Transkript
Alle(s) für die Familie
Von zu Hause ins Spital und zurück
Schwerpunkt
Anhand einer Patientengeschichte wird die familienorientierte Betreuung am Ostschweizer Kinderspital erläutert: vom Konzept über die Umsetzung im klinischen Alltag bis zur Weiterentwicklung in die Zukunft. Ziel ist es, Familien Sicherheit zu vermitteln, damit sie die vielfältigen Probleme, die bei schwer erkrankten Kindern auftreten, selbstwirksam bewältigen können.
Von Katrin Marfurt-Russenberger, Ellen Bonvin-Huber, Christian Henkel, Jürg C. Streuli und Oswald Hasselmann
Die 3-jährige Lea leidet unter einer progredienten neurologischen Erkrankung – eine hochkomplexe Situation, jedoch kein Einzelfall im Praxisalltag von Kinderspitälern und Kinderarztpraxen. Leas Situation (Kasten 1) prägt den Familienalltag, und im Falle eines Spitalaufenthalts prägen Lea und ihre Familie den Spitalalltag. Um solch komplexen Krankheitsverläufen gerecht zu werden, ist der Pflegedienst des Ostschweizer Kinderspitals (OKS) bereits seit 2005 mit dem Ansatz der familienzentrierten Pflege (FzP) (1) auf einem Weg, der nicht nur das Kind, sondern auch die Familie im Fokus hat. Der Ansatz wurde über die Jahre gezielt weiterentwickelt. Das 2013 erstellte Handbuch zur FzP (2) bildet die Grundlage des 2018 verabschiedeten Konzepts «Familienorientierte Betreuung am Ostschweizer Kinderspital» (FoB) (3) mit folgenden wesentlichen Punkten: Das Konzept bekennt sich zu einer biopsychosozialen Medizin und berücksichtigt die Bedürfnisse von Familien sowie deren Bedeutung für die Krankheitsbewältigung. Dabei wird in der Behandlung nicht ausschliesslich auf das Kind fokussiert, sondern gleichermassen die Bezugseinheit (Kind, Bezugsperson, Arzt, Pflege, relevante Andere) adressiert (4). Der familienorientierte systemische Zugang gilt als zielführend. Dabei werden Familien aktiv einbezogen und als Ort für Lösungen angesehen, besonders im Verlauf von chronischen Erkrankungen (1). Das Konzept basiert auf einer Zusammenarbeit von Kind, Familie und Behandlungsteam, um ein gemeinsames Gesundheits- und Krankheitsverständnis zu entwickeln. Es fördert die Gesundheit und die Krankheitsbewältigung mit dem Ziel, die Familien in ihren Kern- beziehungsweise Alltagsfunktionen sowie die Lebensqualität des Kindes oder des Jugendlichen zu stärken.
*Es handelt sich um ein fiktives Beispiel; alle Namen sind frei erfunden.
