Transkript
Ernährung
Verzicht auf Milch, Gluten, Fleisch ...
Auslassen bestimmter Nahrungsmittel als Ernährungstrend
Ob Laktose, Gluten oder Fleisch – der Verzicht auf bestimmte Lebensmittel ist in Mode. Wie man mit diesem Trend in der Praxis im Sinne des Patientenwohls umgehen kann, war Thema des Vortrags von Dr. med. George Marx an der Jahrestagung der Kinderärzte Schweiz.
«Der Veganismus ist nicht nur ein Mode trend», sagte Dr. med. George Marx, Leitender Arzt und Leiter der Abteilung Gastroenterologie und Ernährung am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen. «Man muss diese Art von Ernährung respektieren, und es ist wirklich mög lich, sich vegan gesund zu ernähren, wenn man es richtig macht.» Dafür brauche es aber ein sehr gutes Coaching, betonte Marx. Die Nachfrage ist gross: Für seine Sprech stunde für vegan ernährte Kinder am Triemlispital in Zü rich gibt es eine lange Warteliste.
Nicht nur auf Vitamin B12 achten
Neben der allseits bekannten Notwendigkeit einer Vit
amin-B12-Supplementierung bei veganer Ernährung ist
auch die Versorgung mit weiteren Nährstoffen zu be
achten. So kann Eisenmangel ein Problem bei vegan
ernährten Kindern
Gesunde vegane Ernährung erfordert gutes Coaching.
sein. Auch die Zufuhr von Kal zium, Vitamin D,
Folsäure, Omega-
3-Fettsäuren und
Spurenelementen wie Zink, Selen und Jod müsse man im
Auge behalten, sagte der Referent und empfahl regel
mässige Kontrollen, das heisst mindestens alle 6 Monate.
umfassen Veränderungen im Blutbild (Anämie), neuro logische Beeinträchtigungen (Müdigkeit, Konzentra tionsstörungen, Schwäche, Lähmungen, Kribbeln, Ko ordinationsstörungen) und psychiatrische Symptome (Gedächtnisstörungen, psychotische Zustände, Depres sionen, Schlafstörungen), warnte Marx. Der Vitamin-B12-Bedarf steigt im Lauf des Lebens von 0,5 µg pro Tag im ersten Lebensjahr auf etwa 4 µg pro Tag ab einem Alter von 13 Jahren. Schwangere (4,5 µg/Tag) und Stillende (5,5 µg/Tag) benötigen besonders viel Vita min B12. Die Grenzwerte für Vitamin B12 im Serum sind in der Tabelle aufgelistet. Früher nahm man an, dass Vitamin B12 nur mithilfe des Intrinsic Factor aufgenommen werden könne, eines vom Magen sezernierten Glykoproteins, das mit der Nahrung aufgenommenes Vitamin B12 bindet und dadurch die Aufnahme des Vitamins im terminalen Jejunum ermög licht. Über diesen Mechanismus können 1,5 bis 2 µg Vitamin B12 pro Mahlzeit resorbiert werden. Mittlerweile ist bekannt, dass Vitamin B12 auch die Schleimhäute passieren kann (Mund, Nase, Dünndarm). Bei dieser passiven Diffusion werden zirka 1 bis 2 Prozent der verabreichten Dosis aufgenommen. Das bedeutet, dass von der 1000-µg-Dosis eines Vitamin-B12-Supple ments zirka 10 µg resorbiert werden, was den Tagesbe darf mehr als ausreichend deckt.
Wie viel Vitamin B12 ist notwendig?
