Transkript
Seltene Krankheiten
Neugeborene auf SMA screenen
Behandlungszeitpunkt massgeblich für den Therapieerfolg
In Studien mit den neuen Therapeutika für Kinder mit spinaler Muskelatrophie (SMA) vom Typ 1 zeigt sich: Je früher die Behandlung einsetzt, umso besser sind die Erfolgsaussichten. Das Screening auf SMA solle deshalb ins Neugeborenenscreening aufgenommen werden, fordert PD Dr. med. Georg M. Stettner, Universitäts-Kinderspital Zürich.
Bei SMA-Patienten besteht aufgrund eines Gendefekts ein Mangel an SMN-Protein (SMN: survival of motoneuron), und Motoneurone im Hirnstamm und im Rückenmark sterben ab. Die SMA ist eine der häufigsten genetischen Erkrankungen, die im Kindesalter zum Tod führen. Etwa 1 von 6000 bis 10 000 Neugeborenen ist davon betroffen, in der Schweiz kommen jedes Jahr zirka 10 Kinder mit SMA zur Welt. Die Erkrankung wird autosomal-rezessiv vererbt. Etwa 1 von 35 bis 70 Personen ist ein heterozygoter Mutationsträger, das seien etwa «so viele wie bei der Mukoviszidose», sagte Stettner am FOMF Pädiatrie Update Refresher in Zürich. Typische Symptome sind eine generalisierte muskuläre Hypotonie, progrediente Muskelschwäche, fehlende Muskelreflexe, Zungenfaszikulieren, Tremor, Schluck- und Atmungsstörungen. Die sensiblen Funktionen der Kinder sind normal, ebenso ihre kognitive Entwicklung. Die Diagnose wird anhand der klassischen Symptomatik und mit einer genetischen Untersuchung gestellt (Nachweis einer homozygoten Deletion im SMN1-Gen). Man unterteilt die SMA-
Infokasten:
Standards für die Diagnose und Behandlung von SMA-Patienten
Für die Diagnose und Behandlung von SMA-Patienten wurden internationale Standards erarbeitet. Sie betreffen nicht die neuen therapeutischen Möglichkeiten, sondern zahlreiche Probleme, die mit einer SMA verbunden sind (Rehabilitation, Orthopädie, Ernährung, Lungenfunktion, Akutpflege usw.). Sie werden in einer Broschüre auf Deutsch zusammengefasst:
Leitfaden zu den internationalen Therapiestandards für spinale Muskelatrophie 2020
https://www.rosenfluh.ch/qr/sma-leitfaden
Links zu den Originalpublikationen im Volltext
Mercuri E et al.: Diagnosis and management of spinal muscular atrophy: Part 1: Recommendations for diagnosis, rehabilitation, orthopedic and nutritional care. Neuromuscul Disord 2018; 28(2): 103–115.
https://www.rosenfluh.ch/qr/sma-guideline-part1
Finkel RS et al.: Diagnosis and management of spinal muscular atrophy: Part 2: Pulmonary and acute care; medications, supplements and immunizations; other organ systems; and ethics. Neuromuscul Disord 2018; 28(2): 103–115.
https://www.rosenfluh.ch/qr/sma-guideline-part2
Patienten gemäss dem Schweregrad ihrer Erkrankung in 5 Typen (s. Tabelle), wobei der Übergang zwischen den Typen fliessend ist. Am häufigsten sind die SMA-Typen 1 bis 3.
SMN2-Splicing-Modifikation
Neben dem SMN1-Gen hat jeder eine oder mehrere Kopien des SMN2-Gens, das sozusagen eine leicht defekte Version des SMN1-Gens ist. Darum sei nur ein kleiner Teil, nämlich 10 bis maximal 20 Prozent, des via SMN2-Gen produzierten SMN-Proteins funktional, erläuterte Prof. Dr. med. Janbernd Kirschner, Universität Bonn, an einer Onlinepressekonferenz in Deutschland: «Man könnte sagen, das SMN2Gen ist eine schlechte Kopie von SMN1.» Während die SMN2-Genkopien bei Gesunden nicht relevant sind, können sie bei einem SMA-Patienten Motoneurone retten. Deshalb sind Ausprägung und Verlauf einer SMA umso milder, je mehr Kopien des SMN2-Gens vorhanden sind. Hier setzen die «splicing modifier» Nusinersen (Spinraza®), das bis anhin nur in den USA zugelassene Risdiplam (Evrysdi®) und das noch nicht zugelassene Branaplam an. Sie sorgen dafür, dass via SMN2-Gen mehr intaktes SMN-Protein gebildet werden kann. Bis anhin wurden rund 11 000 SMA-Patienten mit Nusinersen behandelt. Die Substanz wird intrathekal appliziert, sodass eine Sedierung oder Lokalanästhesie erforderlich ist. In der Aufsättigungsphase werden 4 Dosen in kürzeren Abständen verabreicht, danach lebenslang je 1 Dosis alle 4 Monate. Eine Dosis kostet in der Schweiz rund 90 000 Franken. Risdiplam ist ein oraler «splicing modifier», der kürzlich von der FDA in den USA zugelassen wurde. Der Entscheid von Swissmedic zu Risdiplam werde in der zweiten Jahreshälfte 2021 erwartet, sagte Stettner an der FOMF-Tagung.
