Transkript
Schwerpunkt
Eine Frage der Urteilsfähigkeit
Wann dürfen Kinder über Höchstpersönliches selbst entscheiden?
Je jünger das Kind ist, umso weniger wird im Alltag die Entscheidungsmacht der Eltern angezweifelt. Doch Persönlichkeitsrechte sind keine Frage des Alters. Darf beispielsweise eine Mutter Fotos von ihrem Kleinkind im Internet posten, oder verstösst sie damit gegen dessen Recht am eigenen Bild? Und ab wann darf eine Jugendliche selbst darüber entscheiden, ob sie sich medizinisch behandeln lässt oder nicht? Anhand dieser Beispiele erläuterte Prof. Dr. iur. Margot Michel, Universität Zürich, am 16. SPZ-Symposium in Winterthur die Rechtslage zu höchstpersönlichen Rechten und zur Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen.
Eines vorweg: So eindeutig, wie sich viele das vorstellen, ist die Rechtslage nicht. «Der rechtliche Rahmen schreibt nicht immer ganz genau vor, was zu tun und was zu lassen ist», sagte Michel. Es sei aber wichtig, diesen Rahmen zu kennen, um eine eigene Entscheidung zu treffen und ihn gegebenenfalls aus guten Gründen auch einmal bewusst zu überschreiten.
Was sind höchstpersönliche Rechte?
In beiden Fallbeispielen geht es um höchstpersönliche Rechte, nämlich das Recht am eigenen Bild, das Recht am eigenen Körper und das Recht auf Privatsphäre. Es gibt weitere höchstpersönliche Rechte, wie zum Beispiel das Recht auf den eigenen Namen, das Recht, eine Ehe einzugehen, oder auch das Recht auf psychische Integrität. Dass all diese Rechte höchstpersönlich sind, ist unumstritten. Es gibt aber keine eindeutige juristische Regel, was ein höchstpersönliches Recht ist und was nicht. Die juristische Definition «höchstpersönliche Rechte sind persönlichkeitsnah» sei insofern eine typische juristische Nichtdefinition, kommentierte die Referentin. Höchstpersönliche Rechte können absolut oder relativ sein. Auch hier gibt es keine eindeutige juristische Regelung. Bei der juristischen Bewertung, ob ein höchstpersönliches Recht absolut oder relativ ist, spielt die Antwort auf folgende Frage eine zentrale Rolle: Soll das Recht vertreten werden können oder nicht? Absolut höchstpersönlich könnte demnach der Entscheid über aufschiebbare medizinische Eingriffe sein, falls durch den Aufschub kein Nachteil für das Kind entsteht. Relativ höchstpersönlich wäre zum Beispiel der Entscheid über eine notwendige medizinische Massnahme, die ohne Nachteil nicht aufgeschoben werden kann. In letzterem Fall könnten die Eltern die Massnahme also auch gegen den Willen ihres urteilsunfähigen Kindes erlauben, wobei für die Rechtsprechung in der Schweiz die thera-
peutische Notwendigkeit einer medizinischen Behandlung allein nicht ausschlaggebend ist.
Wer entscheidet über höchstpersönliche Rechte?
Der Entscheid über ein höchstpersönliches Recht ist nicht von der Volljährigkeit abhängig. Auch Kinder und Jugendliche, die juristisch als «handlungsunfähig» gelten, dürfen selbst über ihre höchstpersönlichen Rechte entscheiden, sofern sie urteilsfähig sind:
Fallbeispiel 1: Sharenting
Wenn Eltern das Leben mit ihren Kindern in sozialen Netzwerken teilen, bezeichnet man das als «Sharenting» (aus «sharing» und «parenting»). Im diesem Fallbeispiel geht es um den 7-jährigen Philipp, dessen Mutter einen Blog und einen Instagram-Account über das Familienleben führt. Phillips bisheriges Leben ist dadurch öffentlich dokumentiert, und das von den ersten Ultraschallbildern an. Sein digitaler Fussabdruck umfasst bereits 1200 Fotos. Darf die Mutter ohne Einverständnis ihres Sohnes Fotos im Internet posten?
Fallbeispiel 2: Anorexie
Die 15-jährige Noemi ist stark untergewichtig. Ihrer Lehrerin fällt auf, dass Noemi in letzter Zeit offensichtlich nochmals Gewicht verloren hat. Sie kommt aber weder im Gespräch mit Noemi noch mit ihren Eltern weiter, weil die Jugendliche nicht darüber reden will und die Eltern das Problem ignorieren und keinen Anlass zur Sorge sehen. Die Lehrerin hat das Gefühl, dass die Situation für Noemi gefährlich wird. Soll beziehungsweise darf sie die Kindesschutzbehörde informieren? Benötigt sie dafür das Einverständnis von Noemi oder von ihren Eltern?
