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Oberschenkelfrakturen bei Kleinkindern
Bei Kleinkindern besteht selbst nach stark dislozierten Femurfrakturen eine exzellente Prognose bei konservativer Frakturbehandlung. Eine operative Intervention ist nur selten nötig. Ein Becken-Bein-Gips ist jedoch für die Eltern mit einem erheblichen Pflegeaufwand verbunden, der nicht zu unterschätzen ist.
Von Martina Frech und Johannes Mayr
Oberschenkelfrakturen machen ca. 1 bis 2 Prozent aller Frakturen im Kindesalter aus, wobei sich zwei Häufigkeitsgipfel finden: einer im Kleinkindesalter, der andere im Jugendalter (1). Je nach Alter, Frakturtyp, Dislokation und Lokalisation werden Oberschenkelfrakturen konservativ oder operativ behandelt. Kinder im Alter unter 4 Jahren oder mit einem Körpergewicht von weniger als 20 kg werden in der Regel konservativ behandelt (1, 2). Dabei erfolgt eine Ruhigstellung im Becken-Bein-Gips, gegebenenfalls nach vorgängiger geschlossener Reposition. Eine Alternative ist die Overhead-Extension, welche aber infolge der grösseren Belastung von Kind und Familie in den letzten Jahrzehnten immer weniger angewandt wurde. Bei grösseren Kindern
Eine Besonderheit kindlicher Frakturen ist das Potenzial zur Spontankorrektur (1–3, 5), das vor allem bei kleinen Kindern sehr ausgeprägt ist. Dabei hängt das Ausmass des Remodelings von der Lokalisation der Fraktur beziehungsweise von der benachbarten Wachstumsfuge ab: je grösser der Anteil des Längenwachstums der jeweiligen Fuge, desto grösser das Potenzial des Remodelings. Beim Femur findet 70 Prozent des Längenwachstums an der distalen Fuge statt, die proximale Fuge übernimmt lediglich 30 Prozent.
Distale Femurfrakturen
Distale Femurfrakturen liegen nahe an der knienahen Epiphysenfuge, die den grossen Teil des Längenwachstums bewirkt (70%). Hier ist vor allem wichtig, dass die Kniebeweglichkeit uneingeschränkt erhalten bleibt. Da hier die Bewegung nahezu ausschliesslich in der sagittalen Ebene erfolgt (Scharniergelenk), ist das Korrekturpotenzial in den anderen Ebenen nicht gross. Bei Kleinkindern finden sich sehr häufig Stauchungsfrakturen (Abbildung 1), die gelegentlich auch so abgekippt sind, dass eine Intervention nötig werden kann (Abbildung 2).
Abbildung 1: Distale Femurstauchungs- Abbildung 2: Distale Femurfraktur bei einem fraktur bei einem 2-jährigen Mädchen 4-jährigen Mädchen
erfolgt die Frakturversorgung in der Regel operativ mittels Fixateur externe oder intramedullärer, elastisch stabiler Marknagelung (ESIN) sowie im distalen Femurbereich durch perkutane Kirschner-Draht-(KD-)Osteosynthese (2 – 4). Im Adoleszentenalter kann auch eine Platten osteosynthese durchgeführt oder ein Femurmarknagel eingebracht werden (3).
Diaphysäre Femurfrakturen
Im Femurschaftbereich finden sich häufig deutlich in der Achse dislozierte Frakturen (Abbildung 3). Bei Kleinkindern können hier Antekurvations- und Varusfehlstellungen bis 30 Grad toleriert werden. Rotationsfehlstellungen bis 20 Grad korrigieren sich spontan. Eine Ad-latus-Dislokation wird bis zur vollen Schaftbreite belassen, und auch Verkürzungen bis 2 cm werden toleriert. Eine Studie aus dem Jahre 2009 (1) hat gezeigt, dass die Langzeitprognose bei Kindern im Vorschulalter bei konservativer Therapie im Becken-Bein-Gips auch bei stärker dislozierten Frakturen exzellent ist.