Es orientiert sich bei der Umsetzung in den Spitalalltag an den 10 Artikeln der EACH-Charta (European Association for Children in Hospitals) (5) (Kasten 2). Anhand von Leas Situation werden im Folgenden typische Situationen und Lösungsmöglichkeiten im Rahmen des FoB-Konzepts erläutert. Wo stehen wir in der Um-
Kasten 1:
Lea und ihre Familie*
Lea ist 3 Jahre alt. Sie leidet unter einer progredienten neurologischen Erkrankung und ist seit ihrem 8. Lebensmonat am Ostschweizer Kinderspital in Behandlung. In den letzten Jahren hat die Medizin für diese Erkrankung neue Therapieansätze ent wickelt. Die Behandlung kann die Belastungen der Erkrankung minimieren, nicht aber zu einer vollständigen Heilung führen. Leas Resilienz ist durch die Grunderkrankung zusätzlich eingeschränkt. Schwer verlaufende Infektionen bedingen wiederholt Spital aufenthalte. Lea hat zwei gesunde Geschwister, Tobias und Nina, welche 2 und 4 Jahre älter sind. Leas Mutter, Frau Huber, ist alleinerziehend. Ihr Mann hat sie kurz nach der Geburt von Lea verlassen, da ihn die Erkrankung von Lea zu sehr belastete. Tobias und Nina verbringen jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater. Seit einem Jahr hat Frau Huber einen neuen Partner, Herrn Clavadetscher. Frau Huber sagt, dass sie grosse Angst habe, an interdisziplinären Gesprächen teilzunehmen und ihre Anliegen zu äussern, da ihr dann jegliche Worte fehlten. Die Schwester (Frau Löscher) von Frau Huber, Patentante von Lea, beteiligt sich aktiv am Alltag der Familie. Sie betreut alle Kinder einmal pro Monat an einem Wochen ende, sodass Frau Huber eine Auszeit für sich nehmen kann. Die Familie wird bei Leas Pflege durch die Kinderspitex unterstützt. Frau Jenni, die Kinderärztin im Nachbardorf, kennt die Familie seit Jahren, und sie ist die erste An sprechperson bei gesundheitlichen Veränderungen. Frau Huber fühlt sich von ihr sehr gut betreut und ernst genommen. Für die Geschwister kommt jeweils am Mittwochnachmittag Frau Gloor von Pro Pallium (www.propallium.ch) mit ihrem Hund Goliath. Die Geschwister geniessen die Nachmittage mit den beiden, unternehmen gemeinsam Ausflüge oder spielen zu Hause.
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Kasten 2:
Charta für Kinder im Spital
EACH: European Association for Children in Hospital (1988): «Das Recht auf bestmögliche medizinische Behandlung ist ein fundamentales Recht, besonders für Kinder.»
Artikel 1 Kinder sollen nur dann in ein Krankenhaus aufgenommen werden, wenn die medizini sche Behandlung, die sie benötigen, nicht ebenso gut zu Hause oder in einer Tages klinik erfolgen kann.
Artikel 2 Kinder im Krankenhaus haben das Recht, ihre Eltern oder eine andere Bezugsperson jederzeit bei sich zu haben.
Artikel 3 Bei der Aufnahme eines Kindes ins Krankenhaus soll allen Eltern die Mitaufnahme angeboten werden, sie sollen ermutigt und es soll ihnen Hilfe angeboten werden, damit sie beim Kind bleiben können. Eltern dürfen daraus keine zusätzlichen Kosten oder Einkommenseinbussen entstehen. Um an der Pflege ihres Kindes teilnehmen zu können, müssen Eltern über die Grundpflege und den Stationsalltag informiert und ihre aktive Teilnahme daran soll unterstützt werden.
Artikel 4 Kinder und Eltern haben das Recht, ihrem Alter und ihrem Verständnis entsprechend informiert zu werden. Es sollen Massnahmen ergriffen werden, um körperlichen und seelischen Stress zu mildern.
Artikel 5 Kinder und Eltern haben das Recht, in alle Entscheidungen, die ihre gesundheitliche Betreuung betreffen, einbezogen zu werden. Jedes Kind soll vor unnötigen medizini schen Behandlungen und Untersuchungen geschützt werden.
Artikel 6 Kinder sollen gemeinsam mit anderen Kindern betreut werden, die von ihrer Entwick lung her ähnliche Bedürfnisse haben. Kinder sollen nicht in Erwachsenenstationen aufgenommen werden. Für Besucher dürfen keine Altersgrenzen festgelegt werden.
Artikel 7 Kinder haben das Recht auf eine Umgebung, die ihrem Alter und ihrem Zustand ent spricht und die ihnen umfangreiche Möglichkeiten zum Spielen, zur Erholung und Schulbildung gibt. Die Umgebung soll den Bedürfnissen der Kinder entsprechend geplant und eingerichtet sein und über das entsprechende Personal verfügen.
