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Schwerpunkt
Pädiatrie, bitte melden!
Zusammenarbeit mit der Kindesschutzbehörde (KSB)
Eine gute Zusammenarbeit der Pädiater mit der KSB ist für einen frühzeitigen und niederschwelligen Schutz gefährdeter Kinder und Jugendlicher essenziell. Pädiater könnten im Kindesschutz eine noch viel tragfähigere und kompetentere Rolle bei der Früherkennung von Krisenfamilien, Kindeswohlgefährdungen und bei der Vermittlung frühzeitiger Hilfen übernehmen. Dieser Artikel soll dazu beitragen, Vertrauen zu schaffen, um so die konstruktive Zusammenarbeit zwischen Pädiatern und KSB und damit den Kindesschutz zu stärken.
Von Patrick Fassbind
Die Ausgangslage
Fehlende Gefährdungsmeldungen an die KSB
Durchschnittlich zwei Gefährdungsmeldungen von nie-
dergelassenen Pädiatern treffen pro Jahr bei der Kindes-
schutzbehörde (KSB) des Kantons Basel-Stadt ein. Dazu
kommen noch die Meldungen des Kinderspitals (Kindes-
schutzgruppe). Identisch sieht es bei Kinderpsychiatern
und Kinderpsychologen aus, auf die in diesem Beitrag
nicht näher eingegangen wird, für die aber die nachfol-
genden Ausführungen uneingeschränkt adaptierbar
sind.
Das sieht in den meisten anderen KSB-Regionen der
Deutschschweiz nicht anders aus, wobei die Meldungen
von Kindesschutzgruppen
Melden bedeutet helfen.
der Kinderspitäler an die
KSB schweizweit sehr
stark variieren. Bei gesamthaft rund 1000 jährlichen Ge-
fährdungsmeldungen im Kindesschutz im Kanton Ba-
sel-Stadt tragen Pädiater damit nur weit unter 1 Prozent
zum behördlichen Kindesschutz bei. Das hat sich auch seit
Inkrafttreten der neuen Melderechte und -pflichten
(Art. 314c und Art. 314d ZGB) beziehungsweise der
neuen Bestimmung über die Verfahrensmitwirkungs-
rechte und -pflichten (Art. 314e Abs. 1 und Abs. 2 ZGB)
per 1. Januar 2019 leider nicht geändert.
Dabei wurden so viele Hoffnungen mit dieser Gesetzes-
revision verbunden. Sie wurden alle enttäuscht. Die sel-
tenen Meldungen von Pädiatern sind mehr als erstaun-
lich, weil fast alle Kinder durch Pädiater regelmässig me-
dizinisch betreut und begleitet werden. Darüber hinaus
werden ganze Familien von Pädiatern täglich psychisch
und lebenspraktisch unterstützt. Viele Kindeswohlge-
fährdungen und familiäre Krisen dürften Pädiatern des-
halb nicht verborgen bleiben.
Jeder, der bereits einmal mit einem Kind in einem Wartezimmer einer pädiatrischen Praxis war, kann Zeugnis davon ablegen, dass Pädiater und ihre Mitarbeitenden in ihren Praxen wahre Helden des Alltags sind, die jeden Tag grossartige Arbeit leisten. Pädiatrische Praxen sind «hot spots», an denen nicht nur somatische und psychische Hilfe, sondern auch soziale Abfederung, Vermittlung und Vernetzung stattfinden. Pädiatrische Praxen sind regelrechte Kriseninterventions-, Vermittlungs- und Vernetzungsstellen. Mit grossem Engagement und oft selbstlosem Einsatz wird von Pädiatern und ihren Mitarbeitenden weit über die KVG-abrechnungsberechtigten Bereiche hinaus sehr viel für Kinder und ihre Familien geleistet. Dies betrifft den freiwilligen Kindesschutz im Gegensatz zum behördlichen Kindesschutz, bei welchem sich die Pädiater offensichtlich erhebliche Zurückhaltung auferlegen. Die pädiatrische Meldehemmung an die KSB und die damit verbundene Kritik ist ernst zu nehmen und vonseiten der KSB zu reflektieren. Eine gute Zusammenarbeit der Pädiater mit den KSB ist für einen frühzeitigen und niederschwelligen Schutz gefährdeter Kinder und Jugendlicher essenziell. Es ist wie bei Krankheiten: Früh erkannt, sind sie oft einfacher zu behandeln, werden sie aber falsch oder zu spät behandelt, braucht es viel mehr, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen, Nebenwirkungen inklusive.
