Transkript
Schmerztherapie
Schmerz im Kindes- und Jugendalter
Vom Erfahrungsbericht bis zur Grundlagenforschung
Ein weites thematisches Spektrum umfasste das 17. SPZ-Symposium «Schmerz bei Kindern und Jugendlichen» in Winterthur. Es reichte vom eindrücklichen Erfahrungsbericht einer ehemaligen Spitzensportlerin über die neue Sicht auf das Phänomen Schmerz und spannende Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung bis zu therapeutischen Optionen.
Fünf zentrale Aspekte der Schmerztherapie bei Kindern und Jugendlichen formulierte Dr. med. Kurt Albermann, Chefarzt am Sozialpädiatrischen Zentrum SPZ Winterthur, gleich zu Beginn des Symposiums: Es gelte, den Schmerz ernst zu nehmen, ihn als bio-psycho-soziales Phänomen anzuerkennen, ein evidenzbasiertes, bei Bedarf interdisziplinäres Schmerzmanagement zu verfolgen, allenfalls notwendige pharmakologische Therapien entschieden und umfassend durchzuführen und – last but not least – möglichst frühzeitig mit einer adäquaten Schmerztherapie zu beginnen.
Was steckt hinter dem Schmerzgedächtnis?
Warum eine frühe Intervention wichtig ist, um das Schmerzgedächtnis auszutricksen, erläuterte Prof. Thomas Nevian, Ordinarius und Co-Direktor der Forschungsgruppe Neuronal Plasticity Group an der Universität Bern. Neuronale Mechanismen, die wir nutzen, um Neues zu lernen und im Gedächtnis zu verankern, spielen auch für die Entstehung chronischer Schmerzen eine grosse Rolle. Frühe Schmerzereignisse können eine latente «Gedächtnisspur» hinterlassen, sodass irgendwann auch nicht schmerzhafte somatische Reize fälschlich als Schmerz interpretiert werden. Im Gehirn ist bei Schmerzen der Gyrus cinguli als zentrales Element der Schmerzverarbeitung hyperaktiv, ebenso die Amygdala, die Zentren der Angst. In Tierversuchen hat die Berner Arbeitsgruppe nachgewiesen, dass bei chronischen neuropathischen Schmerzen die Anzahl der aktivierten Nervenzellen im Gyrus cinguli steigt und dass diese Zellen sensibler werden, sodass mit der Zeit bereits geringe somatische Reize als heftiger Schmerz empfunden werden.
Schmerz kann man auch verlernen
Eine gute Nachricht hatte Dr. Alice Prchal, Leitende Psychologin der Abteilung Psychiatrie und Psychosomatik am Universitätskinderspital Zürich: «Wir können Schmerz nicht nur lernen, wir können ihn auch verlernen.» Deshalb ist die Schmerzedukation die Basis und ein wichtiger Teil jeder Schmerztherapie, und sie fördert darüber hinaus die Motivation des Patienten für die Behandlung. Die Schmerzedukation umfasst 5 Schritte. Schritt 1: Wie erklärt sich der Patient selbst die Schmerzen? Schritt 2: Was
wurde bis anhin untersucht, und wie sind die Befunde zu interpretieren? Schritt 3: Die Schmerzedukation im eigentlichen Sinn, wobei die Entstehung von Schmerzen und ihr Sinn erklärt werden (Schmerzwahrnehmung, bio-psycho-soziale Einflüsse, Neuroplastizität usw.). In den beiden letzten
Schritten wird zum Chronische Schmerzen werden einen gemeinsam mit in der ICD-11 erstmals als der Familie ein indivi- eigenes Krankheitsbild definiert dueller Behandlungs- sein.