Artikel 8 Kinder haben das Recht auf Betreuung durch Personal, das durch Ausbildung und Einfühlungsvermögen befähigt ist, auf die körperlichen, seelischen und entwicklungs bedingten Bedürfnisse von Kindern und ihren Familien einzugehen.
Artikel 9 Kontinuität in der Pflege kranker Kinder soll durch ein möglichst kleines Team sicher gestellt werden.
Artikel 10 Kinder müssen mit Takt und Verständnis behandelt und ihre Intimsphäre muss jeder zeit respektiert werden.
Originaltext: ©EACH Charta 1988, übersetzt 2002 Die Charta ist mit Erläuterungen verfügbar unter: www.kindundspital.ch/organisation/charta/die-charta-deutsch
Kasten 3:
Konzepte zur Unterstützung der Behandlungskontinuität
Bezugspflege: Bei Eintritt werden Pflegefachperso nen bestimmt, welche die Verantwortung für den Pflegeprozess übernehmen. Ärztliche Fallführung: Eine ärztliche Hauptansprech person übernimmmt die Führung der Behandlung und definiert die Behandlungsziele in Zusammen arbeit mit dem familiären und professionellen Netz werk. Meist ist es ein Fachspezialist, der zusammen mit dem Kinderarzt die Verantwortung für die ambu lante Betreuung trägt. Während eines stationären Aufenthalts teilen sich die Stationsärzte und Be zugspflegende die Verantwortung in enger Abspra che mit der ärztlichen Fallführung. Betreuungsplan: Bei Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen und speziell bei Patien ten mit Palliative-Care-Bedarf gilt der Betreuungs plan des Paediatric Palliative Care Network CH (PPCN) (https://ppcnch.jimdofree.com/) als Leit faden. Darin sind die wichtigsten Behandlungsinfor mationen und -abmachungen sowie alle Ansprech personen aufgeführt. Der Betreuungsplan steht der Familie und dem gesamten Behandlungsteam zur Verfügung.
setzung der FoB, wenn wir uns wieder Familie Huber zuwenden? Lea muss aufgrund einer lebensbedrohlichen Infektion hospitalisiert werden. Neben der ärztlichen Anamnese und Diagnostik erhebt die Pflegefachperson auf der Station eine Anamnese, welche den Fokus auf den familienorientierten Ansatz legt. Dadurch lernt das Behandlungsteam die Familie und ihr Netzwerk zu Hause besser kennen. Die Pflegeanamnese beinhaltet folgende Schritte: ● Begrüssung (Vorstellung aller Beteiligten, Ablauf, Ziel,
Zeitrahmen) ● aktuelles Ereignis, das zum Spitaleintritt führte (Dia
gnose, Beschwerden, Therapien) ● Informationsstand ● Ängste, Sorgen, Erwartungen, Wünsche und Belas-
tungen ● Geno-/Öko- und Beziehungsdiagramm erstellen,
Wertschätzung aussprechen ● Gesund- und Kranksein (wichtige Erfahrungen inner-
halb der Familie) ● Lebensgeschichte, Lebenseinstellung, Glaube, Spiritu-
alität ● standardisierte Pflegeanamnese, Erfassung der Aktivi-
täten des täglichen Lebens ● Zukunftsvisionen und Austrittsplanung (Ideen, Wün-
sche, bereits erfolgte Massnahmen) ● Zusammenfassung des Gesprächs (Abmachungen,
Prozedere, bei Bedarf Folgegespräche planen) ● Feedback bei der Familie einholen. Je nach Länge des Aufenthalts beziehungsweise der Komplexität der Situation werden einzelne Themen vertieft. Bei Kindern, die länger als 72 Stunden hospitalisiert