Problematik der fehlenden Gefährdungsmeldungen
Die grösste Hoffnung, die mit der Einführung der neuen Melderechte und -pflichten beziehungsweise der neuen Bestimmung über die Verfahrensmitwirkungsrechte und -pflichten verknüpft wurde, war, dass die hohe Dunkelziffer von psychischem, physischem und sexuellem Kindes-
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missbrauch sowie von anderen schwerwiegenden Kindeswohlgefährdungen (z. B. Vernachlässigungen, schwere elterliche Überforderungen, psychisch kranke Eltern, insbesondere Suchtproblematiken, psychische und physische Erkrankungen bei Kindern und Erziehungsproblematiken) frühzeitig erkannt wird und schwer leidenden Kindern und Jugendlichen damit früher mit milderen Präventionsmassnahmen geholfen werden kann als mit einer aufgrund zu spät erfolgter Intervention allenfalls erforderlichen Fremdplatzierung. Vor allem nach der Geburt bis zum Eintritt in den Kindergarten tauchen viele nicht fremdbetreute Kinder nicht mehr auf einem Sozialkontrollradar auf. Sinnbildlich verschwinden sie in einem «schwarzen Loch». Ausserhalb von pädiatrischen Praxen kommen viele Kinder kaum mit professionellen Helfersystemen in Kontakt, welche bei Bedarf rechtzeitig die richtigen Weichen stellen könnten. Dabei ist die frühkindliche Entwicklung für die Herstellung von immerhin annähender Chancengleichheit entscheidend. Die Früherkennung von erzieherischen, sozialen, psychischen, physischen sowie anderen Fehlentwicklungen von Kindern ist wichtig, um möglichst frühzeitig präventiv und so mild wie möglich Schlimmeres zu verhindern. Der Hintergedanke dabei ist nicht, dass die KSB eingreifen kann, sondern die Hoffnung, dass die KSB überhaupt nie zum Zuge kommen muss und damit so früh und so mild wie möglich subsidiäre Hilfen zur Erziehung installiert und Kinder und ihre Familien unterstützt werden können. Wohlgemerkt können bei Kindeswohlgefährdungen meistens Lösungen ohne Massnahmen der KSB gefunden werden. Das Ziel ist stets, gemeinsam mit den Betroffenen eine Lösung zu finden, welche im Idealfall freiwillig in Anspruch genommen wird. Werden Krisenfamilien u nd Kindeswohlgefährdungen nicht frühzeitig identifiziert und wird diesen Familien und Kindern nicht rechtzeitig Hilfe und Unterstützung vermittelt, tragen die betroffenen Kinder die damit verbundenen Nachteile oft ein Leben lang mit sich. Bei der Aufnahme in den Kindergarten – beziehungsweise bei fremdsprachigen Kindern ohne genügende Deutschkenntnisse im Kanton Basel-S tadt mit der obligatorischen frühen Deutschförderung ein Jahr vorher – und dem damit gesetzlich vorgesehenen Wiedererscheinen auf dem Radar des professionellen Helfernetzes ist es meistens bereits zu spät. Schon jetzt ist in den Schulen eine steigende Anzahl von fast nicht mehr beschulbaren Kindern zu verzeichnen, und die mit dem iPad von den Eltern ruhig gestellten Kleinkinder sind noch nicht einmal in den Volksschulen angekommen. Es geht bei der Früherkennung also nicht um staatliche Interventionen, sondern um die Herstellung fairer Chancen für alle Familien und Kinder, sich gut zu entwickeln und sich optimal zu entfalten – wenn immer möglich ausserhalb von KSB-Verfahren, durch das niederschwellige Zugänglichmachen von frühen freiwilligen Hilfen im Interesse der betroffenen Kinder und Familien.
Zentrale Rolle der Pädiatrie
Pädiater sind sehr häufig die Einzigen, die nach der Geburt bis zur Einschulung mitbekommen können, was in Familien passiert, ob sich ein Kind gesund entwickelt, es gut aufgehoben ist, ob es ihm an etwas fehlt oder ob es gar leidet. Deshalb stehen Pädiater im Kindesschutz im Fokus, und deshalb kommt ihnen auch eine zentrale Rolle und Verantwortung im frühkindlichen Kindesschutz zu.
Pädiater könnten im Hinblick auf einen gesamtheitlich nachhaltigen und rechtzeitigen Kindesschutz eine noch viel tragfähigere und kompetentere Rolle bei der Früherkennung von Krisenfamilien, Kindeswohlgefährdungen und bei der Vermittlung frühzeitiger Hilfen übernehmen. Für die Wahrnehmung dieser Rolle und die damit verbundene Verbesserung des Kindesschutzes sind jedoch zwei Dinge nötig: 1. eine vermehrte Zusammenarbeit der Pädiatrie auch
mit der KSB im Sinne der Mitwirkung der Pädiatrie im Kindesschutzverfahren (Art. 314e Abs. 1 und Abs. 2 ZGB) und 2. mehr Meldungen an die KSB (Art. 314c ZGB), wenn Eltern von schwer gefährdeten Kindern keine freiwillige Hilfe in Anspruch nehmen beziehungsweise deren Vermittlung an geeignete Stellen weder möglich noch aussichtsreich erscheint oder sogar bereits gescheitert ist.
Fehlendes Vertrauen der Pädiater
Bedauerlicherweise erfolgen oft selbst dann keine Mel-
dungen von Pädiatern an die KSB, wenn die Eltern pädia
trische Praxen wechseln, weil die behandelnden Pädiater
eine Kindeswohlgefährdung identifiziert und diese den
Eltern gegenüber thema-
tisiert haben. Spätestens dann sollte aber gehandelt werden. Geschieht das nicht, kann dies nur mit dem fehlenden Ver-
Pädiatrische Praxen sind Kriseninterventions-, Vermittlungs- und Ver netzungsstellen.
trauen der Pädiatrie in die
KSB und den behördlichen Kindesschutz erklärt werden.
Die Basis für das erforderliche Vertrauen sind grundle-
gende Kenntnisse der Pädiater über die Aufgaben und
die Rolle der KSB, über die rechtlichen Rahmenbedingun-
gen des behördlichen Kindesschutzverfahrens, insbeson-
dere fundierte Kenntnisse über die eigenen Melderechte
und Mitwirkungsrechte und -pflichten sowie über die
Massnahmen des Kindesschutzes.
In der Praxis ist ein Mangel an Kenntnissen der Pädiater
in diesen Bereichen festzustellen. Häufig werden von Pä-
diatern schlechte Erfahrungen mit dem Kindesschutzsys-
tem für das zurückhaltende Meldeverhalten angeführt.
