Transkript
Schwerpunkt
Otitis und Tonsillitis
Antibiotika bei Kindern nur mit Bedacht einsetzen
Die Otitis media (AOM) und die Tonsillitis sind typische Infektionskrankheiten im Kindesalter. Bei der Therapiewahl steht der Arzt immer vor der Frage: Antibiose – ja oder nein? Die gute Nachricht: Bei beiden Erkrankungen zeigt sich oft auch ohne Antibiotika ein günstiger Verlauf. Bei der AOM führen vor allem Ohrenschmerzen und der Trommelfellbefund zur Diagnose. Die Schmerzbehandlung ist obligat, eine Antibiotikatherapie erfolgt risikoadaptiert. Die Verlaufskontrolle mit Hörtest ist hier wichtig. Bei der Tonsillitis sind Halsschmerzen, Pharyngitis und der Lokalbefund wesentlich.
Von Hermann Kalhoff
Ein sonst gesundes 15 Monate altes Mädchen hat seit 3 Tagen einen Infekt der oberen Atemwege mit Schnupfen, Husten und Fieber bis 38,7 °C. Am 4. Tag ist es unruhig, fasst sich ans rechte Ohr und wacht nachts zweimal weinend auf. Bei der Untersuchung am Folgetag ist das Mädchen fieberfrei. Am rechten Ohr zeigen sich ein Tragusdruckschmerz, eine Vorwölbung des Trommelfells und Flüssigkeit im Mittelohr. Am linken Ohr ist nur eine leichte Rötung des Trommelfells zu sehen. Welche therapeutischen Massnahmen halten Sie für angebracht? Und wie stehen Sie hier zur Gabe eines Antibiotikums?
Otitis media (AOM)
Die akute Otitis media ist eine der häufigsten Erkrankungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Bis zum 3. Lebensjahr haben sie 70 bis 80 Prozent aller Kinder durchgemacht. Die Risiken sind orofaziale Fehlbildungen (z. B. Gaumenspalte), Grunderkrankungen (Trisomie 21, Störungen der Immunfunktion), Adenoide, der Gebrauch eines Schnullers und das Rauchen der Eltern. Auslöser sind sowohl Viren als auch Bakterien. Meist geht der AOM ein viraler Infekt der oberen Atemwege voraus. Bei etwa 70 Prozent der Kinder lassen sich Bakterien isolieren; häufig sind hier Streptococcus pneumoniae, Haemophilus influenzae und Moraxella catarrhalis (1, 2). Als Komplikationen der AOM gelten die Persistenz des Mittelohrergusses (mit anhaltender Schallleitungsschwerhörigkeit) und die chronisch rezidivierende Otitis media. Durch lokale Ausbreitung können sehr selten auch schwere Entzündungen auftreten, wie Mastoiditis (Rötung, Schwellung, Klopfschmerz über dem Mastoid), Meningitis oder gleichseitige Funktionsstörungen des Nervus facialis beziehungsweise des Nervus vestibulocochlearis. Das Warnzeichen für einen schweren Verlauf ist die Verschlechterung des Allgemeinzustands (z. B. mit
Wesentliches für die Praxis
● Sowohl bei Otitis media als auch bei Tonsillitis zeigt sich oft auch ohne Antibiotika ein günstiger Verlauf.
● Watchful Waiting bei Otitis media: Bei über 2-jährigen Kindern kann neben der erforder- lichen Analgesie mit der Gabe von Antibiotika gewartet werden, wenn die Symptomaus- prägung nicht sehr stark ist.
● Nach einer Otitis media ist die Besserung im Verlauf zu dokumentieren.
● Zur Differenzierung viraler und bakterieller Tonsillitis setzt man bei Patienten ab 3 Jahren den McIsaac-Score ein.
● Ein Rachenabstrich für Schnelltest oder Kultur, mit dem sich beta-hämolysierende Strepto- kokken nachweisen lassen, ist nur selten nötig.
