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Stationäre Behandlung bei Fütterstörungen und Sondenentwöhnung
Neben den organischen Voraussetzungen beeinflussen vor allem die Kommunikation und das Zusammenspiel zwischen Kind und nährender Umwelt die Entwicklung der für die Nahrungsaufnahme notwendigen Fähigkeiten des Kindes. Im Folgenden werden mögliche Störfaktoren dieser Entwicklung erläutert und Strategien zur Behandlung bei Fütterstörungen aufgezeigt.
Von Margarete Bolten
Die Nahrungsaufnahme ist eine der ersten und die wohl wichtigste Entwicklungsaufgabe, welche Neugeborene meistern müssen. Die Nahrungszufuhr stellt auf der einen Seite das Überleben des Säuglings auf der physiologischen Ebene sicher, beinhaltet auf der anderen Seite aber zu einem erheblichen Anteil auch interaktionelle Komponenten, welche für den Bindungsaufbau und die soziale Entwicklung relevant sind.
Frühkindliche Ernährungsentwicklung und mögliche Störfaktoren
Die kindliche Ernährungsform ist der jeweiligen Entwicklungsphase des Kindes angepasst. Sie entspricht seinen Möglichkeiten, bestimmte Nahrungsmittel aufzunehmen und zu verdauen. Jedoch beeinflussen neben den organischen Voraussetzungen vor allem die Kommunikation und das Zusammenspiel zwischen Kind und nährender Umwelt seine funktionelle, motorische, olfaktorische und geschmacksmässige Entwicklung des Essens. Im Verlauf der Entwicklung des Essens werden Kinder zunehmend unabhängiger von ihren Bezugspersonen. Ein Säugling muss für die Umstellung von reiner Milchnahrung auf Löffelkost mit festen Anteilen verschiedene Fähigkeiten entwickelt haben, und er muss neue Nahrungsmittel bezüglich Geschmack und Textur akzeptieren. Neben reifungsassoziierten Faktoren, wie beispielsweise der anatomischen und kognitiven Reife, sowie oralmotorischen Fähigkeiten haben physiologische Regelmechanismen von Hunger und Sättigung eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung des Essverhaltens und der Esskompetenz von Säuglingen und Kleinkindern. Zusätzlich spielt aber auch eine Vielzahl von Lerneinflüssen eine Rolle. Die Lernumwelt wird im Säuglings- und Kleinkindalter vor allem durch die Interaktionen mit den Eltern bestimmt. Die Eltern oder Bezugspersonen machen dabei Nahrungsangebote und strukturieren den Tag beziehungsweise die Mahlzeiten, sie füttern das Kind und setzen Grenzen. Erhält ein Kind nur eingeschränkte Nahrungsreize, das heisst begrenzte Angebote an Nahrungs-
mitteln, können auch keine neuen sensorischen Erfahrungen beim Verarbeiten der Nahrung (Beissen, Kauen, Schlucken) gewonnen werden. Dadurch ist das Kind in seinen Entwicklungsschritten im Hinblick auf die Erweiterung des Nahrungsmittelspektrums eingeschränkt. Im Zusammenhang mit den Lernerfahrungen sind aber auch Traumatisierungen im Mund-Rachen-Bereich zu nennen. Diese können zum Beispiel durch forciertes Füttern, unsachgemässe Zubereitung der Nahrung (hohe Temperaturen), Verschlucken und Erbrechen oder aber auch durch intensivmedizinische Massnahmen entstehen. Entsprechend kann es in diesem Gefüge zu Störungen der normativen Essentwicklung kommen.
Was sind Fütterstörungen und Sondendependenzen?