Diese sind nicht selten auf Erlebnisse im altrechtlichen
Laienvormundschaftswesen (vor 2013), aber auch auf
falsche Erwartungen an
das neue Kindesschutz- Die KSB hat keine polizei system sowie auf die ne- lichen Funktionen, aber die
gativ geprägte und einsei- gesetzliche Pflicht, bei jeder
tige Berichterstattung Meldung hinzuschauen
über die Kindes- und Er- und abzuklären.
wachsenenschutzbehör-
den (KESB) in den Medien zurückzuführen. Meldehem-
mend wirken sich zudem viele Missverständnisse und
Halbwissen, falsche Vorstellungen über die KSB, die
Angst, mit einer Meldung an die KSB Kontrolle abzuge-
ben, die Idealisierung des bestehenden pädiatrischen
Vertrauensverhältnisses, welches nicht verletzt werden
soll, die damit zusammenhängende Angst vor einem Ab-
bruch der notwendigen pädiatrischen Behandlung eines
Kindes und, bis vor Inkrafttreten des neuen Melderechts,
die je nach Kanton teilweise administrativ aufwendige –
nach neuem Melderecht nicht mehr notwendige – Ent-
bindung vom Berufsgeheimnis aus.
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Damit die notwendige Zusammenarbeit und die nachhaltige Früherkennung gelingen können, ist Vertrauen der Pädiatrie in die KSB und den freiwilligen und behördlichen Kindesschutz vonnöten. Gemeinsam und vernetzt könnte frühzeitig wirksamere und nachhaltigere Hilfe und Unterstützung für Kinder und Familien geleistet werden. Die Pädiatrie muss sich ihrer zentralen Rolle und
Verantwortung bewusst sein und ihrem wichtigen Beitrag für einen gesamtheitlichen Kindesschutz noch besser und kompetenter nachkommen. Die rechtliche Wissensbasis als einer der tragenden Grundpfeiler zur Stärkung des Vertrauens in die KSB und den Kindesschutz wird im Folgenden aufgezeigt.
Die Rechtslage
Melderecht und Meldepflicht
Per 1. Januar 2019 ist das neue Recht über Meldungen an die KSB und die Mitwirkung von Dritten im Verfahren in Kraft getreten. Die Hauptänderung des neuen Rechts betrifft den Kindesschutz. Das allgemeine Melderecht lautet neu leicht modifiziert wie folgt:
Art. 314c ZGB 1 Jede Person kann der Kindesschutzbehörde
Meldung erstatten, wenn die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines
Kindes gefährdet erscheint. […]
Die Bestimmung betont die Mitmenschlichkeit und ist Ausdruck der Mitverantwortung der ganzen Gesellschaft für Kinder und deren Wohl. Kinder gehören nicht ihren Eltern. «Ist das Wohl von Kindern gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind dazu ausserstande, so trifft die KSB die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes» (Art. 307 Abs. ZGB). Zum Schutz von Kindern ist die KSB auf Meldungen angewiesen, wenn Eltern ihr naturgemäss grosses Erziehungs ermessen überschreiten. Eine besondere Verantwortung für Kinder kommt Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern haben, sowie jeglichen Personen in Ausübung ihrer amtlichen Tätigkeit zu. Für sie sieht der Gesetzgeber eine Pflicht vor, Kindeswohlgefährdungen bei der KSB zu melden. Ausdrücklich ausgenommen davon sind Berufsgeheimnisträger, unabhängig davon, ob sie eine amtliche Tätigkeit ausüben (z. B. die Ärzteschaft von öffentlichen Spitälern) oder ob sie privatrechtlich tätig sind. Klargestellt wird damit auch, dass für Amtsträger keine vorgängige Entbindung vom Amtsgeheimnis erforderlich ist.
Art. 314d ZGB 1 Folgende Personen, soweit sie nicht dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Meldung verpflichtet, wenn konkrete Hinweise dafür bestehen, dass die körperliche, psychische oder sexuelle Integrität eines Kindes gefährdet ist und sie der Gefährdung nicht im Rahmen ihrer Tätigkeit
Abhilfe schaffen können: 1. Fachpersonen aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Pflege, Betreuung, Erziehung,
Bildung, Sozialberatung, Religion und Sport, die beruflich regelmässig Kontakt zu Kindern
haben; 2. wer in amtlicher Tätigkeit von einem
solchen Fall erfährt. 2 Die Meldepflicht erfüllt auch, wer die Meldung
an die vorgesetzte Person richtet. 3 Die Kantone können weitere Meldepflichten
vorsehen.
Eine Meldepflicht besteht nur, wenn der Kindeswohlgefährdung nicht im Rahmen der eigenen Tätigkeit Abhilfe geschaffen werden kann. Als Abhilfe gilt auch die kon trollierte Vermittlung an geeignete Drittstellen (z. B. an die Erziehungsberatung oder an Stellen des freiwilligen Kindesschutzes). Dieser generell für jede Meldung geltende Grundsatz der Subsidiarität räumt den Meldepflichtigen richtigerweise erhebliches Ermessen ein, weshalb es inhaltlich zwischen einer Meldepflicht und einem Melderecht keine rechtlichen, praktischen oder faktischen Unterschiede gibt. Auch strafrechtlich nicht. Besteht wie in der Pädiatrie eine vertragliche Schutzpflicht, ist das Unterlassen einer Meldung strafrechtlich relevant, unabhängig davon, ob es sich um ein Melderecht oder um eine Meldepflicht handelt. Teilweise sehen Kantone weitergehende Meldepflichten vor, die auch Berufsgeheimnisträger betreffen können. Im Kanton Basel-Stadt gilt eine Meldepflicht zum Beispiel für alle Berufsgeheimnisträger, die in subventionierten Betrieben und Institutionen arbeiten, die im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes tätig sind (§ 6 des kantonalen Kindes- und Erwachsenenschutzgesetzes). Berufsgeheimnisträgern ist zu empfehlen, sich bei den kantonalen Stellen über die jeweilige Rechtlage kundig zu machen. Für Berufsgeheimnisträger sieht das Kindesschutzrecht bloss ein Melderecht vor, sofern eine Meldung im Interesse des Kindes liegt. Eine vorgängige Entbindung vom Berufsgeheimnis ist nicht erforderlich. Nicht selbstständig meldeberechtigt sind an das Berufsgeheimnis gebundene Hilfspersonen.