Erbrechen oder unzureichender Flüssigkeitsaufnahme) (1, 2, 3). Typisch für eine AOM sind plötzlich einsetzende, heftige Ohrenschmerzen bei einer Infektion der oberen Atemwege (manchmal mit Fieber). Oft fallen die Kinder durch unspezifische Unruhe oder Reizbarkeit auf. Häufig sind zudem abendliche Schlafprobleme, auch mit Anfassen des betroffenen Ohrs. Bei der Kontrolle ist meist ein Druckschmerz des Tragus auf der betroffenen Seite feststellbar. In der Otoskopie sieht man ein entzündetes Trommelfell mit Hyperämie, Reflexverlust oder verwischten Konturen, einen Mittelohrerguss (oft Trommelfellvorwölbung, verminderte Trommelfellbeweglichkeit bei Tympanometrie) und selten eine Trommelfellperforation
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Tabelle 1:
Otitis media (AOM) im Kindesalter: Antibiotika oder Watchful Waiting?
Primäre Analgesie und Antibiotikum
Patient < 6 Monate Patient 6 Monate bis 2 Jahre und zusätzlich – kraniofaziale Fehlbildungen – Trisomie 21, Immundefizienz – einzig hörendes Ohr, Cochlea-Implantat – starke Symptome, Trommelfellperforation – beidseitige AOM – AOM-Rezidive Primäre Analgesie und Watchful Waiting Patient ≥ 6 Monate und – nur leicht reduzierter Allgemeinzustand – Kontrolle möglich (z. B. mit Ohrsekretion). Bei Säuglingen und Kleinkindern kann die notwendige otoskopische Trommelfellbeurteilung schwierig sein (1, 4). Zur Behandlung der AOM gehört immer eine Evaluation des Schmerzes. Als Standard für die Schmerzmedikation gelten Ibuprofen-Suspension (bis 30 mg/kg Körpergewicht [KG]/Tag, verteilt auf 3 – 4 Einzelgaben), Paracetamol-Suppositorien oder -Suspension (10–15 mg/kg KG bis 4 x/Tag). Analgetische Ohrentropfen sind nicht zu empfehlen. Bei (häufig) begleitender Rhinitis sind zusätzlich abschwellende Nasentropfen sinnvoll (Xylometazolin in niedriger Konzentration oder NaCl 0,9%) (2, 4, 5). Nach einer AOM muss der Arzt die Besserung im Verlauf dokumentieren. Bei rezidivierender AOM muss auf das Gehör und die Sprache geachtet werden (1, 3, 4). Gabe von Antibiotika bei Otitis media? Verlaufsbeobachtungen zeigen auch ohne antibiotische Therapie eine hohe Selbstheilungsrate. Eine spontane Besserung tritt in etwa 60 Prozent der Fälle schon in den ersten 24 Stunden ein. Rund 90 Prozent der Kinder geht es nach 4 bis 7 Tagen wieder gut. Schwere Komplikationen sind bei Kindern über 2 Jahren und ohne besondere Risikofaktoren selten. Watchful Waiting: Bei über 2-jährigen Kindern kann neben der erforderlichen Analgesie mit der Gabe von Antibiotika gewartet werden, wenn die Symptomausprägung nicht sehr stark ist (Tabelle 1). Bei abwartender Haltung muss aber eine Wiedervorstellung in den nachfolgenden 2 bis 3 Tagen sichergestellt sein (1, 3, 4). Indikation für eine Analgesie und eine primäre Therapie mit Antibiotikum ist ein Alter von unter einem halben Jahr. Bei Kindern zwischen 7 Monaten und 2 Jahren sollten Antibiotika primär bei starken Symptomen, Trommelfellperforation und/oder bei beidseitiger AOM gegeben werden. Ausserdem sind kraniofaziale Fehlbildungen (z. B. Gaumenspalte), Grunderkrankungen (z. B. Trisomie 21), Immundefizienz, Cochlea-Implantate und AOM-Rezidive Indikationen für die primäre Antibiotikagabe bei Kindern. Als Antibiotikum der ersten Wahl gilt Amoxicillin (Tagesdosis 50 – 60 mg/kg KG in 3 Gaben). Alternativpräparate (bei Therapieversagen oder bei Risikofaktoren) sind Cephalosporine der zweiten Generation oder Amoxicillin-Clavulansäure. Als Therapiedauer wird empfohlen (4, 6): ● 10 Tage für Kinder unter 2 Jahren (und mit schweren Erkrankungen) ● 7 Tage für Kinder im Alter von 2 bis 10 Jahren ● 5 bis 7 Tage für Kinder ab 6 Jahren. Tonsillitis Die akute Tonsillitis wird bei 70 bis 80 Prozent der Kinder durch Virusinfektionen verursacht. 