Das essenzielle Vitamin B12 (Cobalamin) kommt in rein pflanzlicher Nahrung nicht vor. Es muss bei veganer Er nährung supplementiert werden, denn Vitamin-B12-Man gel kann schwerwiegende Konsequenzen haben. Sie
Tabelle:
Normwerte für Vitamin B12 im Serum
Normal Mögliche Unterversorgung Mangel Starker Mangel
gem. Vortrag von G. Marx am 3. September 2020
300 – 900 pg/ml 200 – 300 pg/ml < 200 pg/ml < 150 pg/ml 220 – 665 pmol/l 150 – 220 pmol/l < 150 pmol/l < 110 pmol Wenn Laktose nicht vertragen wird Die Laktoseintoleranz beruht meist auf einem genetisch bedingten Mangel des Enzyms Laktase, sodass der Milch zucker, das Disaccharid Laktose (Glukose + Galaktose), nicht verdaut werden kann. Seine anaerobe Vergärung im Dickdarm löst Beschwerden wie Bauchschmerzen, Koliken, Völlegefühl, Blähungen, Durchfall und Übelkeit aus. Eine Laktoseintoleranz kann auch andere Ursachen ha ben. Ein sekundärer Laktasemangel kann nach einer Gastroenteritis auftreten. Auch Morbus Crohn und an dere intestinale Erkrankungen (z. B. Kurzdarm) können dahinterstecken. Wichtig sei es auch, bei einem Patien ten mit Laktoseintoleranz eine Zöliakie auszuschliessen, betonte der Referent. Eine völlig laktosefreie Ernährung ist nicht notwendig, um die Symptome zu vermeiden. Eine laktosearme Er nährung reicht in der Regel aus. 28 Pädiatrie 5+6/20 Ernährung Präparate zur Enzymsubstitution bei Laktoseintoleranz sind in der Schweiz als Nahrungsergänzungmittel und als Medikament (Lacdigest®) verfügbar. Bei der Verordnung ist darauf zu achten, ein Dauerrezept auszustellen, damit die Kosten von der Krankenkasse übernommen werden. Das Enzymsupplement soll vor der Mahlzeit eingenom men werden. Würde es erst während der Mahlzeit ein genommen, sei seine Wirkung deutlich schwächer, sagte Marx. Wer braucht einen H2-Test? Es sei in der Praxis völlig in Ordnung, die Diagnose bei eindeutigen Symptomen klinisch zu stellen, sagte Marx. Bleiben Zweifel, bringt ein H2-Test Klarheit: «Häufig ist es so, dass die Symptome mit funktionellen MagenDarm-Beschwerden kombiniert sind, sodass wir nicht ge nau wissen, ob die Symptome laktosebedingt sind oder nicht.» Bei dem Entscheid für oder gegen einen H2-Test spielen weitere Faktoren eine Rolle. So vertrauten viele Eltern einem Testergebnis mehr als einer klinischen Diagnose, und «die Compliance ist danach besser», sagte Marx. Eine zuverlässige Durchführung des H2-Tests ist aber frü hestens ab dem Kindergartenalter möglich. Das Kind sollte zuvor zu Hause üben, auf Kommando ein- und auszuatmen. Das grössere Problem ist allerdings häufig, dass die Kinder die mehlig schmeckende Laktoselösung nicht trinken wollen. Eine Genotypisierung bezüglich des Laktasegens wird nicht empfohlen. Sie sagt nichts darüber aus, ob sich eine allfällige Veranlagung für einen Laktasemangel tatsäch lich auch als Laktoseintoleranz manifestieren wird oder nicht. Beschwerden wegen zu viel Fruktose Wer auf Fruktose mit Bauchschmerzen, Koliken, Völlege fühl, Blähungen, Durchfall und Übelkeit reagiert, leidet nicht an einer Intoleranz gegenüber diesem Einfachzu cker, sondern daran, dass die Fruktose nicht adäquat resorbiert wird, unverdaut in den Dickdarm gelangt und dort eine anaerobe Vergärung bewirkt – mit den bekann ten Folgen. «Eine Fruktosemalabsorption muss per se nichts Patho logisches sein», erläuterte der Referent, denn Blähungen und Durchfall nach sehr viel Obst und Gemüse kommen bei jedem einmal vor. Es sei manchmal schwierig zu ent scheiden, ob eine pathologische oder eine physiologische Fruktosemalabsorption Ursache der Beschwerden sei. Ursache der Beschwerden bei einer pathologischen Fruk tosemalabsorption ist die mangelnde Leistung des Trans portmoleküls GLUT5, das für den Transport von Fruktose vom Darmlumen in die Zellen sorgt. Die mangelnde Transportleistung kann sowohl eine angeborene Veranla gung sein als auch eine erworbene, vorübergehende Er scheinung. Es gibt zahlreiche Faktoren, die GLUT5 stimu lieren oder hemmen können. Während