Art. 314c ZGB […]
2 Liegt eine Meldung im Interesse des Kindes, so sind auch Personen meldeberechtigt, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetz-
buch unterstehen. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das
Berufsgeheimnis gebundenen Hilfspersonen.
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Von der Aussenwirkung ist es zwar sehr bedauerlich, dass nicht auch für Berufsgeheimnisträger eine Meldepflicht vorgesehen wurde, inhaltlich besteht aber weder rechtlich, praktisch noch faktisch ein Unterschied. Eine Meldung an die KSB ist entweder notwendig oder nicht. Jede erhebliche Kindeswohlgefährdung, der durch Berufsgeheimnisträger, wie bei der Meldepflicht bereits dargestellt, nicht selbst genügend entgegnet werden kann, sollte der KSB gemeldet werden. Selbst wenn es sich dabei nicht um eine rechtliche Pflicht handelt, drängt sich eine Meldung ethisch auf, denn sie liegt im dringenden Interesse des betroffenen Kindes an einer gesamtheitlichen Unterstützung und an einem umfassenden Schutz. Auch den Berufsgeheimnisträgern kommt dabei ein grosses Ermessen zu. In der erforderlichen Verhältnismässigkeitsprüfung ist das bestehende Vertrauensverhältnis und der damit verbundene Nutzen für das Kind in Bezug zur konkreten Gefährdung des Kindes zu setzen. Bagatellgefährdungen werden dadurch von vornherein ausgeschlossen. Das Vertrauensverhältnis der Pädiater zu den Familien darf nicht überschätzt werden, weil es nach einer Gefährdungsmeldung an die KSB selten zum allseits immer wieder genannten und befürchteten Behandlungs- und Beziehungsabbruch kommt, wenn die Gefährdungsmeldung an die KSB, wie es noch auszuführen gilt, lege artis, das heisst transparent und sachverhaltsbezogen, erfolgt. Diese Erkenntnis stützt sich auf jahrelange Erfahrungen mit Gefährdungsmeldungen von Fachpersonen, die ebenfalls auf ein Vertrauensverhältnis mit den Familien angewiesen sind (z. B. Schulen, Kindertagesstätten, Erziehungs- und Elternberatungen usw.),
Stichpunkte zu Melderecht und Meldepflicht
● Meldungen erfolgen besser zu früh als zu spät.
● Häufig werden schlechte Erfahrungen mit dem Kindesschutzsystem für das zurückhaltende Meldeverhalten angeführt. Diese beruhen nicht selten auf Erlebnissen im altrechtlichen Laienvormundschaftswesen, aber auch auf unrealistischen Erwartungen in Bezug auf die Einflussmöglichkeiten der KSB.
● Berufsgeheimnisträger haben ein Melderecht ohne vorgängige Entbindung vom Berufsgeheimnis.
● Teilweise sehen Kantone weitergehende Meldepflichten vor, die auch Berufsgeheimnisträger betreffen können. Berufsgeheimnisträgern ist zu empfehlen, sich bei den kantonalen Stellen über die jeweilige Rechtslage kundig zu machen.
● Eine Meldepflicht besteht nur, wenn der Kindeswohlgefährdung nicht im Rahmen der eigenen Tätigkeit Abhilfe geschaffen werden kann. Als Abhilfe gilt auch die kontrollierte Vermittlung an geeignete Drittstellen.
● Inhaltlich besteht weder rechtlich, praktisch noch faktisch ein Unterschied zwischen Meldepflicht und Melderecht. Eine Meldung an die KSB ist entweder notwendig oder nicht.
● Besteht wie in der Pädiatrie eine vertragliche Schutzpflicht, ist das Unterlassen einer Meldung strafrechtlich relevant, unabhängig davon, ob es sich um ein Melderecht oder um eine Meldepflicht handelt.
● In der Meldung sind nur eigene Wahrnehmungen sowie medizinische Befunde, aber keine Spekulationen aufzuführen.
● Pädiater sind nicht berechtigt oder verpflichtet, die Patientendossiers herauszugeben, sondern lediglich dazu, mündlich oder schriftlich konkrete Fragen der KSB zu beantworten.