20 bis 30 Prozent werden durch Streptococcus pyogenes (GABHS) ausgelöst. Die Ansteckung erfolgt in der Regel über Tröpfcheninfektion. Das Risiko für immunogene Folgekrankheiten wie akutes rheumatisches Fieber oder akute Poststreptokokkenglomerulonephritis ist in Deutschland extrem niedrig. Auch lokale Komplikationen wie ein Peritonsillar- oder ein Retropharyngealabszess sind sehr selten (6, 7). Halsschmerzen und plötzlich eintretende Schluckbeschwerden führen mit der eigentlichen Tonsillitis (Schwellung und Exsudat) zur Diagnose. Oft sind die anterioren Halslymphknoten vergrössert, und es liegen systemische Entzündungszeichen wie Fieber vor. Zur Symptomlinderung sind Paracetamol oder Ibuprofen empfohlen. Lokalanästhetika und lokale Antiseptika wie Rachensprays, Lutschtabletten und Gurgellösungen haben keinen gesicherten Effekt (6, 7). Gabe von Antibiotika bei Tonsillitis? Auch ohne Antibiotikum zeigt sich oft ein günstiger Verlauf. Nach 3 Tagen haben 30 bis 40 Prozent der Patienten keine Halsschmerzen und etwa 85 Prozent kein Fieber mehr. Nach einer Woche sind 80 bis 90 Prozent der Patienten beschwerdefrei. Zur Differenzierung viraler und bakterieller Tonsillitis setzt man bei Patienten ab 3 Jahren ein diagnostisches Punktesystem ein, den McIsaac-Score (Tabelle 2). Ein Rachenabstrich für Schnelltest oder Kultur, mit dem sich betahämolysierende Streptokokken nachweisen lassen, ist nur selten nötig. Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie empfiehlt bei Tonsillopharyngitis den Rachenabstrich ab einem Centor-Score ≥ 3, falls ein Streptokokkenantigenschnelltest positiv war (8). Primär symptomatische Therapie und Verlaufskontrolle: Bei einem McIsaac-Score von bis zu 2 Punkten ist eine virale Tonsillitis wahrscheinlich. Ist der Spontanverlauf günstig, reicht die symptomatische Behandlung aus. Bei fehlender Spontanremission, relevanter Krankheitsschwere oder einseitigem Befund ist die weitere mikrobiologische Diagnostik erforderlich. Primär antibiotische Therapie: Bei 3 bis 5 Punkten im Score ist wohl eher von einer bakteriellen Tonsillitis auszugehen. Neben der symptomatischen Therapie wird ein Antibiotikum verordnet. Als erste Wahl gilt hier orales Penicillin, zum Beispiel Penicillin V in einer Dosis von 100 000 IE/kg KG/Tag in 3 Einzelgaben (oder Phenoxy- 1/21 Pädiatrie Schwerpunkt 11 Schwerpunkt Tabelle 2: McIsaac-Score zur Behandlungsplanung bei akuter Tonsillitis Patientenalter und klinische Parameter > 45 Jahre 15 – 44 Jahre 3 –14 Jahre Fieber (Anamnese) oder Temperatur > 38 °C kein Husten schmerzhafte Lymphknoten zervikal (anterior) Tonsillenschwellung oder Tonsillenexudate
Punkte –1 0 1 1 1 1 1 Summe (Score):
Score
Streptokokken im Abstrich
–1/0 1%
Virale Ätiologie wahrscheinlich 1
10%
2 17%
3 Streptokokken wahrscheinlich
4 – 5
35% 50%
Onlinerechner McIsaac-Score: https://www.rosenfluh.ch/qr/centor-mcisaac
tische Organe wie Leber und Milz (Pfeiffersches Drüsenfieber, infektiöse Mononukleose) beteiligt sind. Voneinander abgrenzen muss man EBV- und Streptokokken-Tonsillitis. Neben einer Tonsillopharyngitis, Fieber und zervikalen Lymphknotenschwellungen treten häufig Spleno- und Hepatomegalie auf. Das Blutbild kann Hinweise geben (lymphozytär, monozytoide Zellen, manchmal zytopen). Die Therapie besteht aus körperlicher Schonung, Hydrierung, Analgesie und Antipyrese. Die Gabe von Paracetamol (mögliche Hepatotoxizität) und Ampicillin (Risiko eines Arzneimittelexanthems bis ca. 90%) sollte man vermeiden (7).