Proximale Femurfrakturen
Proximale Femurfrakturen sind im Kleinkindesalter sehr selten. Da an der proximalen Epiphysenfuge des Femurs nur 30 Prozent des Längenwachstums stattfinden, ist das
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Abbildung 5: Becken-Bein-Gips (Fotos: UKBB)
Abbildung 3: Dislozierte Femurschaftspiralfraktur bei einem 2-jährigen Knaben
Abbildung 4: Proximale Femurfraktur bei einem 17 Monate alten Knaben vor und nach Reposition im Gips Potenzial zur Spontankorrektur bei Frakturen in diesem Bereich nicht sehr ausgeprägt. Deshalb sollte hier auch bei kleinen Kindern eine möglichst anatomische Stellung angestrebt werden. Trotzdem kann auch hier nach Reposition die Ausbehandlung im Gips erfolgen.
Konservative Therapie
Die konservative Therapie bei Femurfrakturen erfolgt mittels Ruhigstellung im Becken-Bein-Gips (Abbildung 5).
Die Anlage desselben erfolgt in der Regel in Sedation oder Narkose. Danach wird das Kind für einige Tage stationär aufgenommen, bis die Familie in der Gipspflege instruiert ist und diese zu Hause durchführen kann. Der Becken-Bein-Gips braucht eine gute Pflege vonseiten der Eltern, um Hautirritationen oder Verschmutzungen durch Urin und Stuhl im Windelbereich möglichst zu vermeiden. An unserer Klinik erfolgt deshalb wöchentlich eine Kontrolle des Gipses. Kleine Kinder können gut mit dem Gips getragen und im Buggy oder Kinderwagen transportiert werden. Für grössere beziehungsweise schwerere Kinder wird ein Rollstuhl verschrieben. Die Ruhigstellungsdauer beträgt bei Kindern unter 4 Jahren 3 bis 4 Wochen. Danach erfolgt eine Röntgenaufnahme. Zeigt diese eine gute Frakturheilung, wird der Gips entfernt. Danach wird das Kind zunehmend mobilisiert beziehungsweise die kleinen Kinder mobilisieren sich selbst. Eine physiotherapeutische Unterstützung ist bei Kindern im Vorschulalter meistens nicht erforderlich.
Operative Therapie
Die operative Therapie ist bei unter 4-Jährigen selten. Sie kann in speziellen Fällen aber nötig sein. Indikationen sind ausgeprägte Instabilität der Fraktur, offene Frakturen, Frakturen mit begleitenden Weichteilschäden oder mehrfragmentäre Frakturen, die sich im Gips nicht suffizient ruhigstellen lassen. Bei den distalen Frakturen erfolgt meist eine KD-Osteosynthese (Abbildung 6), bei den Schaftfrakturen werden entweder ein Fixateur externe (Abbildung 7) oder eine ESIN (Abbildung 8) angewandt.
Abbildung 6: Versorgung einer distalen Femurfraktur mit Kirscher-Draht-(KD-)Osteosynthese bei einem 5-jährigen Mädchen
Abbildung 7: Versorgung einer Schaftfraktur mit Fixateur externe bei einem 2-jährigen Knaben
Abbildung 8: Versorgung eine Schaftfraktur mit intramedullärer, elastisch stabiler Marknagelung (ESIN) bei einem 3-jährigen Knaben
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Frühe Komplikationen
Diese betreffen bei der konservativen Behandlung vor allem die Weichteile und den Gips. Wie erwähnt, muss der Becken-Bein-Gips gut von den Eltern gepflegt werden, da das Risiko für die oben genannten Probleme (Hautirritationen, nasser und verschmutzter Gips) relativ hoch ist. Dies ist für die Eltern eine nicht zu unterschätzende Belastung und fordert von ihnen eine hohe Compliance, sodass in gewissen familiären Situationen eine operative Korrektur der Gipsbehandlung vorgezogen wird. Es kommt vor, dass der Gips nach einiger Zeit neu angelegt werden muss. Eine weitere Komplikation ist das Verrutschen des Gipsverbands oder eine ungenügende Stabilität der Fraktur im Gips, sodass das Verfahren gewechselt und sekundär eine osteosynthetische Versorgung durchgeführt wird. Bei operativ versorgten Frakturen kann es zum Wandern der intramedullären Nägel, zur Lockerung von Pins oder Drähten sowie zum Infekt an den Drahteintrittsstellen kommen. Innerhalb der ersten Wochen nach einer Osteosynthese muss in diesen Fällen die Fraktur chirurgisch revidiert werden. Ist die Versorgung schon länger her, kann gegebenenfalls die Metallentfernung vorzeitig geplant und im Anschluss noch eine Ruhigstellung im Gips angeschlossen werden.