Die «Fütterstörung im frühen Kindesalter» (F98.2) in der ICD-10 wird als «eine für das frühe Kindesalter spezifische Störung beim Gefüttertwerden» beschrieben (1). Gleichzeitig muss es per definitionem beim Kind zu einem Gewichtsverlust beziehungsweise einer mangelhaften Gewichtszunahme in Abwesenheit anderer psychischer oder organischer Krankheiten kommen. Diese Definition ist in vielerlei Hinsicht problematisch, da sie die anhaltende Unfähigkeit, adäquat zu essen, nur sehr allgemein formuliert ist. Ausserdem müssen Fütterstörungen nicht zwangsläufig mit Gedeihstörungen assoziiert sein. Wie Chatoor (2) ausführt, sind Gedeihstörungen ein mögliches Symptom einer Fütterstörung, aber keine zwingende Voraussetzung für die Vergabe der Diagnose. Mit anderen Worten: Manche Fütterstörungen gehen mit einer mangelnden Gewichtszunahme einher, während andere Kinder trotz massiver Essstörung sehr gut gedeihen. Auch der Ausschluss medizinischer Krankheitsfaktoren muss kritisch bewertet werden. Natürlich müssen alleinige organische Ursachen für eine Fütter- und Essstörung ausgeschlossen werden. Jedoch gibt es Kinder mit organischen Grunderkrankungen, die komorbid eine Fütterund Essstörung entwickelten, welche trotz erfolgreicher
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Tabelle 1:
Mitglieder im multidisziplinären Behandlungsteam bei Fütterstörungen und ihre Aufgaben
Kinderärztin/Kinderarzt bzw. Fachärztin/Facharzt für pädiatrische Gastroenterologie
• pädiatrische Diagnostik und Behandlung von Begleiterkrankungen • Überwachung des Gesundheitszustands während der Behandlung • Überwachung des Gewichts, des körperlichen Wachstums und des Ernährungszustands
während der Behandlung
Psychotherapeutin/Psychotherapeut
• psychologische Diagnostik und Verhaltensanalyse • Erhebung der Essentwicklung • funktionale Analyse des elterlichen Fütterverhaltens und der Eltern-Kind-Interaktion während
der Mahlzeiten • Entwicklung von Strategien zur Verbesserung der kindlichen Nahrungsakzeptanz und des Ver-
haltens bei den Mahlzeiten • Elterntraining (ernährungsspezifisch und für andere Verhaltensprobleme) • Stressmanagement und emotionale Unterstützung der Eltern während der Behandlung
Ernährungsberaterin/Ernährungsberater
• Diagnostik des Ernährungszustands und der Wachstumsparameter (Gewicht, Grösse) • Berechnung des Nährstoffbedarfs • Erstellung von Ernährungsplänen und Empfehlungen für kindgerechte Ernährung • Logopädin oder Logopäde • klinische Evaluation und Diagnostik des Kau- und Schluckverhaltens sowie oralmotorischer
und pharyngealer Dysfunktionen • Schluck- und Kautraining • systematische Desensibilisierungen bei oraler Überempfindlichkeit und ängstlicher Abwehr • Empfehlungen zur Verbesserung der Effizienz und der Sicherheit beim Füttern
Ergotherapeutin/Ergotherapeut
• Diagnostik der sensorischen Verarbeitung und der Grob- und Feinmotorik • Diagnostik der Positionierung/Körperhaltung beim Füttern und der kindlichen Essfertigkeiten • Empfehlungen zur Verbesserung der oralmotorischen Fähigkeiten und der optimalen Sitzhal-
tung sowie zu therapeutischen Hilfsmitteln (z. B. Therapiestuhl) • sensorische Integrationstherapie
Behandlung der Grunderkrankung nicht verschwindet (3). Ferner haben neuere Studien (4, 5) wiederholt zeigen können, dass komorbide psychische Störungen bei Fütter- und Essstörungen sehr häufig sind. Internalisierende (vor allem Angststörungen) und externalisierende Störungen (vor allem Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten), aber auch Autismus-Spektrum-Störungen sind typische Komorbiditäten bei Fütterstörungen. Abschliessend muss kritisiert werden, dass in der ICD-10Definition der interaktionelle Aspekt einer Fütterstörung vollkommen ausgeblendet wird. Goday et al. (6) schlagen deshalb in einem Konzeptpapier den Begriff der pädiatrischen Fütterstörung (pediatric feeding disorder) vor. Voraussetzung für die Vergabe einer solchen Diagnose ist eine über mindestens 2 Wochen anhaltende Störung der Nahrungsaufnahme, die mit mindestens einem der folgenden Symptome einhergeht: ● medizinische Komplikationen (kardiorespiratorische
Probleme, wiederkehrende Aspirationen) ● ernährungsbedingte Dysfunktionen (Mangelernäh-
rung, Nährstoffmangel, Notwendigkeit von Sondennahrung oder Nahrungsergänzungsmitteln) ● Dysfunktionen in den Essfertigkeiten (z. B. Notwendigkeit des Pürierens/Andickens von Nahrungsmitteln) ● Adaptation der Körperpositionierung oder Fütterstrategien
● psychosoziale Dysfunktionen (Vermeidungsverhalten, ungeeignete Fütterstrategien der Bezugspersonen, beeinträchtige soziale Funktionen, beeinträchtigte Eltern-Kind-Beziehung).
