Transkript
Fokus Gastroenterologie
Neue Guidelines zu Zöliakie, GERD und Reizdarm
Schwerpunkt
Gleich drei neue Guidelines wurden vor Kurzem in der Gastroenterologie publiziert. Sie befassen sich mit der Zöliakiediagnose, mit neuen Algorithmen für Diagnose und Behandlung bei gastroösophagealer Refluxkrankheit (GERD) im Säuglings- und Kindesalter und mit der Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die unter dem Reizdarmsyndrom leiden.
Zöliakiediagnose ohne Biopsie
Die Europäische Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung (ESPGHAN) hatte erstmals 2012 eine Guideline erstellt, die unter bestimmten Voraussetzungen die Diagnose einer Zöliakie rein serologisch (s. Tabelle 1) erlaubte. Auch die Sorge, durch den Verzicht auf Biopsien möglicherweise andere schwerwiegende Erkrankungen zu verpassen, hat sich nicht bestätigt. In diesem Jahr wurde eine Aktualisierung der Guideline mit Präzisierungen der Kriterien für die Zöliakiediagnose ohne Biopsie publiziert; darüber hinaus enthält die neue Guideline auch einige Änderungen gegenüber der alten Version (1). Wesentliche Änderungen betreffen die Reihenfolge der Antikörpertestungen, den Stellenwert der HLA-DQ2/HLA-DQ8-Typisierung und den Entscheid für oder gegen Biopsien bei asymptomatischen Risikopatienten: ● Bei Verdacht auf Zöliakie wird heute generell und unabhängig vom Alter zuerst die Bestimmung von TGAIgA und Gesamt-IgA empfohlen. Nur bei niedrigem Gesamt-IgA kommen IgG-basierte Tests in einem zweiten Schritt infrage. ● Eine HLA-DQ2/HLA-DQ8-Typisierung zur Bestätigung einer Zöliakiediagnose wird nicht mehr empfohlen, wenn dem Patienten ohnehin Biopsien entnommen werden müssen oder sein TGA-IgA-Serumspiegel ≥ 10-fach höher ist als der obere Grenzwert und das EMA-IgA positiv. ● Für asymptomatische Personen mit erhöhtem Zöliakierisiko (s. Tabelle 2) wurde früher eine HLA-DQ2/ HLA-DQ8-Typisierung empfohlen, um bei positivem HLA-DQ2/HLA-DQ8-Befund und erhöhtem TGA-IgA eine Biopsie durchzuführen. Diese Empfehlung wurde insofern abgeschwächt, dass der Entscheid für oder gegen die Biopsie bei asymptomatischen Risikopatienten nun gemeinsam mit den Eltern und, je nach Alter und Urteilsfähigkeit, gemeinsam mit dem Kind zu fällen sei.
Tabelle 1:
Zöliakierelevante Antikörper und HLA-Typen
TGA
EMA
DGP
HLA-DQ2 HLA-DQ8
Gewebstransglutaminase Typ 2 (TGA-IgA: Immunglobulin A gegen TGA)
Antikörper gegen Endomysium
deaminierte Gliadinpeptide
Falls HLA-DQ2 und/oder HLA-DQ8 negativ sind, besteht ein geringes Risiko für Zöliakie. Ein positiver Befund ist jedoch keine Bestätigung für eine Zöliakie.
HLA: Haupthistokompatibilitätsantigen
Zöliakiesymptome und Risikofaktoren
Nach wie vor breit ist das Spektrum der Symptome, die auf eine Zöliakie hinweisen können. Diese werden jedoch in der neuen Guideline bezüglich ihrer Relevanz bewertet. Demnach scheinen die klassischen Symptome der Malabsorption wie Gedeihstörung, Gewichtsverlust und chronische Diarrhö eher für eine Zöliakie zu sprechen. Auch Symptome wie diarrhoisches Reizdarmsyndrom, Eisenmangelanämie, chronische Obstipation und Zahnschmelzschäden sind mit einem erhöhten Zöliakierisiko verknüpft. Mangelhaft ist die Beweislage, dass auch andere unspezifische gastrointestinale Phänomene wie Bauchschmerzen, Dyspepsie und Blähungen zu den Zöliakiesymptomen gezählt werden sollten. In Tabelle 2 sind Symptome und Risikofaktoren zusammengefasst, bei denen man an eine Zöliakie denken sollte.
