prozent
der Interaktionen zwischen Geschwistern sind mit nega-
tiven Emotionen besetzt, wesentlich mehr als bei Inter-
aktionen mit Eltern oder Freunden (11).
Die Frage, wie sich die Nachscheidungsfamilien konstitu-
ieren und ob Konflikte und negative Gefühle bei neuen
Halb- und Stiefgeschwistern häufiger auftreten, wird
kontrovers diskutiert (12). Zum einen zeigt eine deutsche
Studie (7), dass Kinder sechs Jahre nach der Scheidung
ihre Familie weiterhin aus biologischer Mutter, biologi-
schem Vater und biologischen Geschwistern bestehend
definieren und die Halbgeschwister nur selten als zur
Familie gehörig bezeichnen. Auch nach zwanzig Jahren
bezeichnet nur knapp ein Drittel die Halbgeschwister als
Geschwister (13). Dies erfordert emotionale Offenheit
und Neuorientierung. Zum anderen gibt es keine Hin-
weise dafür, dass die Halbgeschwisterbeziehungen qua-
litativ schlechter sind als die zwischen biologischen Ge-
schwistern. Es finden sich in Fortsetzungsfamilien genauso
konfliktreiche, unterstützende und ambivalente Beziehun-
gen wie in Zwei-Eltern-Familien (12).
Verlust der Väter: Ein ernst zu nehmendes Problem
stellt der «Verlust der Väter» nach einer Scheidung dar.
So zeigen Studien, dass nach einer Scheidung die Häufig-
keit der Kontakte zu den Vätern abnimmt. Während
16 Prozent der Kinder ihre Väter weiterhin regelmässig
sehen, sehen ihn 35 Prozent der Kinder alle zwei Wochen
am Wochenende, 19 Prozent einmal im Monat, und
24 Prozent haben keinen Kontakt mehr (14). Wichtiger
als das gemeinsame Sorgerecht erweist sich die effektiv
mit dem Vater verbrachte Zeit. Wenn beide Eltern in ähn-
lichem Ausmass in die Kinderbetreuung nach der Schei-
dung einbezogen bleiben, findet sich die höchste Quali-
tät in der Beziehung der Kinder zu beiden Eltern (15).
Das väterliche Engagement (Häufigkeit und Verlässlich-
keit der Zahlung der Alimente, verbrachte Zeit mit dem
Kind, Zuneigung/Bindung und gesunde elterliche Autori-
tät als Leitlinie und strukturgebende Grösse) erweist sich
als entscheidend für das Verhältnis zu den Kindern nach
der Scheidung (16). Allerdings zeigt sich, dass das väter-
liche Engagement häufig abnimmt, wenn die Mutter ei-
nen neuen Partner hat und dieser den biologischen Vater
aus der Familie zu verdrängen beginnt (17).
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Für die Kinder ist dieses «Verblassen» des Vaters und sein oft völliges Ausscheiden aus ihrem Leben problematisch, und es wird als nachhaltiger emotionaler Verlust erlebt. Die Kinder, die weiterhin meist am biologischen Vater als für sie natürlicherweise zu ihrer Familie gehöriges Mitglied festhalten (siehe oben), fühlen sich durch seinen Rückzug zurückgestossen, verunsichert und ungeliebt. Sie nehmen sein Verhalten als persönliche Ablehnung wahr und leiden darunter. Das führt häufig zu einer weiteren längerfristigen Belastung nach einer Scheidung.
Gleichgeschlechtliche Familien und Kindeswohl
Auch wenn Kinder, die in gleichgeschlechtlichen Familien aufwachsen, zurzeit eine kleinere Gruppe bilden, spielen sie innerhalb der neuen Familienformen eine Rolle. Rund 83 Prozent dieser Kinder wachsen zunächst in einer heterosexuellen Familie auf und erleben im Zuge des Coming-outs von Mutter oder Vater anschliessend den Wechsel in eine Regenbogenfamilie. Forschungsbefunde zu diesen Kindern zeigen mehrheitlich keine Unterschiede in Abhängigkeit der Familienform (homo- vs. heterosexuell). So finden sich keine Unterschiede in Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehung, die kognitive Entwicklung des Kindes, sein Rollenverständnis, seine Geschlechtsidentität oder seine Sexualpräferenzen. Auch im Hinblick auf das psychische Befinden unterscheiden sich Kinder aus gleich- oder gemischtgeschlechtlichen Familien nicht (18). Allerdings berichten 47 Prozent der Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern von Diskriminierungserfahrungen, was auf eine familienspezifische Belastung hinweist (19). Insgesamt kann man aufgrund der bisherigen Studien daraus folgern, dass die Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien ähnliche Entwicklungsbedingungen haben wie Kinder aus gemischtgeschlechtlichen Familien. Allerdings sollten künftige Studien die Qualität der Familien einbeziehen und nicht nur die Form per se als Unterscheidungskriterium verwenden. Auch sollten die Effekte gleichgeschlechtlicher Familien auf die Kinder nach Sexualorientierung der Eltern (lesbisch, schwul) genauer untersucht werden, da sich hier Unterschiede zeigen können, worauf eine Studie aus den USA hinweist (20).
Fazit
Letztlich scheint die Familienform weniger relevant für eine gesunde Entwicklung der Kinder zu sein als die Qualität der Familienbeziehungen (Elternbeziehung, Eltern-Kind-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen), das Familienklima und der Umgang miteinander (z. B. konstruktive Konfliktkultur, gegenseitige Offenheit und wechselseitige Unterstützung). Als Familie zu leben bedeutet vor diesem Hintergrund nicht nur die eigene Definition von Familie, sondern insbesondere die Umsetzung und Realisierung einer für die Kinder förderlichen Familienkultur, bei der alle mitwirken müssen, die Eltern jedoch eine Schlüsselrolle spielen. Obgleich sich die Zwei-Eltern-Familie als günstigste Form erweist, da sie am meisten strukturelle, finanzielle, emotionale und soziale Ressourcen zur Verfügung stellt, ist auch sie nur so positiv für die Kinder, wie es den Eltern gelingt, eine hohe Beziehungsqualität innerhalb der Familie zu leben. Damit sich Kinder gut entwickeln können,
bedürfen sie einer sicheren Bindung, einer liebevollen
und strukturgebenden Erziehung und psychisch stabiler
Eltern, die eine zufriedenstellende Paarbeziehung führen.
Darauf kommt es an – in den unterschiedlichen Familien-
formen gleichermassen.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Guy Bodenmann
Universität Zürich, Psychologisches Institut
Klinische Psychologie, Kinder/Jugendliche & Paare/Familien
Binzmühlestrasse 14/23
8050 Zürich
E-Mail: guy.bodenmann@psychologie.uzh.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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