aber auch von Pädiatern. Zudem kann die medizinische Weiterbehandlung durch die KSB mittels Weisung gem. Art. 307 Abs. 3 ZGB angeordnet werden. Schliesslich muss der Mehrwert der umfassenden, nachhaltigen und vernetzten Hilfe für Kinder und Jugendliche in die Waagschale geworfen werden. Pädiater sind wie die KSB allein der Gesundheit beziehungsweise dem Wohl des Kindes und nicht den Eltern verpflichtet. Bei einem laufenden Kindesschutzverfahren sieht das Kindesschutzrecht für Berufsgeheimnisträger eine abgestufte Mitwirkung vor. Grundsätzlich besteht für sie im Gegensatz zu verfahrensbeteiligten Personen und zu allen anderen Dritten nur ein Mitwirkungsrecht. Eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ist für diese Art von Mitwirkung nicht erforderlich. Eine Mitwirkungspflicht besteht hingegen nur, wenn die geheimnisberechtigte Person sie dazu ermächtigt oder die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde sie auf Gesuch der KSB vom Berufsgeheimnis entbunden hat. Die Berechtigung der KSB, die Entbindung vom Berufsgeheimnis zu verlangen, ist mit der zentralen Bedeutung des Abklärungsverfahrens zu erklären. Kinder können nur wirksam geschützt werden, wenn sich die KSB einen möglichst umfassenden Überblick über die konkrete Situation verschaffen kann. Pädiater haben dazu Wesentliches beizutragen, weshalb ihre Mitwirkung im Kindesschutzverfahren zum Wohle der Kinder und Jugendlichen unentbehrlich ist. Sie sind nicht berechtigt oder verpflichtet, die Patientendossiers herauszugeben, sondern lediglich dazu, mündlich oder schriftlich konkrete Fragen der KSB, die im Zusammenhang mit einer Kindeswohlgefährdung bestehen, zu beantworten. Nicht selbstständig mitwirkungsberechtigt und -verpflichtet sind wiederum an das Berufsgeheimnis gebundene Hilfspersonen.
Art. 314e ZGB 1 Die am Verfahren beteiligten Personen und Dritte sind zur Mitwirkung bei der Abklärung des Sachverhalts verpflichtet. Die Kindesschutzbehörde trifft die zur Wahrung schutzwürdiger
Interessen erforderlichen Anordnungen. Nötigenfalls ordnet sie die zwangsweise Durch-
setzung der Mitwirkungspflicht an. 2 Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Mitwirkung berechtigt, ohne sich vorgängig vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen. Diese Bestimmung gilt nicht für die nach dem Strafgesetzbuch an das Berufsgeheimnis
gebundenen Hilfspersonen. 3 Personen, die dem Berufsgeheimnis nach dem Strafgesetzbuch unterstehen, sind zur Mitwirkung verpflichtet, wenn die geheimnisberech-
tigte Person sie dazu ermächtigt hat oder die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde sie auf Gesuch der Kindesschutzbehörde vom Berufsgeheimnis entbunden hat. Artikel 13 des
Anwaltsgesetzes vom 23. Juni 2000 bleibt vorbehalten. […]
Schliesslich ist noch kurz auf zwei weitere wichtige Zusammenarbeitsbestimmungen hinzuweisen. Auch im Kin-
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desschutz gilt über Art. 314 Abs. 1 ZGB gem. Art. 453 ZGB eine Zusammenarbeitspflicht mit der KSB, wenn hilfs- oder schutzbedürftige Minderjährige einer schwerwiegenden, ernsthaften und unmittelbaren Selbstgefährdung ausgesetzt sind oder von diesen eine solche Fremdgefahr ausgeht. Pädiater sind in solchen Gefährdungss ituationen über das Melderecht hinaus zu Meldungen an die KSB und zur Zusammenarbeit mit dieser verpflichtet. Eine Entbindung vom Berufsgeheimnis ist je-
weils nicht erforderlich. Pädiater sind gem. Art. 451 Abs. 2 aber auch berechtigt, Auskunft über das Vorliegen und die Wirkungen einer Massnahme des Kindesschutzrechts von der KSB zu verlangen, wenn sie ein glaubhaft zu machendes Interesse daran haben. Das ist insbesondere dann so, wenn sie zur adäquaten Behandlung eines Kindes Informationen, beispielsweise über die Vertretungsberechtigung einer Beistandsperson in medizinischen Angelegenheiten, benötigen.
Schwerpunkt
Die Lage in der Praxis
Aufgabe und Rolle der KSB
Unglücklicherweise haben auch Pädiater in der Praxis nicht selten ein falsches Bild von der KSB. Dieses geht zurück auf schlechte Erfahrungen, die nicht selten auf unrealistischen Erwartungen in Bezug auf die Einflussmöglichkeiten der KSB beruhen. Diese sind im Bereich sozialer und menschlicher Krisen aufgrund der Komplexität, der vielen Interdependenzen, der zur Verfügung stehenden Ressourcen und der Abhängigkeit von der Kooperation der Betroffenen selbst naturgemäss eng begrenzt. Auch die leider meist einseitige und oft verzerrte Darstellung der KESB in den Medien und der daraus resultierende schlechte Ruf dieser Behörde in der Bevölkerung erschweren die Arbeit und Bemühungen aller Beteiligten. Diesen Vorurteilen ist jedoch entschieden entgegenzutreten. Die KSB ist ein dienstleistungsorientiertes Sozialkrisen interventionscenter. Sie steht im Zentrum sozialer Krisen und koordiniert Schutz, Hilfe und Unterstützung. Als Dienstleistungsorganisation und zentraler Notfalldienst – eine Blaulichtorganisation sui generis – ist sie zuständig für den Schutz von schwer gefährdeten Kindern und Jugendlichen sowie für Kindesbelange bei bestehenden Elternkonflikten. Bei besonderer Dringlichkeit und Gefährdung kann sie unverzüglich sogenannte superprovisorische Schutzmassnahmen anordnen. Die KSB nimmt Meldungen und Anträge zu allenfalls notwendigen Schutzmassnahmen für Kinder und Jugendliche entgegen, prüft sie auf deren Relevanz und Dringlichkeit, klärt diese ab und entscheidet, ob Massnahmen nötig sind oder ob freiwillige Hilfe und Unterstützung genügen. Von einer schweren Gefährdung ist auszugehen, wenn die Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen erheblich und nachhaltig beeinträchtigt erscheint. Dabei geht es aber nie um Schuld oder um Strafe. Die KSB hat keine polizeilichen Funktionen. Es ist die gesetzliche Pflicht der KSB, bei jeder Meldung hinzuschauen und abzuklären. Das muss niemandem Angst oder Sorgen bereiten. Es ist keine Schande, und es heisst auch nicht zwingend, dass das, was in der Meldung steht, stimmt. Manchmal macht sich jemand grundlos Sorgen. Das ist menschlich. Doch ist es auch wichtig, Mitverantwortung für Kinder und Jugendliche zu übernehmen, wenn nötig hinzuschauen und zu handeln. Die Abklärungen der KSB sind für die Betroffenen eine Chance. Eine Chance, allfällige Probleme zusammen mit
einer Fachperson anzuschauen oder Bedenken Dritter
aus der Welt zu schaffen. Die Abklärungen sind zumin-
dest im Kanton Basel-Stadt kostenlos und bringen dann
am meisten, wenn alle offen sind und konstruktiv zu-
sammenarbeiten. Das gilt auch für professionelle Akteure
wie die Pädiater. Die meisten Abklärungen enden ohne
KSB-Massnahmen, denn die meisten Eltern, Kinder und
Jugendlichen nehmen, wenn tatsächlich Probleme be-
stehen, Hilfe und Unterstützung an.