Vorgehen in der Praxis
Bei Verdacht auf Zöliakie sollen zuerst TGA-IgA und Gesamt-IgA im Serum bestimmt werden, weil diese Kombination allen anderen serologischen Tests überlegen ist. Nicht empfohlen wird DGP-IgG/IgA als initialer Test. Nur wenn das Gesamt-IgA niedrig oder nicht nachweisbar ist, kommen IgG-basierte Antikörperbestimmungen infrage. Bei einem positiven Befund soll der Patient an einen pä-
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Tabelle 2:
Symptome und Risikofaktoren im Zusammenhang mit Zöliakie
Gastrointestinale Symptome Extraintestinale Symptome
Risikofaktoren
chronische oder intermittierende Diarrhö, chronische Obstipation trotz Behandlung, chronische Bauchschmerzen, aufgeblähtes Abdomen, rezidivierende Übelkeit, rezidivierendes Erbrechen
Gewichtsverlust, Gedeihstörung, verringertes Wachstum/geringere Körperhöhe, verzögertes Einsetzen der Pubertät, Amenorrhö, Reizbarkeit, chronische Fatigue, Neuropathie, Arthritis/Arthralgie, chronische Eisenmangelanämie, verminderte Knochenmineralisation (Osteopenie/Osteoporose, wiederholte Frakturen), rezividierende Aphthen, Dermatitis herpetiformis, Zahnschmelzschäden, abnorme Leberwerte
Verwandter 1. Grades mit Zöliakie, Autoimmunkrankheiten (Typ-1-Diabetes, autoimmune Schilddrüsen- oder Lebererkrankungen), Down-Syndrom, Turner-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, IgA-Mangel
Häufige Symptome sind fett und kursiv hervorgehoben; nach (1).
diatrischen Gastroenterologen überwiesen werden. Auf eine Biopsie zur Zöliakiediagnose kann unter folgenden Voraussetzungen verzichtet werden: ● TGA-IgA ≥ 10-fach höher als oberer Grenzwert ● EMA-IgA positiv in zweiter (!) Blutprobe ● Einverständnis der Familie. Die Biopsie wird empfohlen, wenn TGA-IgA bei symptomatischen Patienten weniger stark erhöht ist (< 10-fach höher als oberer Grenzwert). Es sind mindestens 4 Biopsien aus dem distalen Duodenum und mindestens 1 Biopsie aus dem Bulbus duodeni zu entnehmen. Unstimmigkeiten zwischen TGA-IgA und Biopsiebefund können eine erneute Beurteilung der Histologie erfordern. Patienten ohne (Marsh 0) oder mit nur schwachen histologischen Veränderungen (Marsh I), aber positivem TGA-IgA und EMA sollten engmaschig überwacht werden.
GERD im Säuglings- und Kindesalter
Von einer gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD) spricht man, wenn ein Reflux zu den Alltag beeinträchtigenden Symptomen und/oder zu Komplikationen führt. In der Aktualisierung der gemeinsamen Empfehlungen der US-amerikanischen (NASPHGHAN) und der europäischen (ESPGHAN) Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung hat sich daran nichts geändert (2). Die geänderten und neuen Empfehlungen betreffen die folgenden Aspekte: ● Falls indiziert und möglich, wird eine kurze, maximal
4- bis 8-wöchige Säurehemmertherapie empfohlen. ● Der GERD wird als Ursache von respiratorischen und
Kehlkopfsymptomen weniger Bedeutung zugemessen als früher. ● Bei Säuglingen wird nun vor einer Säurehemmung zunächst der Wechsel zu einer Proteinhydrolysat- oder Aminosäureformulanahrung empfohlen beziehungsweise die Elimination von Kuhmilchproteinen aus der maternalen Ernährung, falls das Kind gestillt wird. ● Die neuen Empfehlungen enthalten zwei neue, komplett überarbeitete Algorithmen zum Vorgehen bei Säuglingen (Abbildung 1) und bei älteren Kindern (Abbildung 2).