Gentherapie
Die Gentherapie mit AVXS-101 (Zolgensma®) soll das defekte SMN1-Gen ersetzen. Das korrekte SMN1-Gen wird mithilfe eines viralen Vektors ins ZNS des Patienten gebracht. Dort wird das transferierte Gen nicht ins Genom integriert, sondern es liegt im Zellkern als episomale DNA vor, was eine kontinuierliche Produktion von funktionalem SMN-Protein sicherstellen sollte, weil sich Nervenzellen in der Regel nicht mehr teilen. AVXS-101 wird einmalig i.v. verabreicht. Das als Genfähre verwendete, gentechnisch modifizierte adenoassoziierte Virus (AAV9) ist neurotrop, das heisst, es findet den Weg durch die Blut-Hirn-Schranke ins ZNS von allein, kann aber auch in Leber-, Herz- und Skelettmuskelzellen eindringen. Letzteres sei
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Tabelle:
SMA-Typen
Anteil
Manifestationsalter
Typ 0 sehr selten neonatal
Maximal erreichbarer motorischer Meilenstein
–
Lebenserwartung versterben früh neonatal
Typ 1 ca. 60% Typ 2 ca. 30%
0 bis 6 Monate 6 bis 18 Monate
wird nie frei sitzen können freies Sitzen kein Stehen oder Gehen
bis 2 Jahre (im Mittel 8–13 Monate) 2 Jahre bis junges Erwachsenenalter
Typ 3 ca. 10%
18 Monate bis Erwachsenenalter freies Gehen*
nicht wesentlich verkürzt
Typ 4 sehr selten Erwachsenenalter
annähernd normal sehr milder Verlauf
normal
*kann bei Fortschreiten der Erkrankung wieder verloren gehen
Quellen: «Spinale Muskelatrophie: Care Standards und neue Therapiemöglichkeiten», Referat von PD Dr. med. Georg M. Stettner am FOMF Pädiatrie Update Refresher am 28. Oktober 2020 in Zürich.
Onlinepressekonferenz und Pressemitteilung der Firma AveXis am 9. Juni 2020 anlässlich der Zulassung von Zolgensma® in Deutschland.
durchaus wünschenswert, weil das SMN-Protein ubiquitär vorkomme und eine SMA neben dem ZNS auch andere Organe beeinträchtige, sagte Dr. Andreas Ziegler, Universitätsklinikum Heidelberg, an der Onlinepressekonferenz anlässlich der Zulassung von AVXS-101 in Deutschland. Ein adenoassoziiertes Virus dürfe man nicht mit dem Adenovirus verwechseln, betonte Ziegler: «Das adenoassoziierte Virus AAV9 ist per se ein nicht humanpathogener Virusvektor.» Auch seien modifizierte adenoassoziierte Viren weniger immunogen als andere Viren. Trotzdem ist ein wiederholter Gentransfer mittels AVXS-101 nicht möglich, weil der Empfänger nach der ersten Gabe immunisiert wird und die Genfähre bei einer zweiten Transfusion vom Immunsystem des Patienten zerstört werden würde. Die Behandlung mit AVXS-101 wäre demnach definitiv eine einmalige Gabe. Ob das ein Leben lang ausreichen wird, ist eine offene Frage. Bis anhin wurden weltweit zirka 500 Patienten mit AVXS101 behandelt. Es ist in den USA und in Europa zugelassen, in der Schweiz noch nicht. Eine Dosis kostet zirka 2 Millionen Euro. Seit Juli 2020 besteht für die Schweiz eine Vereinbarung zwischen BSV/IV und dem Hersteller über eine Einzelfallvergütung für neu diagnostizierte SMA-Patienten ohne bisherige andere Behandlung. Weil diese Vereinbarung erhebliche rechtliche und finanzielle Lücken aufgewiesen habe, habe es bis Mitte Oktober 2020 noch keinen entsprechenden Fall in der Schweiz gegeben, so Stettner. Eine erste Patientin werde wahrscheinlich demnächst gemäss dieser Vergütungsvereinbarung behandelt.