Glukose die Leistung von GLUT5 steigert, sodass mit Saccharose (Haushaltszucker: Dissacharid aus Glukose + Fruktose) eher weniger Probleme auftreten, blockiert beispiels weise der Zuckeraustauschstoff Sorbit das GLUT5, sodass Fruktose nicht adäquat aufgenommen werden kann. Auch das Mikrobiom spielt eine Rolle beim Auftreten ei ner Fruktosemalabsorption. Je nach Zusammensetzung kann es diese begünstigen oder verhindern. Risikofakto ren sind der Konsum von zu viel Fruktose oder Zucker austauschstoffen (Säfte, Süssgetränke) und intensive körperliche Belastung, zum Beispiel bei Marathonläufern oder Triathleten, die im Wettkampf fruktosehaltige Ge tränke zu sich nehmen. Ein H2-Test bringt auch bei Fruk tosemalabsorption Klarheit. Hierfür gelten die glei chen Indikationen Bei Laktoseintoleranz auch eine Zöliakie ausschliessen! wie bei der Lakto seintoleranzabklärung. Probleme mit dem Trinken der Fruktoselösung gibt es in der Regel nicht, denn Fruktose schmeckt extrem süss. Die Therapie ist einfach: Vor allem Fruchtsäfte sollten gemieden werden, ebenso Süssgetränke und Limonaden, Honig, Inulin sowie Zucker und Zuckeraustauschstoffe wie Isolamit E953, Sorbit und Mannit. Nicht vergessen werden dürfen Gemüse und Gemüsesäfte, die ebenfalls Fruktose enthalten können (z. B. Rüeblisaft). Zurückhaltung beim Fruktosekonsum helfe meistens auch recht gut gegen die «toddler’s diarrhea», einen häufigen Durchfall bei 2- bis 3-jähri gen Kindern, die wenig Bauch schmerzen oder Eine Fruktosemalabsorption muss per se nichts Pathologisches sein. sonstige Symp tome haben. «Oft hilft die Reduktion des Fruktosekon sums nebst einer fettreichen Ernährung mit Olivenöl oder Rapsöl, welche die Motilität des Intestinaltrakts redu ziert», empfahl Marx als Behandlung für diese Kinder. Cave: Fruktoseintoleranz ist etwas ganz anderes! Die hereditäre Fruktoseintoleranz ist eine sehr seltene, schwere Erkrankung, die nichts mit der oben genannten Unverträglichkeit von (zu viel) Fruktose zu tun hat. Als hereditäre Fruktoseintoleranz bezeichnet man einen ge netischen Defekt der Aldolase in der Leber mit potenziell gefährlichen Konsequenzen wie Hyperglykämien und dadurch bedingten neurologischen Defiziten. «Sagen oder schreiben Sie niemals ‹Fruktoseintoleranz›, wenn es um die Malabsorption geht!», betonte Marx. Man solle auch nicht sagen, dass das Kind Fruktose nicht «vertrage». Wer den Begriff Fruktoseunverträglicheit googelt, wird sehr wahrscheinlich auch auf die hereditäre Fruktoseintoleranz stossen – unnötige Sorgen und Ängste sind die Folge, weil die Eltern meist nicht wissen, dass mit dieser Bezeichnung etwas ganz anderes gemeint ist. Glutenfrei für alle? Der glutenfreien Ernährung werden viele positive Wir kungen zugeschrieben, obwohl es bis heute keinen Be weis dafür gibt, dass eine glutenfreie Ernährung für ge sunde Personen tatsächlich nützlich ist. Schädlich sei sie im Grunde aber auch nicht, sagte Marx. Allerdings gebe es Studien, wonach Personen, die sich glutenfrei ernäh ren, ansonsten eher ungesund essen (mehr Fett und Koh lenhydrate); auch ein Zink- und Selenmangel sei bei ih nen häufiger zu finden. Der Glutenhype hat auch positive Folgen: Im Gegensatz zu früher gibt es heutzutage viele glutenfreie Produkte, 5+6/20 Pädiatrie 29 Ernährung Linktipps ● Vegane Ernährung für Säuglinge und Kleinkinder Handlungsanweisungen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Schweizeri- schen Gesellschaft für Pädiatrie im Auftrag des Bundesamtes für Lebensmittel- sicherheit und Veterinärwesen, März 2020 https://www.rosenfluh.ch/qr/vegetarisch-vegan ● Vegane Ernährung im Kindesalter: Rolle des Kinderarztes https://www.rosenfluh.ch/qr/vegankinderarzt ● Nahrungsmittelallergien im Kindesalter https://www.rosenfluh.ch/qr/nahrungsmittelallergie ● Nahrungsmittelintoleranz im Säuglings- und Kindesalter https://www.rosenfluh.ch/qr/nahrungsmittelintoleranz ● Probiotika bei Allergien: Sind sie nützlich zur Prävention und Behandlung