plan erstellt und zum anderen das soziale Umfeld einbezogen (Aufklärung, Belastungen ggf. reduzieren usw.). Dass Schmerzen vielgestaltige Ursachen haben, ist nichts Neues, und die ehemalige Aufteilung in somatische und psychische Schmerzen wurde längst vom bio-psycho-sozialen Modell abgelöst. In der ICD-Klassifizierung hatte sich das bis anhin allerdings nicht niedergeschlagen. Das wird sich mit ICD-11 ändern, denn dort werden chronische Schmerzen erstmals als eigenes Krankheitbild definiert sein, und die Klassifikation wird unabhängig von organischen Ursachen erfolgen. Somit könnten letztlich viele Diagnosen «funktioneller» Störungen, die aus der jeweiligen Sicht verschiedener Fachrichtungen definiert wurden, obsolet werden. Die ICD-11 soll am 1. Januar 2022 in Kraft treten.
Schmerztherapeutische Erfahrungen
Konkrete schmerztherapeutische Massnahmen, von der Migränetherapie über die segensreiche Wirkung von Plazebos bis zum hypnosomatischen Ansatz der EgoState-Therapie, waren die Themen von Michael Printz, Oberarzt am Deut-
schen Schmerzzen- Möglichst frühzeitig mit einer trum der Vestischen adäquaten Schmerztherapie Kinder- und Jugend- beginnen.
klinik in Datteln, Dr. Helen Koechlin von der Fakultät für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Basel, und Dr. Silvia Zanotta, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in eigener Praxis in Zürich. Wenn es um Migräneattacken geht, solle man dem Schmerz nicht «hinterherlaufen», sondern entsprechende Medikamente sofort ausreichend hoch dosieren,
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Schmerztherapie
Terminhinweis
sagte Michael Printz. Er empfahl Ibuprofen (10 –15 mg/kg/KG) oder, bei schweren Ver-
25. November 2021
18. SPZ-Symposium 2021 Nationale Schulärztetagung ScolarMed CH
läufen, Triptane. Bei Kopfschmerzen vom Spannungstyp sind Medikamente hingegen bekanntermassen nicht indiziert. In jedem Fall müssen Patienten und Eltern gut aufgeklärt (Schmerzedukation!) und zu einem ak-
Psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern Herausforderungen für Schule und Fachpersonen
tiven Umgang mit dem Kopfschmerzproblem motiviert werden (Bewegung, ausreichend Schlaf, regelmässiger Rhythmus im Tagesablauf usw.). Mit der medikamentösen Migräneprophylaxe, wie sie für Erwachsene zuwei-
len empfohlen werde, habe man an der
Die Tagung wird live und virtuell
Klinik in Datteln keine guten Erfahrungen bei
durchgeführt und simultan übersetzt (D-F). Vor Ort findet das Symposium in Winterthur im Kongresszentrum gate27 von 9 bis 17 Uhr statt.
Kindern und Jugendlichen gemacht, sagte Printz. Plazebos wirken bei Kindern eher noch besser als bei Erwachsenen. Dass Plazebos aber auch dann wirken, wenn der junge Patient
Anmeldung und Detailprogramm ab 14. Juni 2021 unter: www.ksw.ch/spz-symposium
definitiv weiss, dass er nur ein Plazebo bekommen hat, dürfte viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Symposiums überrascht haben. Insofern löst sich das ethische Di-
Kontakt: spz-symposium@ksw.ch
lemma von selbst, wonach man es einem Patienten eigentlich nicht verschweigen darf,
wenn man ihm «nur» ein Plazebo verordnet.
Helen Koechlin illustrierte die Wirkung des
offenen Plazebos anhand einer Studie mit
Kindern und Jugendlichen mit Reizdarmsyndrom. Sie er-
hielten einen Sirup ohne Wirkstoff als «Notfallmedika-
tion» – wohlgemerkt inklusive der Information, dass es
ein wirkstofffreier Sirup war. Trotzdem ging es den Pro-
banden mit dem Plazebo besser als ohne.
Noch am Anfang steht die tiergestützte Therapie bei
chronischen Schmerzen im Kindes- und Jugendalter.