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sind, wird zusätzlich ein Geno-/Öko- und Beziehungsdiagramm (GÖG) erstellt (Abbildung 1), um die Komplexität, wie sie sich zum Beispiel bei Lea und ihrer Familie zeigt, übersichtlich darzustellen. Diese Informationen stehen dem gesamten Behandlungsteam im Klinikinformationssystem zur Verfügung. In Absprache mit der Familie werden die Informationen beim Austritt oder bei Verlegungen auch der Nachfolgeinstitution oder der Kinderspitex zur Verfügung gestellt. Bei Lea wurde beim Eintritt im 8. Lebensmonat ein erstes GÖG erstellt. Fast 3 Jahre später wird es als Gesprächsanknüpfungspunkt wieder hervorgeholt. Die Bezugspflegende (siehe Kasten 3) kann das GÖG gezielt einsetzen, um die Familiensituation erneut zu erfassen. Anhand der familienorientierten Anamnese und des gemeinsam mit der Familie entworfenen GÖG werden das Unterstützungsnetz sowie die Ressourcen der Familie erfasst und wertgeschätzt. Sie können im weiteren Verlauf gezielt für das Alltagsmanagement und die Bewältigung der gesundheitlichen Herausforderungen genutzt werden. Zirka ein Drittel der am OKS betreuten Familien hat einen nicht deutschsprachigen Hintergrund. Das kann für die Gesprächsführung und ein gemeinsames Gesundheitsund Krankheitsverständnis eine zusätzliche Herausforderung bedeuten. Das Behandlungsteam kann jeweils Dolmetschende hinzuziehen. Dabei ist die Gesprächsvorbereitung zwischen Behandlungsteam und Dolmetschenden essenziell. So können Dolmetschende das Behandlungsteam auch als Kulturvermittelnde unterstützen, um relevante Ansichten und Überzeugungen der Familie zu erfahren beziehungsweise zu verstehen und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten (www.migesplus.ch, www.hospitals4equity.ch). Besonders Wert ist dabei auf Dolmetschende zu legen, welche die Informationen beziehungsweise Botschaften des Behandlungsteams in eine für Kinder verständliche Sprache übersetzen können.
Abbildung 1: Geno-/Öko- und Beziehungsdiagramm nach Handbuch FzP Ostschweizer Kinderspital (erhoben bei Leas 1. Hospitalisation 2018, überprüft beim Wiedereintritt 2021)
führen, erleben Familien, dass sie im Sturm der Erkrankung sozusagen in einer Bucht innehalten, neue Kräfte sammeln und gestärkt wieder in den Alltag zurückkehren können. BAIA wurde im Rahmen des Implementierungsprojekts Master of Advanced Studies von Ellen Bonvin-Huber mit diversen Hilfsmitteln begleitet. Es wird zurzeit in der klinischen Praxis umgesetzt.
wirkungsvolle Zusammenarbeit
in der Ruhe der Bucht
Auf dem Weg sein – miteinander und voneinander lernen
Familienorientierte Betreuung bedeutet, «auf dem Weg zu sein» – mit den Familien, aber auch im multiprofessionellen Team. Es gilt, Bewährtes mitzunehmen und auszubauen, Neues zu wagen und weiterzuentwickeln. Auf 4 Möglichkeiten, die das familienorientierte Arbeiten fördern, wird im nächsten Abschnitt vertieft eingegangen. BAIA: BAIA (italienisch: Bucht) ist eine Metapher für eine sichere Bucht im Sturm der Erkrankung (6). Die Buchstaben stehen für die 4 Phasen des Calgary Family Assessment and Intervention Model (CFAI) (1), und sie bedeuten Beziehungsaufbau, Assessment, Interventionen und Abschluss (Abbildung 2). 2019 wurden für alle diplomierten Pflegefachpersonen Schulungen zu BAIA mit dem Ziel durchgeführt, ein einfaches Hilfsmittel für die komplexe Gesprächsführung zu etablieren. Die Anwendung von BAIA hilft uns, die Geschichte, die Sicht und die Überzeugungen der Familie kennenzulernen. Durch das genaue Zu- und Hinhören können wir deren Ressourcen entdecken und diese für die gemeinsame Lösungssuche nutzen. Gelingende Kommunikation mit Kindern, Jugendlichen und ihren Familien setzt Wertschätzung, Anerkennung der familiären Expertise und eine teilhabende Kommunikation innerhalb des Behandlungsteams voraus. Gelingt es, Gespräche nach den BAIA-Prinzipien zu
Sturm der Erkrankung
Abbildung 2: BAIA-Modell nach Preusse-Bleuler (© Barbara Preusse-Bleuler, 2016) (6)