Erfahrungen aus Studien
Die Studien mit Nusinersen bei Kindern mit Typ-1-SMA zeigen, dass ein frühzeitiger Therapiebeginn für den Therapieerfolg massgebend ist. Begann man die Nusinersen-Behandlung von Typ-1-SMA-Kindern erst mit dem Auftreten von Symptomen und spätestens im Alter von 7 Monaten, verlief die motorische Entwicklung deutlich besser als unter Plazebo, aber weit entfernt von einem normalen Verlauf. Im Langzeit-Follow-up zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Patienten lernt, frei zu sitzen, und damit einen motorischen Meilenstein erreicht, den unbehandelte Typ-1-SMA-Kinder niemals erreichen. Einige wenige der behandelten Kinder können mit Unterstützung, einzelne auch frei stehen oder gehen. Die Langzeitdaten zeigen auch, dass die behandelten Kinder trotzdem eine ganze Reihe schwerwiegender Probleme haben: Nahezu alle entwickeln in den ersten 2 Lebensjahren eine Skoliose, und sie bedürfen einer zumindest nächt-
lichen, nicht invasiven Beatmung. Mehr als 80 Prozent benötigen innert 18 Monaten nach Therapiebeginn eine NG- oder PEG-Sonde, und mehr als 70 Prozent haben Spracherwerbsstörungen. Dies zeigen neue Daten, die am Kongress der World Muscle Society (WMS) Anfang Oktober 2020 vorgestellt wurden. Anders sieht es bei SMA-Kindern aus, die präsymptomatisch und innert 6 Wochen nach der Geburt mit Nusinersen behandelt wurden. Die meisten dieser Kinder waren Geschwister von SMA-Kindern, sodass ihre Genetik bereits pränatal oder gleich nach der Geburt überprüft wurde. Diese extrem früh mit Nusinersen behandelten SMA-Kinder entwickelten «eine nahezu normale Motorik», berichtete Stettner an der FOMF-Tagung. Auch zur Gentherapie wurden neue Daten am WMS-Kongress präsentiert. Wenn die Gentherapie bei Typ-1-SMA-Kindern nach dem Auftreten von Symptomen (spätestens im Alter von 6 Monaten) erfolgte, erreichten viele Kinder motorische Meilensteine. So konnten im Alter von 18 Monaten 14 von 22 Kindern mindestens 30 Sekunden frei sitzen und 1 von 22 konnte mit Unterstützung laufen. 9 Prozent der Kinder mit Gentherapie benötigten eine PEG-Sonde, in einer historischen Vergleichsgruppe waren es 70 Prozent. Eine nicht invasive Atmungsunterstützung war mit Gentherapie bei 32 Prozent der Kinder erforderlich, in der historischen Vergleichsgruppe waren es 78 Prozent. Eine offene Phase-III-Studie mit SMA-Kindern, die präsymptomatisch in den ersten 6 Lebenswochen mit der Gentherapie behandelt wurden, zeigt, dass auch bei der Gentherapie eine möglichst frühe Behandlung nützlich ist: Diese Kinder erreichten rasch und altersgemäss definierte Meilensteine, hiess es in einer Pressemitteilung des Herstellers.
Neugeborene auf SMA screenen
Alle SMA-Kinder durchlaufen postnatal zunächst eine mehr oder weniger lange asymptomatische Phase. Bereits in dieser Phase sterben Motoneurone irreversibel ab. Mit der Verfügbarkeit wirksamer Therapien sei nun der Zeitpunkt gekommen, SMA ins Neugeborenenscreening in der Schweiz aufzunehmen, forderte Stettner. Bereits eingeführt wurde es in 33 Bundestaaten der USA sowie in Israel und Katar. In Norwegen, Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Italien, Österreich, Spanien und im Vereinigten Königreich laufen Pilotprojekte.
Renate Bonifer
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