Ausserdem müssen ein Mangel an Nahrung, Körperschemastörungen beziehungsweise kognitive Prozesse (wie z. B. bei der Anorexie) oder kulturelle Normen als Erklärung für die Symptome ausgeschlossen werden (7). Die vorgeschlagene Definition erleichtert die interdisziplinäre Arbeit auf den vier potenziell beeinträchtigten Ebenen: organische beziehungsweise medizinische Komplikationen, beeinträchtigte Ess- und Schluckfertigkeiten, Nährstoffversorgung und psychische Beeinträchtigung. Wie aus der Definition von Goday et al. (6) ersichtlich, kann die Notwendigkeit einer Sondenernährung Folge der Fütterstörung sein. Wir sprechen dann auch von einer Sondendependenz. Diese liegt dann vor, wenn trotz fehlender medizinischer Indikation die Sondenernährung weiter fortgeführt wird, weil eine ausreichende orale Ernährung vom Kind nicht zu meistern ist. Das Kind ist also von der Sondierung ohne weitere medizinische Indikation abhängig. Bei dieser Form der Fütterstörung haben wir es mit einem aktiven Widerstand beziehungsweise einer starken Abwehr gegenüber oraler Ernährung zu tun, der bei jedem Kontakt mit flüssigen, breiigen und festen Speisen erfolgt. Somit wird die Sondierung bei ausreichender körperlicher und oralmotorischer Funktion allein aufgrund der anhaltenden Nahrungsverweigerung fortgesetzt.
Wie werden Fütterstörungen oder Sondendependenzen behandelt?
Die absolute Voraussetzung für eine gelingende Behandlung einer Fütterstörung beziehungsweise Sondendependenz ist die positive Beziehung zum Kind und zu seinen Eltern. Sie ist Grundlage der Therapie, um das Kind und seine sozialen Systeme zu aktivieren und, damit einhergehend, orale Funktionen zu ermöglichen. Entsprechend werden der Säugling oder das Kleinkind und seine Eltern gemeinsam behandelt. Dabei kann die Therapie sowohl im teil- als auch im vollstationären Setting erfolgen. Beides sollte in spezialisierten Zentren durchgeführt werden, die über Erfahrungen mit Eltern-Kind-Therapien verfügen. Aus der Vielschichtigkeit der Problematik bei Fütter- und Essstörungen ergibt sich die Notwendigkeit eines multiprofessionellen Behandlungsrahmens mit verschiedenen Therapiebausteinen. In Tabelle 1 sind die wichtigsten beteiligten Professionen im interdisziplinären Behandlungsteam für Fütterstörungen mit ihren Hauptaufgaben aufgeführt. Selbstverständlich können je nach Indikation und Problematik auch noch weitere Professionen hinzukommen. So benötigen einige Kinder zusätzlich auch Physiotherapie oder die Familie eine sozialpädagogische Unterstützung. Bei der Behandlung von frühkindlichen Fütterstörungen und Sondendependenz kommen die allgemeinen Grundelemente der Therapie mit jungen Kindern und ihren Eltern zum Tragen. Diese umfassen eine Entwicklungsberatung, Elterntrainings, Eltern-Kind-Interaktionstherapien (zum Teil videogestützt) sowie verhaltenstherapeutische und psychodynamische Verfahren. Bei Schluck- und Kauschwierigkeiten sollte vorgängig immer ein Training der oralen Sensibilität und der Mundmotorik durch Logopädinnen oder Logopäden erfolgen. Unter stationären
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Bedingungen sind vor allem die klare Strukturierung der Mahlzeiten mit Phasen von Nahrungsabstinenz notwendig, um das Hungergefühl des Kindes zu aktivieren. Daneben sind videogestützte Psychotherapien, speziell zur Situation beim Essen, wichtig. Die Aufnahmen werden anschliessend mit den Eltern angeschaut und reflektiert, wobei zunächst positive Interaktionen herausgesucht werden und man sich allmählich den problematischen Momenten annähert. Zudem kommt bei der Behandlung von Fütterstörungen eine Reihe spezifischer Therapieelemente ergänzend hinzu, welche in Tabelle 2 dargestellt sind. Ein wesentlicher Pfeiler der stationären Behandlung bei frühkindlichen Fütterstörungen ist das verhaltensorientierte Esstraining durch spezialisierte Fachpersonen (Logopädie, Pflege, Psychologie). Dieses Esstraining umfasst spezifische behaviorale Techniken, wie sie in Tabelle 3 dargestellt sind. Während der gesamten Behandlungsphase ist es von zentraler Bedeutung, Stress zu vermeiden, denn Stress stellt für das Kind eine Bedrohung dar und führt deshalb zu Kampf- oder Fluchtverhalten (Abwehr des Essens).