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Art. 19c18 1 Urteilsfähige handlungsunfähige Personen üben die Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, selbstständig aus; vorbehalten bleiben Fälle, in welchen das Gesetz die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters
vorsieht. 2 Für urteilsunfähige Personen handelt der gesetzliche Vertreter, sofern nicht ein Recht so eng mit der Persönlichkeit verbunden ist, dass jede
Vertretung ausgeschlossen ist.
Die Urteilsfähigkeit ist keine Frage des Alters. Sie gilt aber nicht generell, sondern sie bezieht sich immer auf einen bestimmten Entscheid zu einem konkreten Zeitpunkt. Eltern sind nur dann für den Entscheid zuständig, wenn das Kind oder der Jugendliche nicht urteilsfähig ist. Das gilt auch für medizinische Massnahmen. Gemäss Schweizer Zivilrecht ist zunächst einmal jede Person urteilsfähig, mit wenigen Ausnahmen:
Art. 1611 Urteilsfähig im Sinne dieses Gesetzes ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähig-
keit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.
Auch wenn im Gesetz das Kindesalter als Einschränkung genannt wird, bedeutet das keineswegs, dass Kinder generell nicht urteilsfähig sind. Entscheidend ist, wie gesagt, nicht das Alter, sondern ob eine Person in einer bestimmten Situation vernunftgemäss handeln kann, wobei vernunftgemäss nicht dasselbe ist wie vernünftig. Auch ein «unvernünftiger» Entscheid kann vernunftgemäss sein, nämlich dann, wenn die Person verständig ist und ihr die Folgen ihres Handelns klar sind; auch muss der Entscheid tatsächlich dem eigenen Willen entsprechen.
Wer entscheidet, ob die Urteilsfähigkeit gegeben ist?
Die Beurteilung der Urteilsfähigkeit hat zum einen eine Schwellenfunktion (Schwelle zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im höchstpersönlichen Bereich) und zum anderen eine Schutzfunktion: Nur wer urteilsfähig ist, soll die Folgen seiner Entscheidung tragen müssen. «Jeder, der mit der Person umgeht, entscheidet über deren Urteilsfähigkeit», sagte die Referentin. Im medizinischen Setting entscheidet also der behandelnde Arzt, ob die Urteilsfähigkeit eines Kindes oder eines Jugendlichen in einer bestimmten Situation für einen bestimmten Entscheid gegeben ist oder nicht. Es ist wichtig, im Behandlungsdossier zu vermerken, dass die Urteilsfähigkeit geprüft wurde. Wenn der behandelnde Arzt zu dem Schluss kommt, dass die Urteilsfähigkeit des Kindes oder Jugendlichen im konkreten Fall gegeben ist, muss er die Eltern nicht mehr fragen. Er darf es in der Regel ohne die Zustimmung des jungen, urteilsfähigen (!) Patienten sowieso nicht, weil das eine Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht wäre. Die Urteilsfähigkeit ist juristisch nicht abstufbar, das heisst, eine Person ist entweder urteilsfähig oder sie ist
es nicht. In Gutachten habe sie schon gelesen, ein Patient könne dies und das «mithilfe seiner Frau» entscheiden, berichtete Michel. Ein solcher Patient sei, juristisch betrachtet, urteilsunfähig. Auch wenn der Übergang zwischen urteilsfähig und urteilsunfähig vor allem bei Kindern und Jugendlichen durchaus fliessend sein könne, brauche es für das Zuteilen der Entscheidungsverantwortung am Ende eben doch eine Entweder-oder-Entscheidung, sagte die Referentin.
Voraussetzungen für die Urteilsfähigkeit
Für die juristische Definition der Urteilsfähigkeit spielen die Fähigkeiten zur Einsicht und Willensbildung sowie die Fähigkeit, seinen Willen auch umzusetzen, eine zentrale Rolle. Die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit bedeutet zunächst, dass man einen Sachverhalt verstehen kann, sofern er adäquat erklärt wird. Wer es trotz adäquater Erklärung nicht verstehe, sei urteilsunfähig, erläuterte Michel. Selbstverständlich kann sich ein Arzt nicht darauf berufen, einen Sachverhalt mit Fachtermini korrekt (aber für die meisten Patienten und schon gar nicht für Kinder und Jugendliche eben adäquat) erläutert zu haben. Darüber hinaus gehört es zur Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit, dass man die Folgen seines Handelns abschätzen, Alternativen abwägen und seinem freien Willen entsprechend entscheiden kann. Das kann beispielsweise für Kinder, Menschen mit geistiger Behinderung oder auch bei einigen psychischen Störungen problematisch sein. Wichtig ist auch die Fähigkeit, sich gemäss dem eigenen, frei gebildeten Willen verhalten zu können, auch wenn man von anderen unter Druck gesetzt wird. Im Kindesund Jugendalter besteht eine potenziell besonders hohe Beeinflussbarkeit durch andere (Eltern, Peergroup). Eine überdurchschnittlich hohe Beeinflussbarkeit oder eine krankheitsbedingte Unmöglichkeit, gemäss dem eigenen Willen zu handeln (z. B. bei Suchterkrankungen), be deutet, dass keine Willensumsetzungsfähigkeit besteht und somit ein wichtiger Bestandteil der Urteilsfähigkeit fehlt.