https://www.rosenfluh.ch/qr/probiotika ● Neue Guidelines zu Zöliakie, GERD und Reizdarm im Kindesalter https://www.rosenfluh.ch/qr/gastroguidelines sodass die Ernährung für Patienten mit Zöliakie einfacher und schmackhafter geworden ist. Obendrein ist gluten freie Ernährung zurzeit angesagt, was das Befolgen der Ernährungsregeln für Kinder und Jugendliche mit Zöliakie oder einer IgE-vermittelten Weizenallergie einfacher macht. «Wir sollten häufiger an Zöliakie denken, auch bei Sym ptomen, die einem dabei nicht primär in den Sinn kom men», sagte Marx. Man sollte öfter an Zöliakie denken, auch bei nicht klassischen Symptomen. Zu den nicht klas sischen Sympto men gehörten nämlich auch die Obstipation, die Hepatitis und die Adipositas, während viele andere den meisten Ärzten ohnehin bewusst seien (Kleinwuchs, Pu bertas tarda, Anämie, Aphthen, Nagelauffälligkeiten, Cheilitis, Alopezie, Knochen- und Gelenkschmerzen, Pankreatitis, Vitaminmangel, Hypoproteinämie). Bis an hin war eine Dünndarmbiopsie der diagnostische Gold standard bei Verdacht auf Zöliakie und die Voraussetzung für die Einstufung als Geburtsgebrechen. Nach den neuen Leitlinien der ESPGHAN sind weder die Biopsie noch der früher geforderte Gentest (HLA DQ2 und/oder DQ8 po Die Glutensensitivität ist mittlerweile eine anerkannte Diagnose. sitiv) notwendig, wenn Anamnese und klinisches Er scheinungsbild ty pisch für eine Zöliakie sind, das Anti-Transglutaminase IgA (TGA-IgA) ≥ 10-fach über der Norm (bei normalem Gesamt-IgA) liegt und das Anti-Endomysium-IgA (EMA-IgA) in 2 Blutproben positiv ist. Welche Abklärungen die IV noch fordert, ist in der Schweiz zurzeit jedoch noch kantonal unterschiedlich. Marx empfahl, bei einem Zöliakieverdacht generell Kon takt mit einem pädiatrischen Gastroenterologen aufzu nehmen. Wer unter einer Zöliakie leidet, muss sich lebenslang glu tenfrei ernähren. Es wird diskutiert, ob sich möglicher weise doch eine Glutentoleranz entwickeln könnte. Hier sei das letzte Wort noch nicht gesprochen, so Marx. Prin zipiell gehe man aber noch davon aus, dass eine lebens lange glutenfreie Ernährung notwendig sei. Zutatenlisten und einschlägige Apps helfen bei der glutenfreien Er nährung. Lebensmittel gelten als glutenfrei, wenn sie pro Gramm maximal 20 mg Gluten enthalten. Gibt es die Glutensensitivität tatsächlich? Die Existenz einer Glutensensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity) sei lang bezweifelt worden, mittler weile aber als Diagnose anerkannt, sagte der Referent. Eine einheitliche Definition der Glutensensitivität gibt es jedoch nicht. Als typisch gelten Symptome wie Blähungen, Bauch schmerzen und Durchfall, die für Stunden bis Tage nach dem Konsum glutenhaltiger Lebensmittel auftreten, ob wohl eine Zöliakie oder eine Weizenallergie ausgeschlos sen werden können. Zum Teil finden sich erhöhte Anti-Gliadin-IgG oder -IgA, nicht aber Anti-TGA-Anti körper. Oft berichten die Betroffenen von Knochen- und Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Haut ausschlag. Die Annahme, dass die Betroffenen einen ähnlichen HLA-Typ wie Zöliakiepatienten aufweisen wür den, wurde widerlegt. Zuverlässige Angaben zur Präva lenz der Glutensensitivität gibt es nicht; sie soll bei Kin dern seltener sein als bei (jungen) Erwachsenen. Die Glutensensitivität ist eine Ausschlussdiagnose mit Überlappungen zum Reizdarmsyndrom. Die Diagnose kann nur durch das Abklären anderer möglicher Ursa chen sowie eine strenge glutenfreie Diät mit genauem Symptommonitoring und Reexposition gestellt werden. Renate Bonifer Quelle: «Hauptsache ohne!», Livestream mit Dr. med. Georg Marx an der virtuellen Jahrestagung der Kinderärzte Schweiz am 3. September 2020. Buchtipp Kinderernährung Dr. med. George Marx und Andrea Mathis (BSc): Kinderernährung – Expertenwissen für den Alltag. 260 Seiten; broschiert; ISBN 978-3-318-06756-9; 32,90 Franken; Karger Verlag 2020. Mehr zu diesem Buch in unserer Rezension: https://www.rosenfluh.ch/qr/rezension 30 Pädiatrie 5+6/20