Tabelle 3:
Red Flags bei Verdacht auf GERD im Alter von 0 bis 18 Jahren
Allgemein
Neurologisch Gastrointestinal nach (2)
Gewichtsverlust, Lethargie, Fieber, ausgeprägte Reizbarkeit/Schmerzen, Dysurie (Verdacht auf Harnwegsinfekt, besonders bei Säuglingen und Kleinkindern), Reflux/Erbrechen begann im Alter von > 6 Monaten oder ist gesteigert/persistierend im Alter von > 12 bis 18 Monaten
anschwellende Fontanelle/rasch wachsender Kopfumfang, Krämpfe, Makro- und Mikrozephalie
persistierendes heftiges Erbrechen, nächtliches Erbrechen, Erbrechen von Galle, Hämatemesis, chronische Diarrhö, rektale Blutung, abdominale Spannung/Aufblähung
Die Überweisung zu einem pädiatrischen Gastroenterologen wird im Wesentlichen in drei Situationen empfohlen: ● bei Vorliegen von Alarmsymptomen oder Symptomen,
die auf eine andere Erkrankung als GERD hinweisen ● falls die in den Algorithmen empfohlenen Massnah-
men keinen Erfolg haben ● falls Säurehemmer innert 6 bis 12 Monaten nicht dau-
erhaft ausgeschlichen werden können.
Vielgestaltige Symptome
Die GERD kann sich in vielerlei Symptomen und Befunden äussern. Dazu gehören so unspezifische wie Unbehagen/ Reizbarkeit, wobei extreme Reizbarkeit und Schmerzen als alleinige Symptome nicht für eine GERD sprechen. Zu dem allgemeinen Symptomenspektrum gehören Gedeihstörung, Fütterverweigerung, Sandifer-Syndrom (s. unten), Zahnerosion und Anämie. Gastrointestinale Symptome sind rezidivierende Regurgitation mit oder ohne (bei älteren Kindern) Erbrechen, Sodbrennen/ Thoraxschmerz, epigastrischer Schmerz, Hämatemesis (gleichzeitig ein Alarmsymptom!), Schluckstörungen und Schmerzen beim Schlucken sowie Ösophagitis, ösophageale Strikturen und Barrett-Ösophagus. Atemwegsphänomene wie Giemen, Stridor, Husten, Heiserkeit, Asthma usw. werden nach wie vor als mögliche GERD-Symptome aufgelistet, ihr Stellenwert in der GERD-Symptomatik gilt nun jedoch als eher fraglich. So zeigte sich in einer Studie, dass – anders als bis anhin angenommen – Larynxveränderungen bei Kindern nicht mit GERD assoziiert waren. Die Alarmsymptome bei Verdacht auf GERD sind in Tabelle 3 zusammengefasst.
Vorgehen bei Säuglingen
In den ersten Lebensmonaten «spucken» die meisten Säuglinge, weil der Schliessmechanismus zwischen Ösophagus und Magen noch nicht ausgereift ist. Der Algorithmus in Abbildung 1 fasst die wesentlichen diagnostischen und therapeutischen Schritte bei Säuglingen mit
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GERD-Symptomen zusammen. In der Regel reichen eine gründliche Anamnese und Untersuchung aus, um die Diagnose eines unkomplizierten gastroösophagealen Reflux (GER) im Säuglingsalter zu stellen; dieser beginnt nur selten vor der ersten Woche oder nach dem sechsten Monat. GER im Säuglingsalter ist meist harmlos, aber es gibt eine Reihe von Alarmsymptomen, die einer sofortigen weiteren Abklärung bedürfen (Tabelle 3). Probleme bereiten mitunter Säuglinge ohne Alarmsymptome, die extrem unruhig sind, häufig weinen und sich mit oder ohne Spucken stark nach hinten überstrecken (Sandifer-Syndrom), ansonsten aber normal gedeihen. In dieser Situation fordern die besorgten Eltern nicht selten die Gabe von Säurehemmern oder weitere Abklärungen. Beides ist hier jedoch nicht indiziert: Falls keine Alarmsymptome vorliegen und die Symptome weder das Füttern noch das