Transkript
Fingerkuppenamputation
Behandlung mit semiokklusivem Folienverband
Schwerpunkt
Die Fingerkuppenamputationsverletzung ist ein auf den ersten Blick eindrückliches Verletzungsbild, das aber sehr gut und einfach auch ohne chirurgische Erfahrung in der pädiatrischen Praxis behandelt werden kann.
Von Cécile Balmer, Alexander Kapp und Johannes Mayr
Die Fingerkuppenamputationsverletzung ist eine häufige Verletzung bei Kindern. Wenn einige wenige Aspekte beachtet werden, kommt die Verletzung in den meisten Fällen unter Anwendung eines Semiokklusivverbands mit selbstklebenden Folien mit gutem funktionellem und ästhetischem Resultat zur Abheilung. Auf die operativen Verfahren wird in diesem Beitrag nicht eingegangen.
Welche Verletzungen sind konventionell behandelbar?
Konservativ behandelbar sind sämtliche Engliedverlet-
zungen distal der Sehnenansätze, ohne relevant dislo-
Prinzip des semiokklusiven Folienverbands
Die Amputationsverletzung der Fingerkuppe ist als Verletzung mit Substanzverlust aller Hautschichten im Bereich des distalen Endglieds der Finger definiert. Sie ist der Grund für ca. 2 Prozent aller Vorstellungen auf der Notfallstation bei Kindern < 14 Jahre. Die Unfallhergänge sind unterschiedlich. Bei Vorschulkindern handelt es sich oft um Quetschverletzungen, zum Beispiel durch Einklemmen zwischen Tür und Türstock, im späteren Alter auch um Schnittverletzungen. In der Literatur werden multiple Therapiemöglichkeiten beschrieben, oft sind diese operativer Art. Doch bereits seit den 1970er-Jahren konnte mehrfach gezeigt werden, dass in den meisten Fällen konservative Therapieverfahren mittels Semiokklusivverband den operativen Techniken ebenbürtig oder sogar überlegen sind. Insbesondere bei Kindern überwiegen zudem die Vorteile, dass das Anlegen eines Folienverbands nur kurz dauert, wenig Schmerzen verursacht und beim kooperativen Kind in der Regel ohne Sedation oder lokale Anästhesie gelingt. Durch eine feuchte Kammer im Bereich der Wunde wird ein optimales Klima zur Selbstregeneration und Reepithelialisierung des Gewebes gebildet. Während Sauerstoff die Folie passieren kann, wird die Wunde vor Schmutz und Mikroorganismen der Umwelt geschützt. Unter der Folie wird die Wundfläche mit Hautkeimen kolonisiert. Diese scheinen pathogene Erreger zu hemmen. Deshalb wird explizit empfohlen, auf eine ausgiebige Desinfektion der Wunde zu verzichten. Es soll lediglich mit steriler Kochsalzlösung (NaCl 0,9%) gereinigt werden. Eine antibiotische Prophylaxe ist nicht angezeigt. Auch bei frei liegendem Knochen wird kein Antibiotikum verabreicht.
Abbildung 1: Anlegen eines semiokklusiven Folienverbands (Fotos: Dr. C. Balmer).
2/21 Pädiatrie
31
Schwerpunkt
Aktueller Fallbericht 10-jähriger Junge mit Quetschverletzung am Digitus III der rechten Hand
Tag 0
Die Amputationsverletzung befindet sich auf mittlerer Höhe des Nagels, welcher fest anliegt; die Lunula ist intakt, der Knochen liegt zum Teil frei; Röntgen Digitus III in zwei Ebenen, Knochen distal minimal frei liegend.
Tag 23
Die Wunde ist weitgehend mit Granulationsgewebe aufgefüllt. Am Tag 26 (Hypergranulation) erfolgt die Umstellung auf trockene Verbände, darunter trocknet die Wunde rasch ab.
32
Tag 51
Die Wunde ist vollständig abgetrocknet, der Nagel wächst nach; etwas überschiessendes Gewebe.
Tag 3 Erster Verbandswechsel, beginnende Granulation.