Stress kann durch Traumatrigger (z. B. Löffel oder andere Gegenstände, bestimmte Positionen, Anforderungen oder Nahrungsmittel), aber auch durch stressauslösende Handlungen während der Therapie (z. B. Belastungen der Eltern, zu schnelles und häufiges Anbieten von Nahrung) ausgelöst werden. Auch Hunger kann ein solcher Stressor sein. Bei der Behandlung von Fütterstörungen ist deshalb darauf zu achten, dass das Kind zwar Appetit erlebt, jedoch nicht durch zu viel Hunger belastet wird. Mehr Hunger bedeutet nicht gleich mehr essen! Vielmehr bedarf es der Sensitivität des Teams, Stressäusserungen frühzeitig wahrzunehmen und Stressauslöser zu vermeiden. In diesem Kontext ist auch die Vorhersagbarkeit aller Handlungen für das Kind und die Eltern wichtig. Aus diesem Grund sollte es vor und während der Behandlung regelmässige Teambesprechungen mit den Eltern geben, um alle Schritte klar und vorhersehbar zu machen. Für das Kind bedeutet Vorhersehbarkeit vor allem in den Füttersituationen, dass die Handlungsabfolge klar strukturiert und vom Kind geleitet sein muss. Im Detail bedeutet das: Der Vater oder die Mutter beziehungsweise eine The-
Tabelle 2:
Spezifische Therapiebausteine für die Behandlung von Fütterstörungen und Sondendependenz
Ziel Definition
Interventionen
Altersadäquate Ernährung
Wiederholtes Angebot von altersadäquaten Nahrungsmitteln
Tagesstruktur (inkl. Mahlzeiten) und angemessene Mahlzeitendauer Stimuluskontrolle
Mahlzeiten und Übergänge
Dem Kind sollte seinem Entwicklungsalter und den oral-moto rischen Fähigkeiten entsprechende Kost angeboten werden. Die Texturen, Inhaltsstoffe und der Geschmack sollten den Möglichkeiten des Kindes entsprechen und seinen Bedarf an Nährstoffen decken.
Wiederholtes Anbieten von neuen bzw. abgelehnten Nahrungsmitteln bei den meisten Mahlzeiten.
Feste Essenszeiten, zu denen das Kind Nahrungsmittel angeboten bekommt, und Nahrungspausen zwischen diesen Mahlzeiten, um Hunger zu induzieren. Kein Nahrungsangebot (auch keine Getränke, ausser Wasser) zwischen den Mahlzeiten. Anpassung der Umgebung während der Mahlzeiten, um erwünschtes Verhalten zu verstärken und unerwünschtes Verhalten zu minimieren.
Strategien, um dem Kind den Beginn einer Mahlzeit zu erleichtern.
Multiprofessionelle Diagnostik des kognitiven, motorischen, oralmotorischen, sprachlichen und interaktionellen Funktionsniveaus zur Feststellung möglicher Entwicklungsretardierungen.
Empfehlungen hinsichtlich der altersadäquaten Kost gemäss Leitlinien der pädiatrischen und ernährungswissenschaftlichen Fachgesellschaften unter Berücksichtigung möglicher Entwicklungsverzögerungen.