Gedeihen des Kindes beeinträchtigen (Wachstum, Entwicklung), sind keine weiteren diagnostischen Tests und auch keine medikamentösen Therapien (Säurehemmer) notwendig. Als erste Schritte werden das Vermeiden von Überfütterung (kleine Portionen) und das Andicken der Milch empfohlen. Falls das Kind gestillt wird, sollte das Stillen auch weiterhin erfolgen. Ausdrücklich gewarnt wird vor Lageveränderungen des Kindes: Es soll weder auf den Bauch noch auf die Seite oder in spezielle «Refluxbettchen» mit hochgelagertem Kopf gelegt werden. Der Säugling soll, wie üblich, zum Schlafen flach auf den Rücken gelegt werden. Bessern sich die Symptome durch kleinere Portionen und das Andicken der Milch nicht, kommt ein Versuch mit Proteinhydrolysat- oder Aminosäurenformula für 2 bis 4 Wochen infrage. Jeder Säugling, der eine solche Formulaernährung erhält, muss engmaschig überwacht werden, um Milchprodukte möglichst bald wieder in die Ernährung einführen zu können. Bei gestillten Kindern soll die Mutter für einen ähnlich langen Zeitraum keinerlei Kuhmilchprodukte zu sich nehmen. GER kann das einzige Symptom einer Kuhmilchunverträglichkeit beim Säugling sein, sodass diese Massnahme empfohlen wird, auch wenn es dazu bis anhin keine Studien bezüglich GER gibt. Führt auch das nicht zum Erfolg, sollte das Kind an einen pädiatrischen Gastroenterologen überwiesen werden. Sollte eine solche Zuweisung nicht möglich sein, kann man eine Säurehemmung für 4 bis 8 Wochen erwägen und diese ausschleichen, sobald sich die Symptome bessern. Wenn die Symptome ohne Säurehemmer nicht rezidivieren, ist keine weitere Behandlung notwendig. Kehren sie jedoch zurück, ist spätestens zu diesem Zeitpunkt die Überweisung an den Spezialisten notwendig (Abbildung 1). Wenn GERD-Symptome erst nach einem Alter von 6 Monaten auftreten oder bis ins Alter von mehr als 12 bis 18 Monate persistieren, spricht das eher für andere Erkrankungen als einen unkomplizierten GER. Diese Kinder sollten zum Spezialisten überwiesen werden.
Vorgehen bei älteren Kindern
Anders sieht das empfohlene Vorgehen bei älteren Kindern aus (Abbildung 2). Selbstverständlich gilt auch bei älteren Kindern, zunächst allfällige Alarmsymptome (Tabelle 3) auszuschliessen. Danach stehen Aufklärung und Beratung zu Lebensstil und Ernährung an erster
Verdacht auf GERD: Anamnese und Untersuchung
Alarmsymptome (Red Flags)?
Nein
Ja
Red Flags abklären, Überweisung
Überfüttern vermeiden Nahrung andicken Stillen fortsetzen
erfolgreich
Massnahmen fortsetzen
nicht erfolgreich
Proteinhydrolysat- oder Aminosäurenformula für 2 bis 4 Wochen erwägen
oder bei gestillten Kindern Kuhmilch in der maternalen Ernährung
eliminieren
erfolgreich
nicht erfolgreich
fortsetzen und Wiedereinführung von Kuhmilchprotein an Kontrollterminen
besprechen
zum Spezialisten überweisen
Überweisung nicht möglich
Symptome nicht gebessert oder rezidivierend nach Ausschleichen
Differenzialdiagnosen überprüfen, zusätzliche Tests
erwägen und/oder kurzer Versuch mit Medikation
Säurehemmung für 4 bis 8 Wochen erwägen, ausschleichen
sobald Symptome gebessert
erfolgreich
keine weitere Behandlung
Abbildung 1: Algorithmus zum Vorgehen bei Säuglingen mit GERD-Symptomen in der Kinderarztpraxis (mod. nach [2]); Red Flags siehe Tabelle 3.
Verdacht auf GERD: Anamnese und Untersuchung
Alarmsymptome (Red Flags)?