Langzeitkomplikationen
Die Langzeitkomplikationen betreffen hauptsächlich das Knochenwachstum. Hier müssen bei der Femurfraktur vor allem eine allfällige Beinlängendifferenz sowie die Beinachse kontrolliert werden. Am häufigsten kommt es zur stimulierenden Wachstumsstörung (durch die Fraktur selbst und die damit verbundenen Reparaturprozesse des Knochens). Dabei nimmt die Länge des gebrochenen Femurs in den ersten Monaten nach der Fraktur übermässig zu. Es kann je nach Lokalisation aber auch eine hemmende Wachstumsstörung durch Störung oder Mitverletzung der Epiphysenfuge auftreten. Am Femur ist eine hemmende Wachstumsstörung bei Kleinkindern sehr selten. Das stimulierende Knochenwachstum sehen wir an der Beinlängendifferenz. Eine solche gilt bis 1,5 cm als physiologisch. Ein Beinlängenausgleich muss in der Regel ab 2,5 cm diskutiert werden. Sie sollte von einem kinderorthopädischen Spezialisten mitbeurteilt werden.
● Eine gute Gipspflege durch die Eltern ist essenziell, der Aufwand darf aber nicht unterschätzt werden.
● Eine physiotherapeutische Unterstützung zur Mobilisation nach der Gipsentfernung ist im Kleinkindesalter in der Regel nicht notwendig.
● Eine regelmässige und langfristige Nachsorge mit Kontrollen der Beinlängendifferenz sowie der Beinachsen ist in der Praxis zu empfohlen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Martina Frech Leitende Ärztin Chirurgie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: Martina.Frech@ukbb.ch
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Frech-Dörfler M, Hasler CC, Häcker FM: Immediate hip spica for unstable femoral shaft fractures in preschool children: still an efficient and effective option. Eur J Pediatr Surg. 2010;20(1):18-23. 2. Gordon JE, Anderson JT, Schoenecker PL, Dobbs MB, Luhmann SJ, Hoernschemeyer DG: Treatment of femoral fractures in children aged two to six. Bone Joint J. 2020;102-B(8):1056-1061. 3. Rapp M, Kaiser MM, Grauel F, Gielok C, Illing P: Femoral shaft fractures in young children (< 5 years of age): operative and non-operative treatments in clinical practice. Eur J Trauma Emerg Surg. 2016;42(6):719-724. 4. Literaturzitat fehlt, bitte ergänzen 5. Jauquier N et al.: Immediate hip spica is as effective as, but more efficient than, flexible intramedullary nailing for femoral shaft fractures in pre-school children. J Child Orthop. 2010;4(5):461-465. 6. Heffernan MJ et al.: Treatment of femur fractures in young children: a multicenter comparison of flexible intramedullary nails to spica casting in young children aged 2 to 6 years. J Pediatr Orthop. 2015;35(2):126-129.
Prognose
Langzeitstudien zeigen, dass auch bei grob dislozierten und verkürzten Femurfrakturen im Kleinkindesalter eine exzellente Prognose ohne signifikante Beinlängendifferenz oder Achsabweichung (1) besteht. Rotationsfehler unter 20 Grad können sich in der Regel mit dem Wachstum spontan ausgleichen.
Zusammenfassung
● Aufgrund des guten Remodelings bei kleineren Kindern im Bereich des Femurs besteht auch bei stark dislozierten Femurfrakturen eine exzellente Prognose bei konservativer Frakturbehandlung. Nur selten ist eine operative Intervention nötig.
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