Die KSB versucht, immer zuerst mit der betroffenen Per-
son, ihrer Familie nahestehenden Personen und dem pro-
fessionellen Helfernetz gemeinsam Lösungen zu finden.
Falls nötig und möglich,
werden Angehörige und Nahestehende mobilisiert und bei Bedarf Fachpersonen, Beratungs- und
Die meisten Abklärungen enden ohne KSB-Mass nahmen.
Fachstellen oder Behör-
den involviert. Ziel einer Abklärung und damit eines Kin-
desschutzverfahrens ist es, nicht behördlich entscheiden
zu müssen, sondern mit den Familien gemeinsam getra-
gene Lösungen zu finden sowie den nötigen Schutz
durch Vernetzung und Zusammenarbeit kooperativ si-
cherzustellen.
Kooperative Lösungen sind die wirksamsten Massnah-
men. Die KSB hat aber auch die Pflicht, Massnahmen
gegen den Willen von Betroffenen zu ergreifen. Das ist
dann der Fall, wenn KSB-Massnahmen absolut notwen-
dig und auch verhältnismässig sind: von Gesetzes wegen
bei schweren Gefährdungen, wenn freiwillige Hilfe durch
die Familie, Nahestehende, Fachpersonen, Beratungs-
und Fachstellen oder Behörden nicht ausreicht oder ab-
gelehnt wird.
Jede Intervention der KSB löst Ängste und Verunsiche-
rungen aus, was es bei der Verhältnismässigkeitsprüfung
jeweils zu berücksichtigen gilt. Die KSB darf letztlich nicht
mehr schaden als nützen. Bagatellen und sozialadäquate
Gefährdungen haben deshalb kindesschutzrechtlich fol-
genlos zu bleiben. Den Betroffenen selbstverständlich
nicht vorzuwerfende – in der Regel krankheitsbedingte
– Renitenz und Uneinsichtigkeit erschwert die Initiierung
von wirksamen und geeigneten Massnahmen enorm,
und sie beanspruchen die vorhandenen Ressourcen aller
Beteiligten in einem grossen Ausmass. Bei schwerwie-
genden Kindeswohlgefährdungen verbleibt in diesen
Konstellationen sehr häufig nur die Fremdplatzierung
eines Kindes. Im Vergleich zur kooperativen Hilfe stellt
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das eine suboptimale, aber die einzig mögliche und da-
mit auch gerechtfertigte Massnahme dar.
Der Meinung von betroffenen Kindern, Jugendlichen und
Eltern sowie deren Bedürfnisse und Anliegen sind im Kin-
desschutzverfahren von zentraler Bedeutung. Die Selbst-
bestimmung steht im Zentrum wie auch die Hilfe zur
Selbsthilfe. Selbst bei der Platzierung eines Kindes geht es
immer noch darum, die Eltern wieder zur selbstständigen
Betreuung ihrer Kinder zu befähigen – mit oder besten-
falls ohne staatliche Unterstützung. Mit massgeschneider-
ten Massnahmen des Kindesschutzes werden Eltern un-
terstützt sowie Kinder und Jugendliche geschützt, um
diesen eine möglichst optimale Entwicklung zu ermögli-
chen. Kindesschutzmass-
Die Abklärungen der KSB sind für die Betroffenen eine Chance.
nahmen richten sich nach den Ressourcen und Bedürfnissen sowie den Defiziten der Familien und
gehen nur so weit wie
nötig. Die KSB kann als Massnahme anordnen, was zur
Hilfe, Unterstützung oder zum Schutz von Kindern und
Jugendlichen erforderlich ist, zum Beispiel eine Weisung
gem. Art. 307 Abs. 3 ZGB zur Familienbegleitung, zur
Therapie oder Beratung der Eltern oder zur pädiatrischen
beziehungsweise psychiatrischen oder psychologischen
Behandlung des Kindes. Ganz selten ist als Massnahme
die Platzierung eines Kindes vorgesehen, wenn eine sol-
che unausweichlich und alternativlos erscheint.