Nein
Ja
Aufklärung/Beratung zu Lebensstil und Ernährung
erfolgreich
Red Flags abklären, Überweisung
Massnahmen fortsetzen
nicht erfolgreich
4 bis 8 Wochen Säurehemmung erfolgreich
nicht erfolgreich
bis insgesamt 4 bis 8 Wochen fortsetzen, dann ausschleichen
zum Spezialisten überweisen
Symptome rezidivieren beim Ausschleichen
Abbildung 2: Algorithmus zum Vorgehen bei älteren Kindern mit GERD-Symptomen in der Kinderarztpraxis (mod. nach [2]); die Abfolge von Abklärungen wie Endoskopie, pH-Metrie usw., die ggf. nach Überweisung zum Spezialisten erfolgen, sind hier nicht dargestellt (für entsprechende Details siehe [2]); Red Flags siehe Tabelle 3.
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Stelle. Erst wenn sich dadurch keine ausreichende Besserung erreichen lässt, kommt ein Versuch mit Säurehemmern für 4 bis 8 Wochen infrage. Bei Erfolg sollen die Säurehemmer so lange gegeben werden, bis insgesamt
4 bis 8 Wochen erreicht sind, und dann ausgeschlichen werden. Falls die Symptome rezidivieren, wird die Überweisung zu einem pädiatrischen Gastroenterologen empfohlen.
Reizdarmsyndrom bei Kindern und Jugendlichen
In der neuen S3-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom, die von der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM) in Zusammenarbeit mit 15 weiteren deutschen Fachgesellschaften erstellt wurde, ist dem Reizdarmsyndrom im Kindes- und Jugendalter erstmals ein eigenes Kapitel gewidmet (3). Mit einer Prävalenz von 4,9 bis 8,8 Prozent ist das Reizdarmsyndrom eines der häufigsten chronischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Funktionelle Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern werden als eigene Entität betrachtet, sodass die Empfehlungen für Patienten ab 4 Jahren gedacht sind. Die Kriterien für die Diagnose «Reizdarmsyndrom» im Kindes- und Jugendalter sind in Tabelle 4 zusammengefasst. Das Vorliegen der für die Diagnose notwendigen Kriterien beweist jedoch nicht, dass die Symptome rein
Tabelle 4:
Diagnostische Kriterien des Reizdarmsyndroms nach Rom IV
Alle Kriterien müssen in einem Zeitraum von mindestens 2 Monaten vor der Diagnosestellung erfüllt sein:
1. Abdominelle Schmerzen bestehen an mindestens 4 Tagen pro Monat, assoziiert mit einem oder mehr der folgenden Zeichen: Bezug zur Defäkation, Änderung der Stuhlfrequenz, Änderung der Stuhlkonsistenz/-beschaffenheit.
2. Bei Kindern mit Obstipation bessert sich der Schmerz nicht mit Behebung der Obstipation (diese haben dann eine funktionelle Obstipation).
3. Die Symptome können nach sachgemässer Diagnostik nicht vollständig durch eine andere medizinische Erkrankung erklärt werden.
nach (3)
Tabelle 5:
Funktionelle Abdominalbeschwerden bei Kindern und Jugendlichen nach Rom IV
Funktionelle Störungen mit Übelkeit und Erbrechen
Funktionelle Störungen mit Bauchschmerzen
Funktionelle Defäkationsstörungen aus (3)
Syndrom des zyklischen Erbrechens funktionelle Übelkeit und funktionelles Erbrechen Rumination Aerophagie funktionelle Dyspepsie Reizdarmsyndrom abdominelle Migräne funktionaler Bauchschmerz, nicht anders spezifiziert funktionelle Obstipation nicht opstipationsassoziierte Stuhlinkontinenz
funktioneller Natur sind. Neben dem Reizdarmsyndrom sind in der Rom-IV-Klassifikation eine Reihe weiterer funktioneller Abdominalbeschwerden definiert (Tabelle 5). Diese Klassifikation ist für Studien deutlich wichtiger als für die Praxis. Bei der Diagnose und der Behandlung der Patienten in der Praxis sollte man von einem Kontinuum der verschiedenen funktionellen Abdominalerkrankungen ausgehen. Das Reizdarmsyndrom ist nach wie vor auch eine Ausschlussdiagnose. Organische Erkrankungen sollten bei Verdacht auf Reizdarmsyndrom «mit angemessener Diagnostik» ausgeschlossen werden. Was das bedeutet, wird in der Leitlinie folgendermassen skizziert: ● Am Beginn stehen eine sorgfältige Anamnese (inkl.