Mindestens 20 Expositionen mit neuen/abgelehnten Nahrungsmitteln mit gradueller Exposition: • Anwesenheit des Lebensmittels auf dem Tisch • Anwesenheit des Lebensmittels auf dem Teller • Lebensmittel anfassen • am Lebensmittel riechen • am Lebensmittel lecken • Lebensmittel in den Mund nehmen ohne Schlucken und Kauen • Lebensmittel schlucken
Mahlzeiten nur am Tag, keine Nahrung in der Nacht. Mahlzeiten werden fest geplant mit Nahrungspausen von ca. 3 Stunden. Dauer einer Mahlzeit max. 30 Minuten.
Alle Mahlzeiten nur am Tisch. Kind sitzt immer auf einem passenden Stuhl. Tagesstruktur und Mahlzeitendauer beachten. Keine Ablenkung durch Spielzeug, Bücher oder TV/Video. Kein Nahrungsangebot zwischen den Mahlzeiten. Dem Kind erlauben, nicht zu essen, um die natürlich folgende Konsequenz des Hungers zu erleben.
Vermeidung besonders beliebter Aktivitäten vor der Mahlzeit, Ruhige oder weniger bevorzugte Aktivitäten direkt vor der Mahlzeit durchführen. Rituale einführen, welche immer vor der Mahlzeit durchgeführt werden (z. B. Hände waschen, Singen, für das Essen danken). Besonders beliebte Aktivitäten als Belohnung für erreichte Ziele beim Essen (z. B. mind. 10 Minuten am Tisch bleiben, während der Mahlzeit ein neues Lebensmittel probieren) direkt im Anschluss durchführen.
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Tabelle 3:
Behaviorale Techniken im Rahmen eines Esstrainings
Ziel Definition
Interventionen
Shaping
Differenzielle Verstärkung Chaining
Prompting Escape/Extinction
Schrittweise positive Verstärkung einzelner Verhaltensweisen und damit stufenweise Annäherung an ein gewünschtes Zielverhalten. Hierfür wird das Zielverhalten in einzelne Teilschritte unterteilt, welche jeweils bei Ausführung verstärkt werden.
Erwünschtes Verhalten wird belohnt, unerwünschtes Verhalten wird dagegen, soweit möglich, ignoriert.
Komplexere Verhaltensweisen sollen durch «Verkettung» einzelner Verhaltenselemente erlernt werden. Der Verstärker (z. B. Lob) erfolgt erst, wenn das letzte Glied der Verhaltenskette gezeigt wurde.
Verbale oder behaviorale Hilfestellung für das Kind durch Therapeut/Eltern erleichtert das Erlernen einer Verhaltensweise. Flucht/Vermeidung vor einer spezifischen Situation oder einem spezifischen Stimulus wird unterbunden.
Wenn das Kind lernen soll, gemeinsam mit seiner Familie am Tisch die Mahlzeiten einzunehmen, durchläuft es folgende Teilschritte, welche jeweils bei Ausführung verstärkt werden: • sich dem Tisch nähern • auf dem Stuhl Platz nehmen • akzeptieren, dass Nahrung auf den Teller gelegt wird • am Essen riechen • am Essen lecken • das Essen in dem Mund nehmen • das Essen kauen • das Essen schlucken
Das Kind wird gelobt, wenn es am Tisch sitzt und die Familienmitglieder beim Essen beobachtet. Ein Wutanfall, der auftritt, weil die Eltern sich weigern, ihm seine geforderte Speise zu bringen, wird ignoriert.
Das selbstständige Essen des Kindes soll gefördert werden. Dafür muss es sich in den Hochstuhl setzen, die Gabel in die Hand nehmen, diese zum Essen führen, etwas Nahrung mit der Gabel aufnehmen, die Gabel zum Mund führen und den Mund öffnen, danach das Essen einführen. Erst wenn alle Schritte durchgeführt wurden, wird das Kind gelobt.
Es wird zu Beginn der Mahlzeit immer ein gleichbleibendes Ritual vollzogen: Hände waschen, Lied singen, «Guten Appetit» sagen.