Gefährdungsmeldungen an die KSB
Eine Meldung an die KSB hat dann zu erfolgen, wenn einer erheblichen Gefährdung nicht im Rahmen der eigenen Tätigkeit Abhilfe geschaffen werden kann. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Gefährdung mit den eigenen Mitteln allein, im Sinne blosser Symptombekämpfung, nicht zu entgegnen ist und sich damit eine systemisch-interdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen aufdrängt. Dieser Grundsatz des Meldezeitpunkts wird in Art. 314d Abs. 1 ZGB festgehalten, welcher für alle Meldungen an die KSB Gültigkeit hat. In einem pädiatrischen Setting ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn bei elterlichen Überforderungen, sozialen Problemen und selbstverständlich auch bei physischer, psychischer oder sexueller Gewalt sowie bei Vernachlässigungen die medizinische Behandlung des Kindes nicht ausreicht und die Eltern keine zu vermittelnde freiwillige Hilfe annehmen möchten oder notwendige medizinische Behandlungen des Kindes ablehnen. In Abgrenzung zum Strafrecht ist bei eindeutigen Hinweisen auf strafrechtlich relevantes elterliches Verhalten die Polizei oder die Staatsanwaltschaft einzubeziehen. Die KSB wird in diesen Situationen allenfalls nachgelagert durch die Strafverfolgungsbehörden informiert. Bei der KSB geht es um die Sicherstellung des zukünftigen Wohls des Kindes. Die Strafuntersuchung befasst sich mit der vergangenheitsbezogenen Aufarbeitung der Strafbarkeit der Eltern. Grundsätzlich haben sich Berufsgeheimnisträger bei einer strafrechtlichen Anzeige von der zuständigen kantonalen Stelle vorgängig vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen, wenn keine Zustimmung des Berechtigten vorliegt. Vorbehalten bleiben kantonalrechtliche Melderechte und Meldepflicht, die eine Entbindung vom Berufsgeheimnis entbehrlich machen können.
Grundsätzlich gilt aus Kindsschutzsicht: Meldungen an die KSB erfolgen besser zu früh als zu spät, weil frühe Hilfen wirksamer und milder sind sowie die Start- und Entwicklungschancen von Kindern verbessern. Meldungen haben spätestens zu erfolgen, wenn die Eltern auf die bestehenden Probleme angesprochen wurden und daraufhin einen Pädiaterwechsel vollziehen. Selbst wenn, wie in dieser Konstellation, das hier noch zu besprechende Vertrauensverhältnis keine Rolle mehr spielt, erfolgt in der Praxis meistens keine Meldung an die KSB. Es findet zudem zu selten ein über den kernmedizinischen Bereich hinausgehender Informationstransfer an die übernehmenden Pädiater statt, was notwendige Hilfe weiter verzögert. Mit dem Praxiswechsel entfällt die Verantwortung für das Kind nicht. Es käme Pädiatern ja auch nicht in den Sinn, ein krankes Kind ärztlich zu übergeben, ohne alles dafür zu tun, um dessen professionelle Weiterversorgung zu gewährleisten. Genauso sollte es sich bei anderen Kindeswohlgefährdungen verhalten. Die meisten KSB stellen Formulare zur Meldung einer Gefährdung zur Verfügung. Darin sind nur eigene Wahrnehmungen sowie medizinische Befunde in Bezug auf das Wohl des Kindes und das Verhalten, beispielsweise der Eltern, aber keine Spekulationen aufzuführen. Zum Beispiel sind Hämatome, Vernachlässigungen beziehungsweise konkrete Verhaltensauffälligkeiten, Defizite oder Überforderungen der Kinder oder der Eltern zu beschreiben, aber keine Hypothesen über deren Ursachen aufzustellen. Immerhin darf zum Beispiel festgehalten werden, dass aus medizinischer Sicht der von den Eltern genannte Unfallhergang die konkret vorliegenden Verletzungen nicht verursacht haben kann. Selbstverständlich kann auch gemeldet werden, was von den Kindern oder Eltern konkret gesagt oder zugestanden wurde. Sich in diesem Rahmen und Umfang bewegende Meldungen gelten als gerechtfertigt, das heisst, sie sind zivil- und strafrechtlich (Persönlichkeits- und Ehrverletzungstatbestände) nicht justiziabel. Für die Nichtmeldung einer Gefährdung wird von Pädiatern sehr häufig angegeben, dass sie das bestehende Vertrauensverhältnis zu den Eltern nicht aufs Spiel setzen und einen Abbruch der Behandlung des Kindes nicht riskieren möchten. Durch den Abbruch des Patientenverhältnisses würde das Kind in eine noch prekärere Lage versetzt. Diese sehr kurzfristige und rein pädiatrische Betrachtungsweise missachtet die einzige Verantwortung der Pädiatrie für das Wohlergehen des Kindes. Pädiater sind primär dem Kind verpflichtet, und ihr Vertrauensverhältnis und ihre Verantwortung für das Kind (Schutzpflicht) gebieten es, die oft nur von ihnen zu bemerkenden erheblichen Gefährdungen auch zu melden. Ihnen kommt eine besondere Rolle und Verantwortung zu, die sie zum Wohle der Kinder auch wahrnehmen müssen. Die medizinische Seite ist das eine, das andere ist die Initiierung von nachhaltiger, langfristiger und umfassender Hilfe. Unter Berücksichtigung der in diesem Beitrag genannten Aspekte hat immer eine Güterabwägung zu erfolgen. Bei schwerwiegenden Kindeswohlgefährdungen ist es selten gerechtfertigt, das Vertrauensverhältnis zu den Eltern und die Gefährdung der Weiterbehandlung über die gesamtheitlich umfassend koordinierte Hilfe und Unterstützung zu stellen, zumal es erfahrungsgemäss bei einer transparent erfolgenden Meldung gar nicht zu einem
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Behandlungsabbruch kommt und falls doch, die KSB die notwendige pädiatrische Behandlung auch anordnen könnte. Ein wichtiger Aspekt in Hinsicht auf das bestehende päd iatrische Vertrauensverhältnis sowie dessen mögliche Erhaltung ist eine vorgängige transparente Information der Eltern und allenfalls des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen über die Meldung an die KSB, die Gefährdungseinschätzung und die ausgeschöpften pädiatrischen Mittel zur Gefährdungsabwendung. Der Verzicht
auf eine vorgängige Information ist nur bei unmittelbarer schwerer körperlicher, physischer oder sonst irreversibler Gefahr (z. B. bei einer Entführung ins Ausland) gerechtfertigt. Selten nehmen Eltern diese Verantwortungsübernahme den Pädiatern übel. Meistens sind sie erleichtert, dass endlich Hilfe initiiert werden kann. Eine Meldung bietet auch den Pädiatern eine Chance. Die Chance nämlich, die grosse Verantwortung nicht mehr allein tragen zu müssen, und die Gelegenheit, sich auf die medizinische Behandlung konzentrieren zu können.