BAIA am Beispiel on Lea: Am OKS erheben die Pflegefachpersonen bei Kindern mit chronischen Erkrankungen ein Symptom- und Belastungsassessment (AI: Assessment, Interventionen) (7). Dabei werden Kinder und ihre aktiv in der Alltagsbewältigung involvierten Familienangehörigen, wie Frau Huber oder die Patentante, nach ihrer Belastung durch die bei Lea vorhandenen Sym ptome befragt. Die Einschätzung geschieht auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 keine und 10 die höchste Belastung bedeutet. Das Assessment kann als Grundlage zur gemeinsamen Lösungssuche für die krankheitsassoziierten Herausforderungen dienen (I: Interventionen). Die Bezugspflegende bemerkte im Gespräch mit Frau Huber, dass diese ihre Belastungen nicht in Zahlen ausdrücken kann (BA: Beziehungsaufbau, Assessment). Da Frau Huber gern wandert, schlug die Bezugspflegende vor, ob Frau Huber sich allenfalls die Belastungen als Inhalte in ihrem imaginierten Rucksack vorstellen könne (BAI: Beziehungsaufbau, Assessment, Intervention). Frau Huber liess sich auf diese Idee ein und konnte ihren Rucksack und denjenigen von Lea aus mütterlicher Sicht mit den Belastungen füllen
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Abbildung 3: Belastungsrucksack der Mutter und von Lea aus Sicht ihrer Mutter. Pluszeichen: Ressourcen/Positives, Minuszeichen: Belastung. Die Grösse der Farbfelder steht für das Ausmass der Wichtigkeit des entsprechenden Themas.
(BAI: Beziehungsaufbau, Assessment, Interventionen) (Abbildung 3). Neben den Belastungen kamen auch die Ressourcen von Frau Huber und positive Veränderungen bei Lea zutage (BAI: Beziehungsaufbau, Assessment, Interventionen). Im Gesprächsabschluss äusserte Frau Huber, dass ihr dieses Gespräch wie ein Lastenabladen vorgekommen sei (IA: Interventionen, Abschluss). Es habe ihr sogar etwas Spass gemacht und habe sie motiviert, wieder einmal Tagebuch zu führen und die beiden Rucksäcke in ihr Tagebuch zu kleben (BAIA: Beziehungsaufbau, Assessment, Interventionen und Abschluss). Die Prinzipien von BAIA bilden eine Möglichkeit, zielgerichtet komplexe Gespräche zu führen und gemeinsam Lösungen zu finden. Eine weitere Möglichkeit der familienorientierten Betreuung im Behandlungsteam und gegebenenfalls mit Familien ist der «Runde Tisch». Runder Tisch: «Runde Tische» bieten sich bei komplexen Situationen an, insbesondere bei Übergängen nach Hause sowie bei chronischen, sich schnell verändernden Erkrankungen. Dabei geht es nicht darum, dass alle um einen runden Tisch sitzen, sondern darum, in Anwesenheit der relevanten Helfer offene Punkte, Ziele und nächste Schritte anzusprechen sowie Lösungen für die momentanen oder zukünftigen Herausforderungen zu suchen. Das Vorgehen soll anhand der Situation von Familie Huber illustriert werden. Bei Lea werden gezielt alle Beteiligten des spitalinternen und externen Netzwerks zum «Runden Tisch» eingeladen. Frau Huber wünscht, dass sie von ihrer Schwester begleitet wird und dass die Bezugspflegende und die Kinderärztin dabei sind. Mit der Bezugspflegenden hat Frau Huber ihre Fragen und Ziele vorbesprochen, da ihr jeweils in den grossen Runden die Worte fehlen. Die Moderatorin des runden Tisches hat für alle sichtbar die Fragen und Ziele aus Sicht von Frau Huber auf einem Flipchart aufgeführt. Diese Punkte bilden den roten Faden für das Gespräch. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Fragen und Ziele der Eltern häufig mit denjenigen des Behandlungsteams decken. Im Vorfeld holt die Moderatorin die Anliegen des Helfernetzes ab. Als Externe sind die Einsatzleitung der Kinderspitex dabei, intern der fallführende Arzt, die Zuständigen des ärztlichen Teams der behandelnden Station sowie die Physiotherapeutin als Vertretung des Therapieteams. Die Zeit für den «Runden Tisch» ist auf eine Stunde begrenzt.