Tag 59
Das Hypergranulationsgewebe bildet sich bereits zurück, ein zufriedenstellendes Endresultat ist zu erahnen.
Tag 11 Die Wunde füllt sich rasch mit Granulationsgewebe.
Tag 69
Das Hypergranulationsgewebe hat sich zurückgebildet, der Nagel ist vollständig nachgewachsen.
Der Abdruck der Bilder erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Eltern und des Patienten (Fotos: UKBB).
zierte Fraktur oder Fremdkörper mit der Notwendigkeit einer operativen Entfernung. Deshalb empfiehlt es sich, vorgängig immer eine Röntgenaufnahme des Fingers durchzuführen. Ein kleines Areal von frei liegendem Knochen stellt keine Kontraindikation dar, auch besteht keine Notwendigkeit, den Knochen zu kürzen. Der Literatur ist zu entnehmen, dass sich der Knochen im Laufe der Behandlung von selbst zurückbildet.
Ein dislozierter Nagel soll reponiert oder entfernt werden. Nie soll aber ein fest anliegender Nagel entfernt werden, da dieser zu einem grossen Teil zum optisch und funktionell ansprechenden Resultat beiträgt. Wundnähte oder das Anbringen eines Kunstnagels sind unnötig und risikobehaftet, da sie die Bildung von Infektionen unterstützen. Bei allen anderen Endgliedverletzungen wird die unverzügliche Zuweisung an die Chirurgie empfohlen.
Pädiatrie 2/21
Vorbereitung
Als Erstes müssen die Eltern und das Kind beruhigt und geeignete Bedingungen für die Anlage des Verbands geschaffen werden. Dazu wird, nach primärer Inspektion und dem Einschätzen des Ausmasses der Verletzung, die Familie über das weitere Vorgehen aufgeklärt. Die Anlage des Verbands erfolgt idealerweise mit einem Team aus mindestens zwei Personen.
Anlage des Verbands
Der Finger wird vorgängig in NaCl 0,9% gebadet oder nur mit NaCl-0,9%-getränkten Kompressen abgetupft. Allfällige Koagel können mit den Kompressen oder einer Pinzette sorgfältig entfernt werden. Ein ausgiebiges Débridement soll nicht erfolgen, es sei denn, es sind sichtbare Fremdkörper vorhanden, welche ohne grössere Manipulation entfernt werden können. Ein noch gut haftender Nagel wird belassen, ein dislozierter Nagel reponiert, gekürzt oder entfernt. Es werden keine Nähte gesetzt. Ein im distalen Anteil in einem umschriebenen Areal verletztes, frei liegendes Nagelbett soll nicht genäht werden. Bei zu starker Sekretion kann zuerst für einige Minuten ein Druckverband angelegt werden. Bei nicht zu stoppender Blutung oder proximaler Nagelbettverletzung ist eine Mitbeurteilung durch die Chirurgie notwendig. Die Haut proximal der Verletzung wird sorgfältig getrocknet. In unserem Haus hat es sich bewährt, proximal der Wunde, an den Wundrand angrenzend, auf das gesunde Gewebe zirkulär einen Hydrokolloidverband (Comfeel®, Nu-Derm® o. Ä.) aufzukleben. Dies führt zum Schutz der gesunden Haut vor Mazeration, zur besseren Haftung des Verbands und zur Optimierung der Dichtigkeit (Abbildungen 1.1 und 1.2). Anschliessend wird volar und dorsal je eine semiokklusive Folie angebracht (Tegaderm™, Opsite™ o. Ä.) (Abbildungen 1.3 und 1.4). Dabei ist darauf zu achten, dass am Ende des Endglieds Raum für Wundsekrete durch Bildung einer feuchten Kammer belassen wird. Seitlich wird die Folie hingegen gut anmodelliert. Allfällige überstehende Folienränder können gekürzt und/oder einfach umgeklappt werden (Abbildungen 1.5 bis 1.7). Als Überverband werden Kompressen aufgelegt und der Finger mit Gazebinden umwickelt (Abbildung 1.8) – einerseits, um auslaufendes Sekret aufzufangen, andererseits, um die Geruchsemission zu vermindern und den Finger von Stosskräften zu schützen. Bei Bedarf kann zusätzlich eine Schiene (z. B. Chriso-Fix®) zum Schutz angelegt werden. Bei kleineren Kindern hat es sich bewährt, als äusserste Schicht einen farbigen Verband oder Fingerling zu wählen (Abbildung 1.9).