Helen Koechlin berichtete von einem Pilotprojekt in Basel. Erste Resultate weisen darauf hin, dass die Kinder davon profitieren: «Wenn ich hier bin, habe ich nie Schmerzen», so fasste eines der Kinder seine persönlichen Erfahrungen zusammen. Die hypnosomatische Ego-State-Therapie ist eine Psychotherapie, die mit Persönlichkeitsanteilen wie Schmerz, Trauma, Angst oder Wut arbeitet und in Kombination mit somatischen Strategien über die Schmerzlinderung hinaus zu einer Stärkung der Persönlichkeit führen soll. Silvia Zanotta erläuterte anhand von Fallbeispielen, wie das in der Praxis funktioniert.
Ein eindrücklicher Erfahrungsbericht
Etwas ganz Besonderes war der persönliche Erfahrungsbericht der ehemaligen Spitzensportlerin Ariella Kaeslin. Sie war mehrfach Schweizer Meisterin im Kunstturnen und errang 2009 eine Goldmedaille an der Europameisterschaft und Silber an der Weltmeisterschaft. Für diesen sportlichen Erfolg hatte sie jahrelang erhebliche physische und psychische Schmerzen in Kauf genommen. Am SPZ-Symposium im Winterthur erlaubte sie einen erschütternden Blick hinter die Kulissen des Hochleistungssports. Kaeslin trat zwei Jahre nach dem Medaillenerfolg aus dem Nationalkader aus und erklärte ihren Rücktritt aus dem Spitzensport. Es dauerte einige Zeit, bis sie ihren neuen Lebensrhythmus fand. Heute wirkt sie ausgeglichen und zufrieden. Nach einem Bachelorabschluss in Sportwissenschaften und Psychologie studiert sie nun Physiotherapie.
Renate Bonifer
17. SPZ-Symposium «Schmerz bei Kindern und Jugendlichen. Eine interdisziplinäre Herausforderung», 29. Oktober 2020 in Winterthur.
PRAXISTIPP
Take care – psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken
Bei Kindern und Jugendlichen sind psychische Probleme oftmals schwer zu erkennen. Das frühe Erkennen von Entwicklungsschwierigkeiten ist von zentraler Bedeutung, um einem negativen Verlauf entgegenzuwirken. Um Jugendliche, Eltern und Fachpersonen für die psychische Gesundheit zu sensibilisieren, haben die ZHAW-Institute für Gesundheitswissenschaften und Angewandte Psychologie in einem gemeinsamen Forschungsprojekt Flyer und Broschüren zu diesem Thema erarbeitet: ● Für Eltern von 6- bis 12-jährigen Kindern gedacht ist die Broschüre
«Wie stärke ich die psychische Gesundheit meines Kindes?». ● Direkt an die Jugendlichen wendet sich die Broschüre «Heb der
Sorg! – Ein Werkzeugkasten für Jugendliche, die aktiv mit Herausforderungen umgehen wollen». ● Informationen für Ärztinnen und Ärzte enthält die Fachinformation «Psychische Gesundheit in der Kindheit: Sensibilisierung und Früherkennung».
Psychische Gesundheit in der Kindheit: Sensibilisierung und Früherkennung
Fachinformationen für die pädiatrische und die hausärztliche Praxis Ein Gemeinschaftsprojekt der Departemente Gesundheit und Angewandte Psychologie
Zürcher Fachhochschule
Für Eltern von 6- bis 12-jährigen
Kindern.
Wie stärke ich die psychische Gesundheit meines Kindes?
Ein Gemeinschaftsprojekt der Departemente Gesundheit und Angewandte Psychologie, nanziert durch das BAG
Zürcher Fachhochschule
Heb der Sorg!
Ein Werkzeugkasten für Jugendliche, die aktiv mit Herausforderungen umgehen wollen Ein Gemeinschaftsprojekt der Departemente Angewandte Psychologie und Gesundheit, nanziert durch das BAG
Zürcher Fachhochschule
Die Broschüren können gratis angefordert werden. Detaillierte Informationen und Bestellung unter:
https://www.rosenfluh.ch/qr/take-care
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