Die Moderatorin hat während des Gesprächs den Zeitplan im Auge und stellt sicher, dass alle Beteiligten zu Wort kommen. Frau Huber gelingt es, ihre Fragen selbstständig einzubringen, sie werden vom Behandlungsteam Schritt für Schritt beantwortet. Gemeinsam wird der Plan für den Übergang nach Hause erstellt, und die Aufgaben werden verteilt. Das Protokoll wird allen Gesprächsteilnehmenden zugestellt und im Klinikinformationssystem abgelegt. Manche mögen denken, das sei ein enormer Aufwand, aber alle Fragen von Frau Huber und vom Behandlungsteam konnten geklärt werden. Frau Huber ist überglücklich, erstmalig ein Gespräch in grosser Runde selbstständig gemeistert zu haben. Auch für das Behandlungsteam ist sicht- und spürbar, dass Frau Huber an Sicherheit gewonnen hat. Reflecting Team: Als Reflecting Team (RT) (2) bezeichnet man eine Weiterentwicklung der üblichen Fallbesprechung im multiprofessionellen Team, ergänzt durch systemorientierte Elemente. Auf allen Bettenstationen besteht die Möglichkeit, einmal pro Monat ein RT durchzuführen. RT ermöglichen ● Auswirkungen von Gesundheit und Krankheit auf die
gesamte Familie zu reflektieren ● frühzeitiges Erkennen von Ressourcen und Heraus-
forderungen ● «blinde Flecken» des Behandlungsteams zu erkennen ● Fach- und Erfahrungswissen des multiprofessionellen
Teams zu nutzen, um gemeinsame Lösungen anzustreben sowie Konflikte zu erkennen und anzugehen ● familienorientierte Interventionen zu evaluieren. Zum RT können auch Mitglieder des spitalexternen Netzwerks eingeladen werden, zum Beispiel Kinderärzte oder Kinderspitex. Falls es sinnvoll ist, können auch die Eltern in die gemeinsame Reflexion einbezogen werden. Das kann für beide Seiten ein grosser Gewinn sein. Ethische Fallbesprechung: Bei Lea und ihrer Familie ging es um die Frage, ob bei einer lebensbedrohlichen und sichtlich leidvollen Situation neue Therapiemöglichkeiten mit unklarer Wirkung weitergeführt werden sollen. Das multiprofessionelle Team fragte sich, ob die Weiterführung der Therapie für Lea Gutes bewirke oder ihr eine invasive Atemunterschützung (schwere Infektion) längerfristig nicht vielmehr schade. Eine ethische Fallbesprechung (EFB) (8) wurde einberufen, um für Lea mit den Eltern eine Entscheidung zu ermöglichen. Dabei werden im gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess unter der Leitung eines Moderators 3 Prozessschritte durchlaufen: ● Einholen der bereits bekannten Fakten, Wertvorstellungen, Ideen, Bedenken und Erwartungen, bezogen auf das Kind, die Familie, die involvierten Professionen und die Betreuung zukünftiger Patienten ● Konsensusfindung bezüglich gut begründeter Schadensgrenzen, die das Team, die Eltern und/oder das Kind nicht überschreiten dürfen ● Unterstützen einer partizipatorischen Entscheidungsfindung (shared decision-making) mit den Eltern und (wenn angemessen) mit dem Kind innerhalb der gegebenen Schadensgrenzen (shared optimum approach [8]) inklusive Entwickeln eines entsprechenden Aktionsplans. Bei Lea ging es um Begleitung durch die lebensbedrohliche Situation unter Berücksichtigung von Comfort Care,
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aber ohne Reanimationsmassnahmen im Falle eines Atemstillstands. Lea erholte sich nach Behandlung des Infekts und konnte ohne atemunterstützende Massnahmen wieder nach Hause gehen. Es wurde entschieden, vor der erneuten Medikamentengabe zur spezifischen Behandlung der neurologischen Erkrankung in 4 Monaten nochmals eine EFB einzuberufen.