psychosozialer Faktoren) und Untersuchung inklusive Labortests (s. Tabelle 6). ● Als Alarmsymptome gelten Gewichtsabnahme, vermindertes Wachstum, gastrointestinaler Blutverlust, signifikantes Erbrechen, chronische, schwere Diarrhö sowie persistierende rechtsseitige Ober- oder Unterbauchschmerzen, Fieber unklarer Ursache und entzündliche Darmerkrankungen in der Familie. ● Häufigkeit, Lokalisation und Zeitpunkt des Auftretens der Beschwerden (z. B. nachts) helfen bei der Abgrenzung zwischen funktionellen und organisch bedingten Beschwerden nicht weiter. ● Die Frage nach möglichen Auslösern der Beschwerden ist wichtig (Darminfektion?).
Ursachen des Reizdarmsyndroms
Die potenziellen Ursachen des Reizdarmsyndroms sind vielfältiger Natur. Neben organischen Auslösern können psychosoziale Faktoren und Coping-Strategien eine grosse Rolle spielen. Die Familien sollten bereits bei der Besprechung der diagnostischen Schritte zum Auschluss organischer Ursachen auf die hohe Wahrscheinlichkeit einer funktionellen Störung hingewiesen werden. Möglicherweise gibt es genetische Risikofaktoren für das Reizdarmsyndrom, diese sind bis anhin aber nicht nachgewiesen. Eine entscheidende Rolle des gastrointestinalen Mikrobioms ist naheliegend, aber noch ist nicht klar, welche Mikrobiomzusammensetzung einen negativen oder positiven Effekt bezüglich des Reizdarmsyndroms hat. Bakterielle gastrointestinale Infektionen (nicht aber Rotavirusinfektionen), Harnwegsinfekte und Kuhmilchallergie im Säuglingsalter sind mit dem Auftreten eines Reizdarmsyndroms beziehungsweise funktionellen Bauchschmerzen im Kindesalter assoziiert. Falls es die Anamnese nahelegt, wird der Ausschluss einer Kohlenhydratmalabsorption (Laktose, Fruktose) mithilfe eines Atemtests durch eine probatorische Eliminationsdiät beider (!) Substanzen empfohlen. Ob eine Histamin-Intoleranz oder eine nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität ein Reizdarmsyndrom auslösen können, ist unklar. Eine diesbezügliche Diagnostik wird nicht
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empfohlen. Selbstverständlich gehört jedoch der Ausschluss einer Zöliakie (TGA-IgA und Gesamt-IgA) zur Abklärungsroutine.
Therapie bei Reizdarmsyndrom
Wenn ein Reizdarmsyndrom mit Obstipation besteht, wird Macrogol empfohlen. Bei Kindern mit einem Reizdarmsyndrom ohne Obstipation werden in der Regel keine Medikamente verordnet. Die Datenlage zur Wirksamkeit der bei Erwachsenen verwendeten Medikamente bei Kindern ist dünn, auffällig ist ein offenbar hoher Plazeboeffekt. In Studien wurde ein schwacher Effekt für verkapseltes Pfefferminzöl nachgewiesen. Probiotika sind eine Option, insbesondere bei einem Reizdarmsyndrom infolge einer gastrointestinalen Infektion oder bei einem Reizdarmsyndrom mit Diarrhö. Man muss statistisch betrachtet 8 Kinder mit Probiotika behandeln, um bei 1 von ihnen eine Besserung der Schmerzsymptome zu erreichen. Wenn sich das Kind bereits ausgewogen ernährt, sollten weder die Ernährung umgestellt noch zusätzliche Ballaststoffe gegeben werden. Die Wirksamkeit einer FODMAP-reduzierten Ernährung, wie sie für Erwachsene mit Reizdarmsyndrom empfohlen wird, ist für Kinder nicht erwiesen; eine entsprechende Diät ist im Einzelfall aber eine Option. Allen Kindern und Jugendlichen mit einem Reizdarmsyndrom sollten psychische Hilfestellungen angeboten werden. Das Spektrum der Angebote ist breit und reicht
Tabelle 6:
Laboruntersuchungen bei Symptomen des Reizdarmsyndroms im Kindes- und Jugendalter
Serum
Urin Stuhl
nach (3)
Blutbild, CRP und/oder BSG, Lipase, GPT, Gamma-GT, TAG-IgA und Gesamt-IgA, TSH, Kreatinin, Blutzucker
Urinstatus
Giardia-lamblia-Antigen, Dientamoeba fragilis, Würmer, fäkale Entzündungsmaker (Calprotectin oder Laktoferrin)
von psychosozialer Betreuung und kognitiver Verhaltens-
therapie über Hypnose (ggf. auch zu Hause per CD) und
Yoga bis zum Schreiben eines Schmerztagebuchs. Soge-
nannte alternative Therapieformen (Akupunktur, TCM,
Homöopathie usw.) werden für Kinder und Jugendliche
mit Reizdarmsyndrom eher nicht empfohlen.