Dem Kind wir ein neues Nahrungsmittel gezeigt und in die Nähe des Mundes geführt. Bei dem Versuch des Kindes, vor dem neuen, unbekannten oder abgelehnten Lebensmittel zu fliehen bzw. dieses abzuwehren, wird der Stimulus weiterhin in der Nähe des Mundes belassen, bis die Vermeidung bzw. Flucht beendet wird und sich das Kind dem Lebensmittel zuwendet oder sogar probiert. Für die Kooperation wir das Kind gelobt.
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rapeutin oder oder ein Therapeut nimmt den Löffel/Finger mit Nahrung auf, das Kind bewegt sich auf den Löffel/ Finger zu, beide öffnen den Mund, und das Kind nimmt die Nahrung vom Löffel/Finger ab. Dann nimmt die fütternde Person den Löffel wieder zurück und füttert den nächsten Löffel. Während der gesamten Situation werden die Signale des Kindes beobachtet und respektiert. Bei frühkindlichen Fütter- und Essstörungen besteht bei den Eltern oft eine erhebliche psychische Belastung. Deshalb ist über die bereits genannten Therapiebausteine hinaus oft auch eine individuelle psychotherapeutische Begleitung der Eltern notwendig. Diese sollte möglichst frühzeitig Überlastungssymptome abfangen und die intui tiven elterlichen Kompetenzen fördern, um somit den kindlichen Symptomen entgegenzuwirken. Bei manchen Familien bedarf es ergänzend auch weiterer Jugendhilfemassnahmen, zum Beispiel sozialpädagogischer Familienbegleitung oder Tagesheim/Kita, um die Therapieerfolge aufrechtzuerhalten und Rückfälle zu vermeiden.
plinären Behandlungsteam indiziert. Eine stationäre Eltern-Kind-Behandlung sollte insbesondere dann in Erwägung gezogen werden, wenn: ● eine Störung mehrerer Symptombereiche (Ernährung,
Schlaf, Emotionsregulation, allgemeine Entwicklung) vorliegt ● das Gedeihen des Säuglings oder des Kleinkindes wesentlich beeinträchtigt ist ● bei den Eltern eine psychische Störung vorliegt, die mit einer deutlichen Beeinträchtigung beziehungsweise Verzerrung der Wahrnehmung der kindlichen Signale einhergeht ● die intuitiven elterlichen Kompetenzen aufgrund massiver psychosozialer Belastungen schwerwiegend einschränkt sind ● eine erhöhte Gefahr von Kindesvernachlässigung oder -misshandlung besteht ● eine ambulante Behandlung bereits ohne Erfolg durchgeführt wurde.
Wann braucht es eine stationäre Behandlung von Fütter- und Essproblemen?
Leichte Fütter- und Ernährungprobleme können häufig
auch im ambulanten Rahmen behandelt werden. Bei
schweren chronifizierten Ernährungsproblemen sowie
bei schweren organischen Begleiterkrankungen oder
einer tiefgreifenden Beziehungsstörung ist meist ein sta-
tionäres oder teilstationäres Setting mit einem interdiszi-
Korrespondenzadresse: Dr. Margarete Bolten Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Kornhausgasse 7 4051 Basel E-Mail: margarete.bolten@upk.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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Literatur: 1. Remschmidt H, Schmidt M, Poustka F: Multiaxiales Klassifikationssschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. 5. Aufl., Bern: Verlag Hans Huber, 2006. 2. Chatoor I: Fütterstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern – Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten. 2. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, 2016. 3. Berlin KS et al.: Patterns of medical and developmental comorbidities among children presenting with feeding problems: a latent class analysis. J Dev Behav Pediatr. 2011;32(1):41-47. 4. Krom H et al.: Health related quality of life of infants and children with avoidant restrictive food intake disorder. Int J Eat Disord. 2019;52(4):410-418. 5. Norris ML, Spettigue WJ, Katzman DK: Update on eating disorders: current perspectives on avoidant/restrictive food intake disorder in children and youth. Neuropsychiatr Dis Treat. 2016;12:213-218. 6. Goday PS et al.: Pediatric Feeding Disorder: Consensus Definition and Conceptual Framework. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2019;68(1):124-129. 7. Goday PS, Kuhn EM, Mikhailov TA: Early Parenteral Nutrition in Critically Ill Children Not Receiving Early Enteral Nutrition Is Associated With Significantly Higher Mortality. JPEN J Parenter Enteral Nutr. 2020;44(6):1096-1103.
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