Positives Feedback der Familien
Es wird deutlich, dass FoB Zeit und persönliches Engagement von allen Beteiligten erfordert. Die Feedbacks von Familien und deren Netzwerk zeigen, dass sich die Investition lohnt und dass durch das Erkennen der individuellen familiären Herausforderungen letztlich viel Energie gespart sowie Sicherheit und Zeit für die Familien gewonnen werden kann. Die Familien werden gestärkt und befähigt, den Alltag mit einem chronisch erkrankten Kind zu bewältigen, und sie gewinnen an Lebensqualität.
Wohin wollen wir mit der FoB?
Das OKS sieht ein noch nicht ausgeschöpftes Entwicklungspotenzial in der Zusammenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Eltern im Sinne von Partizipation bei der Entscheidungsfindung, bei der familiengerechten Gestaltung des für 2026 geplanten Neubaus des Kinderspitals sowie bei der Fort- und Weiterbildung der Berufsgruppen, die im klinischen Alltag in direktem Kontakt mit Familien stehen. Die Weiterentwicklung der FoB wird durch den Qualitätszirkel sanaCERT 21 begleitet. Dieser setzt sich zusammen aus einer Elternvertreterin und Mitarbeitenden aus verschiedenen Professionen wie Pflege, Ärzteschaft, Sozialberatung und Spitalpädagogik. Wie oben erwähnt, dient die EACH-Charta als Leitlinie. Kommunikation und Entscheidungsfindung (EACH Art. 4 und 5): Der Alltag und Rückmeldungen von Familien zeigen, dass der partizipative Umgang mit Familien als Grundlage des Arbeitsbündnisses ein Schwerpunkt der Qualitätsarbeit bleibt. Die Erfahrungen zeigen aber auch, dass Familien sich durch zu viel Partizipation überfordert fühlen können. Der oft komplexe Weg einer gemeinsamen Entscheidungsfindung ist ein Lernprozess innerhalb der Institution und nie abgeschlossen. Rückmeldungen von Patienten und Familien, zum Beispiel im Rahmen des Feedbackmanagements oder beim Austrittsgespräch, werden ernst genommen. Diese werden in den betroffenen Bereichen reflektiert, und Massnahmen werden daraus abgeleitet. Gesprächsformate zur gemeinsamen Entscheidungsfindung, wie der «Runde Tisch», werden gezielt ausgebaut. Es ist eine Herausforderung, zu entscheiden, wann sich der zeitliche und personelle Aufwand für einen «Runden Tisch» auszahlt und wann eher kleinere Formate genutzt werden können. Mit der Aufnahme einer Elternvertretung in den Qualitätszirkel wurde der erste Schritt zur gezielten Zusammenarbeit mit Elternvereinigungen gemacht. Jährliche Austauschplattformen mit Elternvereinigungen am Tag der Familien finden jeweils im Mai statt. Neubau des Ostschweizer Kinderspitals (EACH Art. 7): Kinder und Jugendliche haben das Recht auf eine Umgebung, die ihrem Entwicklungsalter und ihrem gesundheitlichen Zustand entspricht. Dabei werden Möglichkeiten für Spiel, Erholung und Schulbildung berücksichtigt. Entsprechendes Personal soll zur Verfügung stehen. Das FoB-Konzept verlangt, adäquate Räumlich-