Kinder und Jugendliche nicht überfordern
Kinder und Jugendliche dürfen – ihre Urteilsfähigkeit vorausgesetzt – vieles selbst entscheiden, auch im medizinischen Bereich. Das gehe auch mit gewissen Risiken einher, sagte Michel. So bestehe die Gefahr, dass einerseits an die Urteilsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen zu hohe Anforderungen gestellt würden und andererseits allzu viel Verantwortung auf ihnen abgeladen werde. Beide Extreme seien gefährlich. Auch brauche es für die Urteilsfähigkeit im Kindes- und Jugendalter ein gewisses Mass an Autonomie von den Eltern und von Autoritätspersonen. «Wer nur Sprachrohr einer anderen Person ist, zum Beispiel der Eltern, ist nicht urteilsfähig», sagte die Referentin. Es sei kein Beweis der Urteilsfähigkeit, wenn ein Kind das Gleiche wolle wie seine Eltern, obwohl sie derartiges schon in Behördenentscheiden gelesen habe. Vielmehr solle man dann besonders gut hinschauen, ob das Kind möglicherweise von anderen unter Druck gesetzt werde.
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Was heisst das alles für die beiden Fallbeispiele?
Prinzipiell braucht es für das Posten von Fotos im Internet das Einverständnis des Kindes, wenn es urteilsfähig ist. Ab welchem Alter die Urteilsfähigkeit für diesen Entscheid bestehe, sei in der Literatur und Lehre umstritten, sagte Michel. Das Kind müsste dafür die Konsequenzen des Postens von Fotos im Internet zumindest rudimentär verstehen und einschätzen können. Während einige bereits 4-Jährige dazu imstande sehen, geht man im Allgemeinen ab einem Alter von 12 Jahren davon aus. Wenn das Kind urteilsunfähig ist, zum Beispiel ein Baby oder ein Kleinkind, entscheiden die Eltern über das Posten der Fotos. Sie dürfen aber keine Fotos posten, die absolut höchstpersönliche Rechte des Kindes verletzen würden. Solche Fotos dürfen nie gepostet werden. Welche Fotos unter dieses Verbot fallen, ist nicht einheitlich definiert. Sicher gehören dazu intime Fotos, weniger einig ist man sich bei Bildern, auf denen das Kind lächerlich gemacht wird. Prinzipiell gilt, dass die Eltern dem Kindeswohl verpflichtet sind: «Blossstellende oder die Intimsphäre verletzende Bilder sind sicher nicht im Sinne des Kindeswohls!», sagte Michel. Auch im Fall von Noemi ist die Urteilsfähigkeit entscheidend. Die Rechtsprechung in der Schweiz billigt urteilsfähigen Kindern und Jugendlichen zu, medizinische Massnahmen, auch wenn sie als absolut sinnvoll und notwendig gelten, zu verweigern. Wie die Erwachsenen entscheiden urteilsfähige Kinder und Jugendliche selbst darüber. Bei psychischen Erkrankungen muss die Urteilsfähigkeit jedoch besonders geprüft werden. Im Fall von Noemie muss die Lehrerin eine Meldung an die Kindesschutzbehörde oder an die Schulleitung machen (s. Info-
Melderecht und Meldepflicht
Die Vorschriften für Gefährdungsmeldungen an die Kindesschutzbehörde wurden auf den 1. Januar 2019 revidiert. Sie regeln die Melderechte, die Meldepflichten und die Mitwirkung von Dritten.
● Alle Personen sind meldeberechtigt. ● Fachpersonen, die beruflich regelmässig Kontakt
zu Kindern haben, sind meldepflichtig, wenn sie die Gefährdung nicht selbst beheben können. ● Fachpersonen, die einem Berufsgeheimnis unterstehen (z. B. Ärzte, Anwälte) sind meldeberechtigt: Sie entscheiden selbst über die Meldung und brauchen dafür keine Entbindung vom Berufsgeheimnis.
Detaillierte Informationen zum neuen Melderecht und zur Zusammenarbeit zwischen Pädiatern und der Kindesschutzbehörde finden Sie im Artikel «Pädiatrie, bitte melden!» ab Seite 4 in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE.
kasten), wenn konkrete Hinweise auf eine Gefährdung bestehen und sie weder bei Noemi noch bei ihren Eltern die Bereitschaft wecken kann, sich fachliche Hilfe zu suchen; die Meldung an die Behörde muss im Interesse von Noemi sein.
Renate Bonifer
Höchstpersönliches – zwischen Elternrecht und Kindeswohl, Referat von Prof. Dr. iur. Margot Michel am 16. SPZ-Symposium in Winterthur, 13. November 2019.
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