Renate Bonifer
1. Husby S et al.: European Society Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition Guidelines for diagnosing coeliac disease 2020. JPGN 2020; 70: 141–157. 2. Rosen R et al.: Pediatric gastroesophageal reflux clinical practice guidelines: Joint recommendations of the North American Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition and the European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition. JPGN 2018; 66: 516–554. 3. Layer P et al.: Update S3-Leitlinie Reizdarmsyndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) und der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität (DGNM). AWMF-Registriernummer: 021/016, Konsultationsfassung Juni 2020. https://www.rosenfluh.ch/qr/reizdarm
KOMMENTAR: Was bedeuten die neuen Guidelines für die Praxis?
Reizdarmsyndrom
Das Reizdarmsyndrom ist mit einer Prävalenz um 9 Prozent eine der häufigsten chronischen Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen. Die neuen Empfehlungen stammen aus der Feder der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten e. V. (DGVS), und sie wurden unter anderem in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (GPGE) erstellt. Die Empfehlungen sind praxisnah. Sie gelten für Patienten ab 4 Jahren und unterstützen bei Diagnostik und Therapie einer Erkrankung mit zuweilen recht unspezifischen Symptomen.
GERD im Säuglings- und Kindesalter
Die beiden Fachgesellschaften ESPGHAN und NASPGHAN haben ihre im Jahr 2009 publizierte Guideline betreffend der gastroösophagealen Refluxkrankheit (GERD) aktualisiert und 2018 publiziert. Es ist bekannt und in mehreren Studien nachgewiesen, dass Protonenpumpenblocker in der Pädiatrie viel zu häufig empfohlen und rezeptiert werden, auch wenn gar keine GERD vorliegt. Die aktualisierte Guideline hilft den Praktikern, unter anderem durch einfache Algorithmen, die korrekte Diagnose GERD zu stellen und die richtigen therapeutischen Schritte einzuleiten und bei Bedarf zum
richtigen Zeitpunkt den Spezialisten zu involvieren.
Zöliakie
Diese 2020 publizierten Empfehlungen der ESPGHAN sind die Folge neuer Erkenntnisse, welche zwischen 2012 und 2020 in vielen Studien gewonnen wurden. Sie zeigten, dass eine hoch sensitive und spezifische Diagnostik der Zöliakie bei gewissen Patienten auch ohne Biopsie erfolgen kann. Gerade in der Pädiatrie kann man nun auf eine invasive Diagnostik verzichten, wenn gewisse Voraussetzungen klinisch und laborchemisch gegeben sind. In der Praxis können diese Empfehlungen einerseits eine korrekte Diagnosestellung im klinischen Alltag erleichtern. Andererseits kann unter bestimmten Voraussetzungen sowohl auf die invasive Entnahme von duodenalen Biopsien als auch auf eine genetische Untersuchung (HLA-DQ2/HLA-DQ8-Typisierung) verzichtet werden. All dies führt auch zu Kosteneinsparungen. In der Schweiz gilt die Zöliakie immer noch als Geburtsgebrechen, registriert unter der Ziffer 279. Solange diese Krankheit und die mit ihr verbundenen Kosten und Hilfsmittel von der Invalidenversicherung (IV) getragen werden, sollte die IV die neuen Guidelines sofort umsetzen und eine Diagnose unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Biopsien anerkennen.
PD Dr. med. Raoul I. Furlano Abteilungsleiter, Leitender Arzt, Pädiatrische Gastroenterologie & Ernährung Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
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