keiten (z. B. Rückzugsmöglichkeiten), die Personalisierung der Patientenzimmer, eine altersgerechte Inneneinrichtung und Ausstattung sowie einen einladenden Aussenbereich beim Neubau zu berücksichtigen. Die Empfehlungen des Qualitätszirkels konnten in die Neubauplanung aufgenommen werden. Fort- und Weiterbildung: Entsprechend Art. 8 der EACHCharta (3) werden primär Mitarbeitende angestellt, die gemäss ihrer Ausbildung und ihres Einfühlungsvermögens in besonderer Weise geeignet sind, optimal auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und ihren Familien einzugehen. Die spezifische Weiterbildung des Personals bei der FoB konzentriert sich auf das Personal mit direktem Patienten- und Angehörigenkontakt, also Arzt- und Pflegedienst, Sozialberatung, Therapeuten sowie Hotellerie. Die Weiterbildung wird sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene angeboten. Sie kann im disziplinären oder multiprofessionellen Setting stattfinden. Sie umfasst zum Beispiel theoretischen Input zu Kommunikation, Partizipation und Entscheidungsfindung mit Familien sowie zur Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Familien. Praktische Übungen beinhalten unter anderem den kollegialen Beratungsprozess (FzP) und die komplexe Gesprächsführung sowie das Aggressionsmanagement. Zukünftig planen wir auch Workshops unter Mitarbeit von Familien.
Fazit Anhand der Geschichte von Lea und ihrer Familie wurde der Bogen der FoB vom konzeptuellen Rahmen über die Umsetzung im klinischen Alltag bis zur Weiterentwicklung in die Zukunft geschlagen. Unser Ziel ist es, Familien Sicherheit zu bieten, um die Stürme der Erkrankungen selbstwirksam bewältigen zu können. Der systemische Ansatz der FoB ermöglicht allen Beteiligten, die Bedürfnisse der Familien mit kranken Kindern optimal zu berücksichtigen. Alle(s) für Kinder, Jugendliche und ihre Familien? Das Ostschweizer Kinderspital bleibt dran!
Korrespondenzadressen: Katrin Marfurt-Russenberger RN, MScN Leiterin Pflegeentwicklung, Schmerzspezialistin SPS® E-Mail: katrin.marfurt@kispisg.ch Ellen Bonvin-Huber, RN, MAS, Fachexpertin FzP E-Mail: ellen.bonvin@kispisg.ch Ostschweizer Kinderspital, Claudiusstrasse 6, 9006 St. Gallen
Interessenlage: Die Autorinnen und Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Wright LM, Leahey M: Familienzentrierte Pflege. 3. Aufl., Göttingen: Hogrefe, 2020. 2. Stiftung Ostschweizer Kinderspital: Handbuch Familienzentrierte Pflege am OKS. St. Gallen, 2017. 3. Stiftung Ostschweizer Kinderspital: Konzept sanaCERT Standard 21: Familienorientierte Betreuung. St. Gallen, 2017. 4. Committee on Hospital Care and Institute for Patient- and Family-Centered Care: Patient- and family-centered care and the pediatrician‘s role. Pediatrics. 2012;129(2):394-404. 5. EACH-Charta (European Association for Children in Hospitals); www.kindundspital. ch/downloads/each-charta; Zugriff am 27.3.2021. 6. Preusse-Bleuler B: Gespräche mit Familien gestalten. Das Calgary Familien Assessment- und Interventionsmodell. NOVAcura. 2019;50(4):15-19. 7. Wanzenried M, Allgäuer S, Marfurt-Russenberger K: Symptome und Belastungen von Kindern und der ganzen Familie sichtbar machen. Palliative.ch. 2018;1;51-57. 8. Streuli JC et al.: Combining the best interest standard with shared decision-making in paediatrics-introducing the shared optimum approach based on a qualitative study. Eur J Pediatr. 2021;180(3):759-766.
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