Fazit: Hilfe durch Zusammenarbeit
Frühe niederschwellige Hilfestellungen verbessern die Startchancen und die Chancengleichheit von Kindern. Zudem verhindern frühzeitige Intervention und Prävention schwerwiegende spätere – nicht selten zu späte – Eingriffe der KSB in Familien und verbessern den Schutz vor sexuellem, psychischem und physischem Kindesmissbrauch sowie vor schweren Kindesvernachlässigungen und Überforderungen. Um diese Ziele zu erreichen, wurden mit dem neuen Melde- und Mitwirkungsrecht (Art. 314 c ff. ZGB) und der damit einhergehenden vollständigen Beseitigung der Berufsgeheimnisentbindungspflicht von Pädiatern im Kindesschutz Meldehemmnisse beseitigt. Zudem wurde ein klares Statement gesetzt, das Pädiater im Kindesschutz in die Verantwortung nimmt. Bis jetzt leider ohne Erfolg. Die Zusammenarbeit von Pädiatern mit der KSB, aber auch mit anderen Behörden und Fachstellen ist jedoch genauso wichtig wie der Austausch mit Kollegen. Es ist zum Beispiel von zentraler Bedeutung, die Themen Kindesschutz und KSB in pädiatrischen Qualitätszirkeln aufzunehmen und Kindesschutzexperten dazu einzuladen. Nur so können diese wichtigen Zusammenarbeitsthemen interdisziplinär besprochen werden, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit zu stärken und voneinander zu lernen. Aufklärung und Weiterbildung tun beidseitig not, um das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zum Wohle von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Den Pädiatern kommt dabei – vor allem im frühkindlichen Bereich – eine überragende Melderolle und -verantwortung zu, weil gefährdeten Kindern ohne deren Meldung erst viel später, nicht selten zu spät geholfen werden kann. Die KSB ist dabei genauso auf pädiatrische Expertise angewiesen wie die Pädiater auf das Kindesschutzwissen der KSB. Dabei gilt wie überall: «Schuster, bleib bei deinen Leisten!» Die KSB als interdisziplinär zusammengesetztes Fachgremium von Spezialisten im Kindesschutz ist darauf spezialisiert und hat die nötige Erfahrung, Kinder, Jugendliche und ihre Familie in schwierigen Situationen zu unterstüt-
zen. Aber nur die Zusammenarbeit und die Vernetzung mit allen anderen relevanten Akteuren, darunter die Pädiater, leisten Gewähr dafür, dass umfassend, nachhaltig, koordiniert und optimiert etwas zum Wohle von Kindern und Jugendlichen beigetragen werden kann. Dabei sind die Erwartungen an die KSB allerseits hoch und können nicht immer erfüllt werden. Es geht in einem äusserst komplexen Umfeld jeweils um Menschen, Meinungen, Konflikte, Emotionen, Risiken und nicht selten um dringliche Entscheide, bei denen es die KSB nicht allen Beteiligten recht machen kann. Oft führen gerade sehr unterschiedliche, starre Vorstellungen und Meinungen zu den grössten Konflikten und landen bei der KSB, da niemand sonst eine Lösung findet. Gesellschaftlich und politisch wird der KSB zudem immer mehr Verantwortung übertragen. Verantwortung, welche sich streitende Eltern nicht wahrnehmen können und die Politik schon gar nicht wahrnehmen möchte. Als neuestes Beispiel sei hier nur die ihr gemäss Bundesgericht obliegende Entscheidung über Impfungen im Elternkonflikt erwähnt. Gerade diese Umstände gebieten es, der KSB, die als einzige Stelle im Kindesschutz in der Lage ist, sich ein Gesamtbild von einer Gefährdungssituation zu machen, und die allein dem Kindeswohl verpflichtet ist, zum Wohle von Kindern und Jugendlichen auch das entsprechende Vertrauen entgegenzubringen. Melden bedeutet helfen, und Zusammenarbeit schafft einen Mehrwert für alle Beteiligten, aber vor allem für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern.
Korrespondenzadresse: Dr. iur. Patrick Fassbind, Advokat, MPA Präsident und Amtsleiter Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde des Kantons Basel-Stadt Departement für Wirtschaft, Soziales und Umwelt Rheinsprung 18, Postfach 1532 4001 Basel E-Mail: patrick.fassbind@bs.ch www.kesb.bs.ch
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Pädiatrie 5+6/20