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Hermann Kalhoff Stv. Direktor Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Klinikum Dortmund Beurhausstrasse 40 D-44137 Dortmund E-Mail: hermann.kalhoff@klinikumdo.de
Interessenlage: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt in Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
methylpenicillin-Benzathin mit 50 000 IE/kg KG/Tag in 2 Einzelgaben). Die Therapiedauer beträgt 7 Tage. Bei einer Penicillinallergie sind Makrolide (z. B. Erythromycin-Estolat 40 mg/kg KG/Tag in 2 Einzelgaben) oder Clindamycin (20 mg/kg KG/Tag in 3 Einzelgaben) gute Alternativen (5, 6, 7). Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie empfiehlt bei Tonsillopharyngitis für Kinder primär Amoxicillin (25 mg/kg KG alle 12 Stunden für 6 Tage). Bei einer Penicillinallergie sind Cephalosporine möglich, falls diese nicht kontraindiziert sind (Cefuroxim 15 mg/kg KG alle 12 Stunden für 6 Tage), oder, falls alle Betalaktam-Antibiotika kontraindiziert sind, Clindamycin (7 mg/kg KG alle 8 Stunden für 6 Tage) (8).
Differenzialdiagnosen bei Tonsillitis
Scharlach: Eine weitere klassische Infektionskrankheit bei Kindern ist Scharlach. Die Erkrankung zeigt sich infolge einer systemischen Immunantwort auf Streptokokkenexotoxine, die deutlich über die bakterielle Lokalreaktion hinausgeht. Scharlach beginnt plötzlich – mit Schüttelfrost, hohem Fieber, oft auch Kopfschmerzen und kurzzeitigem Erbrechen. Das Gesicht des Patienten ist dabei häufig fieberhaft gerötet, während das blasse MundNase-Dreieck ausgespart bleibt. Bei Tonsillitis (mit oder ohne Beläge) treten zudem Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und zervikale Lymphknotenschwellungen auf. Der Patient hat ausserdem Mundgeruch. Die Zunge ist zunächst grau-weisslich belegt (weisse Himbeerzunge), bis nach einigen Tagen unter dem Belag die erhabenen Zungenpapillen deutlich hervortreten (rote Himbeerzunge). Das kleinfleckige Scharlachexanthem breitet sich vom Stamm vor allem auf die Innenseiten der Extremitäten aus und fühlt sich rau an, wie Sandpapier. Die antibiotische Therapie erfolgt mit einem oralen Penicillinpräparat (7). Epstein-Barr-Virus-(EBV-)Tonsillitis: Die EBV-Tonsillitis ist ein systemisches Krankheitsbild, an dem weitere lympha-
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis» 2020/1. Der aktualisierte Nachdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung von Autor und KirchheimVerlag.
Literatur 1. Lieberthal AS et al.: The diagnosis and management of acute otitis media [published correction in Pediatrics. 2014 Feb;133(2):346. Dosage error in article text]. Pediatrics. 2013;131(3):e964-e999. 2. Carlens J et al.: Akute Otitis media. Monatsschr Kinderheilkd. 2016;164:349-358. 3. Thomas JP et al.: Acute otitis media – a structured approach [published correction in Dtsch Arztebl Int. 2016 Feb 19;113(7):113]. Dtsch Arztebl Int. 2014;111(9):151-160. 4. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. (DEGAM); Mühlenfeld HM et al.: Ohrenschmerzen. AWMF 053/009, 2014. https://www.awmf. org/leitlinien/detail/ll/053-009.html; Zugriff am 27.1.2021. 5. Simon A et al.: Diagnose und Therapie von Atemwegsinfektionen (ohne ambulant erworbene Pneumonie) bei ambulant behandelten Kindern ohne schwerwiegende Grunderkrankung. Monatsschr Kinderheilkd. 2017;165:711-724. 6. Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie; Berner R et al.: DPGI Handbuch. Infektionen bei Kindern und Jugendlichen. Thieme, Stuttgart, 2018. 7. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V. (DGHNO-KHC); Berner R et al.: Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln – Tonsillitis. AWMF 017-024, 2015. https://www.awmf.org/leitlinien/ detail/ll/017-024.html; Zugriff am 27.1.2021. 8. https://ssi.guidelines.ch/guideline/2408/9530; Zugriff am 27.1.2021.
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