Geruchsbildung
Nach einigen Tagen entwickelt sich durch die bakterielle Kolonisation meist ein mehr oder weniger ausgeprägter, teilweise störender Geruch. Die Familie muss deshalb vorgängig über diese Tatsache und deren Harmlosigkeit aufgeklärt werden. Durch regelmässiges Wechseln des Überverbands oder durch Auflage von aktivkohlehaltigen Verbänden kann die Geruchsemission vermindert werden.
Verbandswechsel
Der Wechsel des Verbands erfolgt mindestens einmal wö-
chentlich sowie bei Verrutschen oder bei Durchsickern von Wundsekret. Zu Beginn der Behandlung ist gegebenenfalls ein häufigerer Wechsel nötig. Zwischen den Verbandswechseln kann der Finger mit Wasser oder NaCl 0,9% abgespült werden, es ist aber weiterhin auf jegliche Desinfektion zu verzichten. Wir sehen die Patienten einmal wöchentlich zur klinischen Beurteilung bis zum Abheilen der Verletzung. Zur Dokumentation des Heilungsverlaufs wird der Befund jeweils fotografiert.
Beendigung der Folienverbandtherapie
Die vollständige Reepithelialisierung dauert, abhängig von der Grösse der Verletzung, zwischen 3 und 12 Wochen. Wenn die Wunde trocken oder hypergranuliert ist, ist die Beendigung der Folienverbandtherapie angezeigt. Anschliessend wird der Finger trocken verbunden. Hypergranulationsgewebe trocknet unter der Anwendung von silberhaltigen Schaumverbänden (PolyMem®Silver, Mepilex®Ag) aus und bildet sich zurück. Es soll keine Verätzung mit Silbernitrat erfolgen.
Zusammenfassung
Insbesondere bei Kindern sind Fingerkuppenamputationen distal der tendinösen Ansätze in erster Linie durch das Anlegen eines semiokklusiven Folienverbands gut zu behandeln, wenn es sich um eine Verletzung distal der tendinösen Ansätze handelt und keine dislozierte Fraktur sowie keine Fremdkörper vorliegen, welche eine operative Versorgung erfordern. Unter Beachtung folgender Punkte gelingt dies auch in der pädiatrischen Praxis: ● Die Anlage erfolgt, solange die Wunde noch sezer-
niert, damit sich eine feuchte Kammer bildet. ● Keine übermässige Desinfektion und kein Débride-
ment, keine Antibiotikaprophylaxe. ● Es besteht die Möglichkeit für eine engmaschige Be-
treuung mit mindestens wöchentlichen klinischen Kontrollen und allenfalls häufigerem Wechsel des Verbands (bei Austritt von Flüssigkeit oder Verrutschen) bis zum Abheilen der Wunde. ● Es erfolgt eine gute Aufklärung der Familie über die Länge der Heilungsdauer (4 –12 Wochen) und die Geruchsemission. ● Bei Zweifeln kann stets eine Fotografie der Verletzung an die Kinderchirurgie zur Mitbeurteilung gesendet werden.
Korrespondenadresse: Dr. med. Cécile Balmer Oberärztin Chirurgie Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: cecile.balmer@kispi.uzh.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Weiterführende Literatur: Hug U, Hoignéa D: Amputationsverletzungen am Fingerendglied: Regeneration mittels Folienverband. Schweiz Med Forum 2014;14(18):356-360. Schultz J et al.: Konservative Behandlung von Fingerkuppenteilamputationen im Kindesalter. Geweberegeneration unter okklusiven Verbänden. Pädiatrische Praxis 2017;87:619-632.
2/21 Pädiatrie
Schwerpunkt 33